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Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang
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Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang
Ebook596 pages8 hours

Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang

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About this ebook

Ausgerechnet an Allerseelen stirbt Karol, ehemaliger Fabrikdirektor und unbelehrbarer Kommunist, bei einem Deutschlandbesuch; und Mariola und ihr Cousin Arek verbringen eine Nacht im Zimmer des Aufgebahrten.
Vor einem Vierteljahrhundert hatten sie eine verbotene Liebe miteinander, und in den Stunden mit Karol kommen nun alte Erinnerungen hoch: an längst verstorbene oder vergessene Freunde, an gefährliche Abenteuer wie an philosophische Diskurse; an lange Tage am See und Fahrten auf den Wassern Masurens, auf dem Hintergrund der politischen Transformation Polens zwischen 1980 und 1994.
Der aufmüpfigen Mariola und dem introvertierten Arek gelingt eine berauschende Totenfeier: Gemeinsam gehen sie bis ans Ende der Nacht und wieder zurück, durch Raum und Zeit: vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang.
LanguageDeutsch
Release dateOct 22, 2013
ISBN9783940888976
Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang
Author

Artur Becker

Artur Becker, geb. 1968 in Bartoszyce (Polen), lebt seit 1985 in Deutschland, zurzeit als Artist in Residence im Hotel Lindley in Frankfurt am Main. Er ist Lyriker, Essayist, Romancier, Publizist und Übersetzer und debütierte 1984 mit Gedichten in der Gazeta Olszty?ska. Seit 1989 schreibt er auf Deutsch. 1997 erschien sein erster Roman "Der Dadaj see", 1998 sein erster Gedichtband "Der Gesang aus dem Zauberbottich". Mittlerweile hat er mehr als 20 Bücher veröffentlicht, u. a. die Romane "Wodka und Messer. Lied vom Ertrinken" (2008), "Der Lippenstift meiner Mutter" (2010) und "Drang nach Osten" (2019). Er schreibt für die Frankfurter Rundschau, die Neue Zürcher Zeitung und Rzeczpospolita. Becker wurde mit dem Chamisso-Preis (2009), dem Dialog-Preis (2012) und dem Kakehashi-Literaturpreis (2022) ausgezeichnet und hielt 2020 die Dresdner Chamisso-Poetikdozentur.

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    Book preview

    Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang - Artur Becker

    Erster Teil

    Aller Toten Feier

    I. »Die Kleine Maräne«

    »KOMM, LASS UNS EIN LETZTES MAL ›Die Kleine Maräne‹ spielen – unser altes Spiel vom Weltende!«, sagte Mariola, als sie um Mitternacht splitternackt und nur mit einem Regenschirm gerüstet das Zimmer des Toten betrat, in dem ihr Cousin Arek Duszka die Totenwache hielt. Sie legte sich auf dem kalten Dielenboden auf den Rücken und spannte den Regenschirm über ihrem Kopf auf.

    Das Platschen ihrer Füße, das Klicken des Schirmknopfs und das bedrohliche Geräusch beim Aufspannen des wasserdichten Stoffs zerstörten die Stille, in der Arek seit einer Stunde schon mit seinen Erinnerungen beschäftigt war.

    Ausgerechnet an Allerseelen musste Onkel Karol sterben, ausgerechnet in dieser polnischen Novembernacht, die so unerwartet und tötungswütig ihre einheimischen Gefilde verlassen hatte, von Bartoszyce und dem Lutrysee in Warmia und Masuren nach Verden an der Aller gezogen war, um hier ihr Unwesen weiterzutreiben – in Areks angenähtem Land der Findlinge, Sachsen und Nordseeinseln, in der Heimat der Stinte und der evangelischen Friedhöfe, im Orkanauge der deutschen Sprache.

    In Bartoszyce wurde Arek 1964 geboren, genauso wie seine eineinhalb Jahre jüngere Cousine Mariola, die mittlerweile auch nicht mehr in Polen lebte, sondern in England. Arek hatte von seiner Cousine seit einer Ewigkeit nichts mehr gehört, sie seit vielen unüberschaubar gewordenen Jahren nicht mehr gesehen. Er war längst an dem Punkt angelangt – viel zu schnell –, an dem man plötzlich feststellt, dass man dem Tod näher steht als dem Leben, das nur noch aus Erinnerungen und immer wieder aufbrausenden Wogen der Verachtung gegenüber jedweder Unreife zu bestehen scheint, obwohl Arek als Mittvierziger noch gar nicht so alt war.

    »Mädchen, dein Vater ist gestorben«, sagte Arek, »und hier liegt er mit gebrochenem Hals und Herzen, aufgebahrt für den letzten Gang, aber du denkst nur an dich … Hauptsache, dir geht’s gut! Und unser altes Kinderspiel habe ich nicht vergessen, o nein …«

    Mariola unterbrach ihn: »Du liebst mich nicht mehr … Und ihr seid in Wahrheit alle froh, dass der Fabrikdirektor endlich den Löffel abgegeben hat … Aber glaubt bloß nicht, dass ich dumm und verblendet bin! Auch ich weiß, wer mein Vater gewesen ist und was er getan hat.«

    Arek hörte ihr aufmerksam zu. Warum hat sie diese Bedenken?, fragte er sich. Keiner von uns Duszkas zweifelt an der Glaubwürdigkeit ihrer Erlebnisse und Urteile …

    Mariola war unnachgiebig und forderte ihn erneut heraus: »Komm jetzt bitte zu mir: Lass uns ein letztes Mal unser altes Spiel spielen!«

    Er schaute seine Cousine verstört und sogar ein bisschen wütend an: Was sollte er ihr antworten – angesichts der Tatsache, dass Onkel Karols Tod mehr oder weniger einer missglückten Zirkusnummer glich?

    Vor wenigen Stunden erst war Mariola auf dem Flughafen in Bremen gelandet – glücklich und voller Neugier auf das von allen lang ersehnte Familientreffen. Arek, der mit Edyta Frycz aus Poznań verheiratet war und mit ihrer gemeinsamen fünfzehnjährigen Tochter Natalia in Bremen wohnte, hatte seine Cousine vom Flughafen abgeholt: erst sie, dann wenig später vom Busbahnhof gegenüber einem dieser xxl-Kinos ihren Vater, der mit einem Fernreisebus aus Olsztyn angereist war. Onkel Karol war seit 2004 Witwer, seine Frau, die gute Tante Hania, war einem Hirntumor erlegen.

    Das Familientreffen sollte im nahe gelegenen Verden stattfinden, wo Areks Eltern seit einem Vierteljahrhundert lebten und ein bescheidenes und dem Verfall preisgegebenes Einfamilienhaus bewohnten – samt einem schon vor langer Zeit außer Kontrolle geratenen Garten; sie waren Rentner und schuldeten der Bank noch einige Kreditraten für ihr Domizil im Sachsenhain, einer grünen Wohngegend am Rande des Städtchens. Und dann war Mariolas Vater die Kellertreppe im Verdener Haus von Areks Eltern hinuntergestürzt – in ihrer Botschaft der Volksrepublik Polen an der Aller, wie sich ihr Sohn oft spöttisch auszudrücken pflegte – und hatte sich dabei offenbar das Genick gebrochen oder vielleicht einen Herzstillstand erlitten: am 2. November 2010 kurz nach 19 Uhr. Er wurde vierundsiebzig. Sein Bruder Witek, Areks Vater, war zwei Jahre jünger.

    Der einst mächtige Fabrikdirektor, der unverbesserliche Onkel Karol, ein kommunistischer Exorzist und Inquisitor, der bis zum Schluss dem Marxismus-Leninismus treu blieb, war tatsächlich tot, obwohl er und sein Sozialismus Jahrzehnte in behaglicher Unsterblichkeit gelebt hatten. Und schon bald, da er sich wahrscheinlich nicht einmal im Totenreich von seiner Ideologie trennen konnte, würde er Nacht für Nacht aus dem Lutrysee auftauchen, ein Bild von Marx, Engels und Lenin in die Höhe halten und den Menschen am Ufer zurufen: »Seht nur, Ihr Narren! Wir leben weiter!«

    Doch selbst Karols sozialistische Unsterblichkeit musste ihr irdisches Ende finden – in diesem Fall sogar ein klägliches, dem normalerweise nichts hinzuzufügen wäre, dachte Arek am Totenbett, aber leider wurde ihm schnell klar, dass durch Onkel Karols Tod die vermeintlich ad acta gelegte Vergangenheit wieder richtig lebendig werden würde, und zwar für alle Beteiligten: für Mariola und Edyta, für Areks Eltern, aber vor allem für ihn selbst und für seine Mutter Ula, die vor Kurzem siebzig geworden war und sich in ihrem Verdener Haus eine Art Zeitmaschine errichtet hatte. Ula reiste regelmäßig in die Vergangenheit ihrer sozialistischen Heimat und Jugend zurück, indem sie sich für lange Tage und Nächte in ihrem Zimmer einschloss, um alte Briefe, Fotos, Zeitungsausschnitte, Schallplatten und Filme ihres privaten, konstant wachsenden Archivs zu studieren und neu zu sortieren. In den Pausen, in denen sie kaum ansprechbar war und ziemlich selbstvergessen wirkte, besuchte sie ihren verwahrlosten, krebsartig wuchernden und liebesbedürftigen Garten, um auf der Bank eine Zigarette zu rauchen. Während dieser häufigen und ausgedehnten Zeitreisen, die Ula meist unerwartet unternahm, musste Arek seinen Eltern im Haushalt helfen; er erledigte dann für sie die Einkäufe, kochte das Mittagessen und putzte das Bad und die Toilette. Sein Vater war ihm dabei keine große Hilfe. Witek hatte sich in seinem neuen Land zu einem Angsthasen entwickelt, der nicht einmal imstande war, sich Zigaretten zu kaufen, und der nur vor dem Fernseher in den eigenen vier Wänden ein Großmaul abgab; dabei warf er alle in einen Topf, besser gesagt: in einen Fleischwolf, denn in seinen Augen waren alle Menschen böse, durchtrieben und hinterhältig. Die regierenden Parteien, die Arbeiter und die Unternehmer, die Künstler und die Philosophen, die Ausländer und die Neonazis, die Sünder und die Priester, Russland und Amerika, die Homosexuellen und ihre Gegner – einfach alle waren ihm willkommene Opfer. Die Charakterzüge eines unbestechlichen, freiheitsliebenden Streikführers aus der Provinz hatte er nach seiner Ausreise in die BRD vollkommen eingebüßt: Sein eiserner Wille war gebrochen, sein einst wacher und strahlender Geist hatte angesichts der fremden Übermacht der Einheimischen kalte Füße bekommen und den ewigen Winterschlaf gewählt. Die Einzigen, die er nicht in seinen gnadenlosen Fleischwolf steckte, waren die Juden, weil ihm erst in Deutschland klar geworden war, was das Wort Holocaust bedeutete. In der Volksrepublik Polen hatte man vor allem von polnischen Opfern der Nazidiktatur gesprochen, und er hatte daran lange Zeit geglaubt, an diese für den Parteisekretär Gomułka und seine Anhänger bequemere Version der Geschichte. »Komisch«, sagte er einmal, »ich wusste damals nicht, dass ich ein Antisemit war … Bei uns sprach man immer nur von zionistischer Propaganda. Schaut euch die Zeitungen aus jener Zeit an, vor allen Dingen Trybuna Ludu. Und ausgerechnet die Deutschen haben mich von meiner schlimmen Krankheit des Antisemitismus geheilt, in der Emigration … Ich habe einmal wirklich an eine jüdische, bei uns in Polen seit Jahrhunderten währende Verschwörung geglaubt … Die Żydokomuna hat für mich wirklich existiert!« Aber Arek vertraute Witek nicht: Der Vater hatte wahrscheinlich wieder Angst davor, von den Einheimischen und seinem eigenen Sohn missverstanden zu werden.

    Arek war nüchtern: Er hatte nur einen Wodka getrunken, um seinem trauernden Vater Gesellschaft zu leisten – und um sich ein bisschen zu beruhigen. Witek hatte sich aus Verzweiflung im Eiltempo besoffen und schlief nun auf dem Sofa im Wohnzimmer seinen Rausch aus. Und Mariolas Aufforderung – sie wollte ihm wie immer ein schlechtes Gewissen machen – kam ihm in dieser Nacht brutal und vollkommen fehl am Platz vor, denn das Spiel »Die Kleine Maräne« war für Arek eine der wenigen Erinnerungen, welche die Prüfung der Zeit bestanden hatte: Er wollte sie um jeden Preis als gute Erinnerung bewahren, als unbezahlbaren Schatz in seinem Bernsteingedächtnis behalten, dieses alte Liebesspiel zwischen zwei Kindern, die ihre damals nicht aufhören wollenden Sommerferien Jahr für Jahr im Erholungszentrum »Die Kleine Maräne« am Lutrysee verbracht hatten und die wahrscheinlich immer noch dort in diesem sommerlichen Niemandsland lebten und spielten, befreit von der Wirkung der Zeit und ihrer Ausgeburten.

    Der Ostpreuße und Waldarbeiter Rudolf Szutkowski lag dort betrunken im Gras und wachte kurz auf: Eine Libelle tanzte ihm buchstäblich auf der Nase, ihr Tanz hatte ihn geweckt, und da die untergehende Sonne ihn blendete, versuchte er, das Insekt mit seinen Pranken zu fangen und im Lutrysee zu ertränken; auf der Koppel, ganz nah am Ufer, grasten seine Kühe, während seine Bienen gerade aus dem Wald zurückkehrten. Da sie immer noch arbeitswütig waren, suchten sie sich leere Bier- und Limonadenflaschen, die von den Touristen am Wegesrand ins Gebüsch geschmissen worden waren.

    »Mädchen, dein Vater ist gestorben …«, wiederholte Arek, doch seine Cousine schwieg jetzt, als ahnte sie allmählich, dass er in seinen Erinnerungen zu den verborgensten Winkeln der Vergangenheit vorgedrungen war, in diesem Totenzimmer an der Aller zu Allerseelen.

    Onkel Karol – da lag er also tot im Gästezimmer seines Bruders und seiner Schwägerin, der mächtige Fabrikdirektor, niemand würde ihn vermissen, ihm die Auferstehung wünschen, und dennoch hatte sein Tod keine sichtbare Erleichterung gebracht. Man fragte sich eher: Warum musste es ausgerechnet hier und jetzt geschehen?

    Arek hatte seinen Onkel überschwänglich begrüßt – ihn nach all den Jahren des Bruderkrieges in der Familie Duszka herzlich in seine Arme geschlossen. Sie hatten zur Begrüßung nur ein paar Worte gewechselt, altbekannte Worte der Freude, und selbst Areks zweiundsiebzigjähriger Vater, der zum Busbahnhof mitgekommen war, hatte diese Freude mit seinem Sohn teilen können: Schließlich war er seinem älteren Bruder Karol seit mehr als fünfundzwanzig Jahren nicht mehr vor die Augen getreten. Auf einmal schien der ganze Hass von früher, der unter anderem dazu geführt hatte, dass Witek 1983 mit seiner Frau nach Westdeutschland geflüchtet war und dass auch ihr Sohn ihnen viele Jahre später in die Freiheit hatte folgen wollen, vergessen zu sein. Etwas schier Unvorstellbares war passiert, als hätte Areks Vater sein Gedächtnis gelöscht und in seinem Kopf Platz für einen Neuanfang geschaffen. Der größte Feind, den der ehemalige Gewerkschaftler und Streikführer des August 1980 je gehabt hatte, war ihm und seinem Herzen endlich willkommen: Einer Versöhnung stand scheinbar nichts mehr im Wege, obwohl niemand von den Älteren in Bartoszyce den Tag vergessen würde, an dem Witek seinen Bruder auf einer Schubkarre vor das Einfahrtstor der Textilfabrik »Die Kleine Maräne« gefahren hatte, begleitet vom jubelnden Beifall der streikenden Belegschaft.

    Und dann, als die Gäste das Haus von Areks Eltern in Verden betreten hatten, geschah alles so schnell, dass man den Eindruck hatte, dieser Unfall wäre schon vor langer Zeit geplant worden. Onkel Karol, der auch von Areks Mutter und von Areks Frau versöhnliche Begrüßungsworte empfangen hatte, wollte doch bloß seinen Mantel aufhängen.

    Ula geriet aber bei der Begrüßung in für sie typische Hektik, die immer dann zum Vorschein kam, wenn sie in Gesellschaft von mehreren Personen umringt war.

    Onkel Karol kannte natürlich die Störung, an der seine Schwägerin litt, die Demophobie, diese Unversöhnlichkeit mit seinen Nächsten auf kleinstem Raum. Ulas hektisches und nervöses Verhalten übertrug sich schnell auf die Gäste, die sich kaum davor schützen konnten, was ihnen so unvermittelt und aggressiv an übertriebenen Reaktionen von Areks Mutter bei der Begrüßung dargeboten wurde: Ula riss Onkel Karol und seiner Tochter die Mäntel aus den Händen, doch anstatt sie aufzuhängen, reichte sie die winterlichen Kleidungsstücke an ihren Mann weiter; sie redete pausenlos wirres Zeug, stellte eine Frage nach der anderen. Wie sei die Reise gewesen? Habe man im Bus oder Flugzeug schlafen können? Ob sie hungrig seien? Sie ließ die Gäste gar nicht antworten, da schon die nächste Frage blitzschnell aus ihrem Mund geschossen kam. Und sie umarmte und küsste die Ankömmlinge mehrere Male, sodass man Ula schlussendlich ins Wohnzimmer abführen musste, damit sie sich dort auf einem Sofa wieder beruhigte. Areks Vater rührte sich indes praktisch nicht von der Stelle: Der Panikausbruch seiner Frau und die Wiederbegegnung mit seinem Bruder nach so langer Zeit hatten ihn für eine Weile paralysiert. Und dann geschah, was offensichtlich hatte geschehen müssen: Onkel Karol nahm seinem Bruder die beiden Mäntel ab und wollte sie aufhängen; dabei stolperte er im Flur unglücklich und stürzte die Kellertreppe hinunter – die beiden Mäntel noch in den Händen.

    Wie konnte die verrückte Cousine aus Southampton angesichts des Umstands, dass ihr Vater vor wenigen Stunden vor ihren eigenen und aller anderen Augen umgekommen war, von Arek verlangen, dass er jetzt mit ihr »Die Kleine Maräne« spielte? Dass er sich nackt auszöge und neben sie legte, um für einen Augenblick von der Weltbühne zu verschwinden und sich dem trügerischen Gefühl hinzugeben, sie seien Kleine Maränen und würden endlich alles – ihre Namen, ihre Freunde, ihre Geliebten, Familien, Eltern, den Lutrysee, das Erholungszentrum – vergessen und ungeachtet dessen weiterleben können, nach dem Ende aller Welten und Zeiten, in ihrer eigenen Geschichte, in der es dann nur noch sie geben würde? Und diese schmackhaften Fische schwammen unsichtbar in den silbernen Tiefen des Lutrysees, und sie wussten nicht, dass es noch andere Seen gab, und sogar Wälder und Städte mit Menschen und Fabriken. Ja, sie wussten nicht einmal, wer sie waren – sie mussten erst gefangen werden, damit ihnen klar wurde, dass es auch für sie einen Anfang und ein Ende gab.

    »Herr, ich bin nicht würdig«, murmelte Arek vor sich hin, als nähme er in Bartoszyce an einer Totenmesse teil, »dass Du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund …«

    Er wunderte sich, dass ihm diese Gebetszeilen spontan eingefallen waren. Was rede ich da, und wo bin ich? In Bartoszyce? Und wer ist eigentlich gestorben, wer von uns Duszkas ist tot? Vielleicht sind wir die Toten, und Onkel Karol lebt weiter?

    Mariola ignorierte sein Gemurmel und sagte: »Du hast mich einmal geliebt, und wir waren unzertrennlich.«

    »Das war vor dreißig Jahren.«

    »Deine Edyta hat dich mir gestohlen.«

    »Mariola, ich bin dein Cousin, dein eigenes Blut. Das muss ich dir doch nicht erklären, oder?«

    »Doch, ich will es hören! O ja, bitte, erklär mir, wer wir sind!«, grinste sie.

    In den Sechziger- und Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts, als sie Kinder waren und Sommer für Sommer zusammen mit Areks Eltern in das Dreiseelendorf Kikity fuhren, um dort im benachbarten Erholungszentrum am Lutrysee, in dieser toskanischen Moränenlandschaft der pruzzischen Stämme, ihre zweimonatigen Schulferien zu beginnen, hatte für sie nur eines gezählt: dass sie wieder jeden Tag ihr Lieblingsspiel spielen konnten – eben das vom Ende aller Zeiten und Welten. Areks Mutter war in Bartoszyce Lehrerin gewesen, sein Vater hatte das Erholungszentrum »Die Kleine Maräne« geleitet. Es gehörte der gleichnamigen Textilfabrik aus Bartoszyce – der Fabrik, die Onkel Karols ganzer Stolz war und die er zu einer der wichtigsten Produktionsstätten für Wirkwaren in Polen mit fast zweitausend Mitarbeitern ausgebaut hatte (der Großteil der Belegschaft rekrutierte sich aus Frauen, denen der Fabrikdirektor häufig nachstellte). Und für zwei Monate wurden Arek und Mariola zu einem unzertrennlichen Paar. Doch worum ging es bei ihrem Spiel, das die beiden Kinder nach dem Erholungszentrum und der Fabrik benannt hatten?

    Was diese Strolche sich am Lutrysee auszudenken vermocht hatten, war schier unglaublich: Mariola und Arek rannten oft allein in den Wald, der im Nordwesten den Lutrysee und seine Ufer in die Zange nimmt. Dort bauten sie – meist an einem schwer zugänglichen Ort im Dickicht – eine Schutzhütte aus Kiefernzweigen, jedoch nicht nur, um sich unter ihrem grünen Dach vor den Feinden zu verstecken. Sie wollten sich für alle Augen der Welt unsichtbar machen, selbst für ihre eigenen. Sie fragten sich, und das war das Ziel ihres Spiels, was von ihnen übrig bliebe, wenn sie für einen Augenblick von der Erdoberfläche verschwänden. Und überhaupt, sie fragten sich noch andere Dinge, die ihnen keine Ruhe ließen: Wie musste man sich zum Beispiel das Ende der Welt vorstellen? Und wer waren sie eigentlich? Waren sie diese Stimme, die für sie sprach? Dieses Herz, das für sie schlug? Diese Lunge, die für sie atmete? Und wer waren die Kleinen Maränen? Was machte sie zu Fischen? Arek und Mariola zogen sich aus, legten sich nackt in ihre Hütte und bestaunten erschrocken ihre Nacktheit. »Wer bin ich?« – »Und wer bin ich?«, fragte jeder laut für sich und staunte über die Zerbrechlichkeit des Körpers, der – was ihnen seltsamer schien – gänzlich mit sündiger, nackter, katholischer Haut bedeckt war: Wie ein unbeschriebenes Blatt Papier kam sie ihnen vor, diese sonderbare Verkleidung. Und was verbarg sich hinter dieser Nacktheit? Wo war das Ich? Und wie arbeitete das Herz oder die Lunge? Sie hatten Angst, ihr Herz könnte plötzlich stehen bleiben oder platzen. Aber am Wichtigsten war die Frage: »Wer bin ich?«

    Rudolf Szutkowski vom Lutrysee, der schon seit Langem nicht mehr am Leben war, hatte ihnen beigebracht, diese Frage zu stellen. Wenn er einen seiner berühmten Wutanfälle bekam und einen x-beliebigen Mann zusammenhauen wollte, floh er vor sich selbst in den Lutrywald, schrie die Bäume an, als wären sie seine Gegner im Boxring, und schlug mit seinem Holzfällerbeil auf einen Baumstamm ein. Dabei schrie er die ganze Zeit: »Wer bin ich?!« Verließen ihn die Kräfte, sank er weinend und am ganzen Leib zitternd zu Boden und verlor nicht selten das Bewusstsein. Danach, wenn er nach wenigen Minuten wieder zu sich gekommen war, schleppte er sich schwerfällig nach Hause zu seiner Mutter Gizela zurück, um ins Bett zu fallen und ohne Unterbrechung bis zum nächsten Abend durchzuschlafen.

    Aber Arek und seine Cousine waren jetzt hier im Sachsenhain an der Aller, im Haus von Karols Bruder und nicht in ihrer Schutzhütte im Lutrywald. Areks Mutter, die regelmäßig von Verstorbenen träumte – meist von ihrer eigenen Mutter –, wollte auf keinen Fall bei sich zu Hause übernachten, als sie mit ihrem Mann darüber beratschlagte, wo man seinen Bruder beerdigen sollte, in welchem Land, unter welchem Himmel, in welcher Sprache. Sie hatte Angst vor ihrem verunglückten Schwager, Angst davor, er würde ihr nachts die Bettdecke stehlen oder sie an den Fußsohlen kitzeln. Mit den Verstorbenen, die partout die Erde nicht verlassen wollten, habe sie schon unglaubliche Dinge erlebt, sagte sie zum Schluss: Diese verwirrten, toten Lümmel seien dreiste, skrupellose Wesen, die vor nichts und niemandem Respekt zeigten, und es sei schwer, sie loszuwerden. Ula fuhr schließlich mit Areks Frau und Areks Tochter Natalia nach Bremen. Witek war während des Gesprächs mit Ula mehr mit dem Wodka und dem Trauern beschäftigt gewesen als mit der Beerdigungsplanung für seinen Bruder. Im Eifer des Gefechts sagte er einige Sätze, die selbst den größten Feinden von Karol nicht gefallen dürften. Über Tote mache man keine Scherze und auch keine dummen Bemerkungen, hatte man Arek erklärt, als er klein war. Sein Vater meinte nämlich beim Wodka: »Warum wollte er nicht bei sich zu Hause in Bartoszyce sterben? Und warum muss er nach seinem Tod immer noch das letzte Wort haben, immer noch den Fabrikdirektor herauskehren? Er will uns wieder Befehle erteilen, der Drecksack!«

    Edyta wiederum hatte schon gleich nach dem tödlichen Sturz von Onkel Karol angekündigt, dass sie mit ihrer Tochter bestimmt nicht unter ein und demselben Dach mit einem Toten schlafen würde. Areks Frau und Areks Mutter, die einander eigentlich nicht ausstehen konnten, waren also gemeinsam geflüchtet, und Witek lag betrunken in seinem Bett. Niemand war im Übrigen auf die Idee gekommen, die Polizei oder einen Krankenwagen zu rufen. Das schien allen Mitgliedern der Familie Duszka nicht notwendig zu sein. Es sei ein Tod, der die Einheimischen nichts angehe, hatten sie gemeinsam beschlossen.

    Witek schlief berauscht den Schlaf eines unschuldigen Zaungastes, während Arek versuchte, diese Nacht in die Morgendämmerung hinüberzuretten. Er hatte ganz allein Onkel Karols Leichnam über die Treppenstufen des Kellers und die des ersten Stockwerks ins Gästezimmer hochgezerrt und ins Bett gelegt. Er hatte ihm sogar das Gesicht und die Hände gewaschen. Er sprach mit Onkel Karol wie mit einem Schwerkranken und sagte zu ihm, als er ihn mit der Bettdecke zudeckte, damit er nicht fror: »Ite, missa est! Oto ofiara spełniona! Unser Pfarrer Józef Michałowski aus Bartoszyce meinte damit: Es ist vollbracht!« – »Anstatt mit Toten zu sprechen, solltest du dich lieber um mich kümmern …«, meinte Areks Cousine, die ihm beim Schleppen des Leichnams nicht geholfen hatte. Aber er hörte nicht auf sie, er redete mit Onkel Karol weiter: »Meine Mutter hat dich heute Abend getötet – weil du sie gehasst hast!«

    Mariola, die seit sechs Jahren in Southampton lebte und ihre Bilder, Skulpturen und Installationen in England sogar ausstellen und verkaufen konnte, hatte ihren Vater schon vor ihrer eigenen Auswanderung nicht oft besucht.

    2004, als Mariolas Mutter starb und die Polen anfingen, die britische Insel und Irland auf der Suche nach Glück und Arbeit zu belagern, zögerte sie nicht und nutzte die Gelegenheit, die die Öffnung der Grenzen und Arbeitsmärkte in einigen westlichen Ländern jedem Wagemutigen aus den frisch getauften EU-Staaten bot. Aber für all die abenteuerlustigen Emigranten, für ihre eigenen Landsleute, die sich im wohlhabenderen Ausland nach gesegneter Normalität und ökonomischer Verbesserung ihrer Lebensumstände sehnten, hatte Mariola nur Verachtung übrig.

    Im Geiste spuckte sie auf diese Wirtschaftsflüchtlinge von oben herab und sprach offen von ihrer abgrundtiefen Verachtung für sie: »Die leben nur für kaku, papu i lulu, fürs Kacken, Mampfen und Pennen«, meinte Mariola, als Arek mehr von ihr über Southampton und die Emigranten dort wissen wollte. Seine Cousine sagte noch wie zur Entschuldigung, sie sei immerhin die Tochter des in Bartoszyce einst mächtigsten Fabrikdirektors, ein sozialistisches Kind des von dem belgischen Kommunisten Gierek künstlich geschaffenen und kurzlebigen Wohlstands der frühen Siebziger, protzte sie vor Arek, und obendrein eine anerkannte Künstlerin, die etwas zu sagen habe und die man ernst nehme, während Areks einst heller Stern schon vor Langem zusammengeschrumpft und erloschen sei.

    Sie betrachtete Arek, der als Kind in einigen TV-Serien und Filmen für Jugendliche und Kinder mitgespielt hatte, und der in Masuren, wo diese Filme gedreht worden waren, ein Star gewesen war, nicht als einen ihrer strahlenden Größe würdigen Liebhaber. Aus ihm, ihrem kleinen Arek vom Lutrysee, war ja nichts geworden, kein berühmter Schauspieler und auch kein erfolgreicher Ingenieur der Holztechnologie, die er in Poznań von 1983 bis zu seiner Ausreise nach Deutschland 1988 studiert hatte. Seine Cousine wollte etwas anderes von ihm haben: Sie hatte es auf sein altes Kinderherz abgesehen, das er im Erholungszentrum »Die Kleine Maräne« zurückgelassen hatte, damit es dort an den Ufern des Lutrysees weiter pochen und die vergangene Zeit messen konnte.

    II. Zwei Revolutionen

    »KOMM, LEG DICH ENDLICH ZU MIR unter den Regenschirm!«, sagte Mariola. »Wir wollen uns vor den beiden zerstrittenen Brüdern verstecken …«

    Arek gab seiner Cousine keine Antwort, die Erinnerungen bremsten sein Denken, seine Zunge und ihre Sprache. Arek fühlte sich erschlagen. Er flüsterte bloß vor sich hin: »Der Weg nach Sestos kann lang und beschwerlich werden, meine Liebe, unser gemeinsamer Weg nach Kikity …«

    »Ich verstehe kein Wort«, sagte sie.

    »Weißt du noch, wie ich ein berühmter Schauspieler werden wollte? Natürlich weißt du das …«, antwortete er seiner Cousine mit gewohnter Lautstärke.

    »Ich habe dich einmal sehr bewundert. Was meinst du denn, warum ich den Regenschirm mitgebracht habe? Und ich kenne jeden einzelnen Film, den du gedreht hast, so gut wie auswendig …«

    »Ich mag nur zwei Filme von mir«, begann Arek zu erzählen. »Ich mag die Science-Fiction-Serie und die Liebesgeschichte über Magdalena von der Jacht am Mamrysee …«

    Arek würde nie vergessen, wie er einmal für eine Filmszene mit einem geöffneten Regenschirm auf einer Mauer balancieren musste, und zwar im Kreuzritterschloss von Reszel in Warmia.

    Es war sengend heiß in der Augustsonne, und er hatte Angst, in dieser Hitze vor starker Erschöpfung und Sonnenblendung von der Mauer in die Tiefe zu stürzen und sich sämtliche Knochen zu brechen. Die Beschwichtigungen des Regisseurs ließen ihn kalt, und einen geschickten Akrobaten und Seiltänzer stellte man sich ganz anders vor. Arek spielte in diesem Film die Rolle eines Jungen, der von Zuhause geflohen war und bei einem seiner zahlreichen Abenteuer einen seltsamen Regenschirm gefunden hatte. Sobald der Junge ihn aufspannte, wechselte er nämlich in Sekundenschnelle seinen Aufenthaltsort und die Zeit. Das Problem war, dass er nie wusste, wo und in welcher Gegenwart, in welcher historischen Epoche er wieder landen würde. In brenzligen Situationen, wenn er seine Haut retten musste, war der Regenschirm natürlich sehr hilfreich, aber da der flüchtige Junge manchmal ins frühe Mittelalter zurückkatapultiert wurde – zum Beispiel zu den Kreuzrittern und Pruzzen –, geriet er immer wieder neu in Schwierigkeiten.

    Arek mochte diesen Film – er hatte die Zeitreisen in die Wildnis der Sümpfe, Moore, Wälder und Seen der pruzzischen Stämme der Sudauer, Natanger, Barten und Warmier, die sich dem rechthaberischen jungen Mann am Kreuz, dem neuen Gott, beugen und unterordnen mussten, sehr genossen; diese Filmszenen zu drehen, war herrlich gewesen, da er für ein paar Tage der tristen Volksrepublik den Rücken zudrehen konnte.

    Die Touren in die Zukunft dagegen waren selten, doch eine dieser unfreiwilligen Expeditionen blieb ihm bis heute im Gedächtnis haften: Er dachte zunächst, er sei in der Sowjetunion gelandet, bei dem Großen Bruder sozusagen. Aber nach einer Weile stellte sich heraus, dass er in ferner Zukunft angekommen war: Die ganze Welt sprach Russisch, der Kapitalismus war abgeschafft worden, und die Menschen lebten im Kommunismus. Materielle Sorgen waren unbekannt, das Geld – die Ursache allen Übels – war ebenfalls abgeschafft worden, und wer Geldscheine und Münzen besaß und damit Geschäfte machte, dem drohte eine lange Gefängnisstrafe. In den Einkaufsläden, die in riesigen Fabrikmagazinen untergebracht waren, nahm sich jeder nur das, was er brauchte. Diebstähle gab es nicht, weil sich alle Bürger ihre Wünsche leicht erfüllen konnten: Das heilige Gebot der Gleichheit beziehungsweise der Hyperkommunismus ermöglichte ihnen diesen bequemen und friedlichen Lebensstil. Niemand hungerte mehr oder starb an einer schweren Krankheit. Allerdings gab es jeden Tag eine Art Prüfung des Gewissens und der Loyalität gegenüber der kommunistischen Partei, dem Großen Bruder – der Zeitreisende aus dem 20. Jahrhundert hatte sie bereits beim ersten Anlauf nicht bestanden. Der fremde Besucher wurde erkannt: »Du bist keiner von uns«, stellte ein Agent des Großen Bruders erschrocken fest, und der Regenschirm rettete dem Zeitreisenden wieder einmal das Leben.

    Arek mochte auch noch den einzigen Erste-Liebe-Film, den er mit fünfzehn Jahren gedreht hatte – von der Sorte: »Liebste, ich werde dich nie verlassen!« Dabei ging es um ein Mädchen, das von Zuhause durchgebrannt war und ein Versteck am Mamrysee gefunden hatte. Er spielte den Sohn eines ambitionierten Dorfmilizionärs. Arek musste in dieser Rolle in die Haut eines verliebten und innerlich zerrissenen Jungen schlüpfen, der zwischen seinem Vater und der fremden Schönheit aus einer Großstadt hin- und hergerissen war, und in der Tat, das Mädchen namens Magdalena stellte einen außergewöhnlichen Leckerbissen dar, wie geschaffen für die erste Liebe. Es war klug, viel klüger als der Sohn des Dorfmilizionärs, es hatte lange braune Haare und grüne Augen und wollte nicht mehr nach Hause zurück. Magdalena lebte auf einer verlassenen Jacht, und Arek spielte ihr Faktotum: Er versorgte sie mit Nahrungsmitteln, Medikamenten, Musik und guter Laune, während sie, die grünäugige Freiheitsstatue und Schönheit aus der Großstadt, die Welt eines langweiligen, aber dafür gutmütigen Milizionärssohnes – eines Hobbyanglers und -seglers – gänzlich auf den Kopf stellte.

    »Allerdings sehe ich mir meine Filme nicht mehr an, nicht einmal die besten Szenen auf YouTube«, fuhr Arek fort, stand anschließend von seinem Stuhl auf und beugte sich über Onkel Karols Gesicht, als wollte er ihn zum Abschied auf die Lippen küssen oder sich zumindest noch einmal davon vergewissern, dass für den Verunglückten wirklich nichts mehr getan werden konnte. Er berührte mit den Fingerkuppen seine Stirn, sie war kalt, und die tote Haut fühlte sich wie Kunstleder an.

    »Komm, Arek, leg dich zu mir unter den Regenschirm!«, wiederholte Mariola ihre Bitte.

    Er aber setzte sich wieder hin und antwortete: »Wir können in unser Erholungszentrum in Kikity nicht mehr zurückkehren, verstehst du? Das Spiel ist aus!«

    »Das ist nicht wahr …«

    Er betrachtete Mariolas nackten Körper: Sie hatte schöne Brüste und einen flachen und zum Küssen einladenden Bauch. Sie war nur eineinhalb Jahre jünger als er und sah immer noch gut aus: Die Männer mussten sie reihenweise bewundern und begehren. Sie hatte braunes lockiges Haar und einen dunklen Teint wie er. Dass sie Verwandte waren, ließ sich schnell erkennen. Doch Areks Cousine konnte gar nicht glücklich werden, weder in der Liebe noch als erfolgreiche Künstlerin, die ihre Atelierprodukte an die wohlhabende Mittelschicht verkaufte. Mit den beiden Geschlechtern habe sie zu viele Enttäuschungen erlebt, erzählte sie Arek, kurz nachdem seine Frau nach Bremen gefahren war, und Frauen und Männer seien in einem Punkt einander nicht unähnlich: Treue sei nicht unbedingt ihre Leidenschaft, so leider auch bei ihr.

    »Was du über die Liebe und Treue gesagt hast, kann ich nur unterschreiben. Ich bin dir auch nicht treu, wenn man so will«, sagte er nach einer Weile. »Und dennoch: Du warst mein erstes Mädchen … Das werde ich nie vergessen.«

    »Ausnahmsweise lügst du nicht«, entgegnete Mariola. »Erzähl mir deshalb, wie es mit uns begann und wie unsere Liebesgeschichte geendet hat … Und sei grausam zu mir, Arek – verschone mich nicht! Erzähl mir von meiner Einsamkeit nach unserer Trennung und auch davon, wie unser Land der Kleinen Maränen an einem einzigen Tag unterging und für immer von der Karte verschwand …«

    Es schien Arek heute wie ein Wunder, dass Mariola mit vierzehn nicht schwanger geworden war – er schlief mit seiner Cousine zum ersten Mal im August 1980, und zwar in ihrer Schutzhütte am Lutrysee. Im Übrigen lernte er nur drei Wochen später, nachdem er und Mariola ihren ersten intimen Liebesakt miteinander erlebt hatten, seine zukünftige Frau Edyta kennen, die damals wie Arek erst sechzehn war und in die sich sein jugendliches Herz blitzartig verliebte. Doch vor Edytas Erscheinen in Kikity am Lutrysee hatte sich mehr zugetragen, als es sich Arek und Mariola je gewünscht hätten: Ihr junges unschuldiges Leben wurde gänzlich umgekrempelt und neu organisiert.

    Präservative konnte man am Kiosk oder in der Apotheke kaufen, aber das nutzte ihnen wenig, ihnen fehlte es an Mut, dies zu tun. Hinzu kam das Problem, dass sie in einem masurischen Provinzstädtchen wohnten, in dem naturgemäß jeder jeden kannte, zumindest vom Sehen. Die Verkäuferinnen im Kiosk wussten, wer volljährig war und wer noch eine Rotznase. Und bei den Kondomen handelte es sich zudem um ein polnisches Produkt, das sich keines guten Rufes erfreute. »Mit diesem Gummi kannst du hundert Meilen zurücklegen, Junge!«, witzelten junge Männer von Bartoszyce, Stomil hieß nämlich der Hersteller: hundert Meilen. Und Stomil produzierte hauptsächlich Autoreifen.

    Arek hatte den Liebesakt mit Mariola jedes Mal vor der Ejakulation abgebrochen, was die Erfüllung ihrer innigsten Wünsche, Träume und Sehnsüchte unmöglich gemacht hatte. Und als sie dann von ihren Vätern auf frischer Tat erwischt wurden – beim Sex in ihrem Versteck im Wald –, kam es zwischen den beiden Brüdern aufs Neue zu einem bitterernsten Streit: »Deine Tochter ist ein Monster!«, sagte der Eine. – »Nein, dein Sohn ist ein Monster, er hat meine Mariola verführt!«, antwortete der Andere. Das Aberwitzige an ihrer Auseinandersetzung war, dass Karol und Witek einander Unfähigkeit und Amoralität bei der Kindererziehung vorwarfen. Da stießen plötzlich zwei gegensätzliche Weltanschauungen zusammen: Areks Vater war gläubig – vom strengen Katholizismus hielt er jedoch wenig, genauso wie seine Frau Ula. Den derben Atheismus seines vom Marxismus beeinflussten Bruders bekämpfte er nichtsdestotrotz wie ein fanatischer Katholik und Nationalist, aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Eben weil er sich selbst eigentlich für einen liberalen Mann hielt, sah er es als seine verdammte Pflicht an, Karol in die rechtskonservative Schublade zu stecken: »Er ist ein Kind von endecja, und der Marxismus hat ihn vor dem nationalistischen Übereifer nicht bewahren können«, sagte Areks Vater, wenn er seinen älteren Bruder charakterisieren wollte. »Ich habe viele Fehler gemacht, vor allen Dingen während der Streiks, das gebe ich gerne zu, aber Karols Großpolendenken hat mir schon immer gestunken … Der wahre Sozialist bin eigentlich ich und nicht dieses launische Fabrikdirektorchen!«

    Mariola musste ihren Koffer packen und zusammen mit ihren Eltern nach Hause fahren, zurück nach Bartoszyce, und so verlor Arek nicht nur einen Zahn, den ihm sein Vater mit der Faust und aus Wut auf den verdorbenen Sohn ausgeschlagen hatte. »Verdorben bist du! Verdorben wie unsere ganze Epoche, in der wir leben müssen!«, schrie Witek.

    Die beiden Brüder waren nach diesem in ihren Augen unglaublichen und ihre Ehre kränkenden Vorfall am Lutrysee so wütend und verärgert, dass sie ein Jahr lang nicht miteinander sprachen, nicht einmal auf der Arbeit, wo sie sich fast täglich begegneten, und ihre Kinder durften sich nicht mehr sehen. Den Müttern waren die Hände gebunden, sie lehnten sich nicht allzu weit aus dem Fenster, vermittelten nicht zwischen den zerstrittenen Hähnen, aber wenigstens hielten sie zu ihren Kindern und sagten beschwichtigend, dass so etwas Schlimmes in den besten Familien vorkäme. Arek und seine Cousine mussten sich also mit ihrer erzwungenen Trennung abfinden, denn beide hätten sich gerne weiterhin gesehen und getroffen, nur ihre Liebe sollte in der Tat ein Ende haben, weil Arek nun seiner Edyta aus Poznań begegnet war.

    Mariola zog auf Geheiß ihres Vaters nach jenem ereignisreichen Sommer in ein Internat in Olsztyn, um dort in der Woiwodschaftshauptstadt zur Ruhe zu kommen, sich ihren Cousin aus dem Kopf zu schlagen und das Abitur zu machen, und Arek sah seine Cousine erst viele, viele Jahre später wieder, nach ihrer Rückkehr aus der DDR, und da war sie längst erwachsen.

    Onkel Karol hatte sich wie gewöhnlich etwas Besonderes einfallen lassen: Er schickte seine Tochter zum Studieren in die DDR, in der seiner Meinung nach Ordnung herrschte und wo die Menschen Respekt vor der Partei zeigten. Seine Feinde verbannte er am liebsten an einen entlegenen Ort, was auch im Fall seines jüngeren Bruders geschehen war, der ja als Mitarbeiter des Personal- und Freizeitbüros, einer seltsamen sozialistischen Schöpfung des Textilbetriebes, jeden Sommer das Erholungszentrum »Die Kleine Maräne« in Kikity hatte leiten müssen. Doch warum ausgerechnet die DDR? War der mächtige Fabrikdirektor ein Sadist? Polnische Studenten, die Honecker auf einem Plakat mit einem schwarzen Malstift das Hitlerbärtchen hinzufügten, wüsste man dort richtig zu behandeln, behauptete Karol, als seine Tochter unfreiwillig nach Leipzig ging, um deutsche Literatur und Geschichte zu studieren. Dort verliebte sich Mariola unglücklich in eine tschechische Germanistikstudentin. Sie kam nach dem Abschluss nicht mehr nach Hause zurück. Bartoszyce, ihren Vater und dessen Textilfabrik hasste sie abgrundtief. Nicht einmal Arek war ihr willkommen, sie telefonierte selten mit ihm, und wenn sie ihn traf, dann höchstens für ein Stündchen. Sie war bei diesen seltenen Treffen zurückhaltend und zynisch, ließ kein gutes Haar an ihm, und ihre bissigen Bemerkungen taten Areks Ego und seiner Seele weh. Für Mariola war er ein Verräter und keine Kleine Maräne mehr.

    Areks Cousine absolvierte in Warschau ein zweites Studium, nämlich das der modernen Kunst, und zog es weiterhin vor, ihren Vater nicht wiederzusehen. Er aber unterstützte sie finanziell, schrieb ihr sehnsuchtsvolle, reumütige Briefe und besuchte sie gelegentlich unangemeldet.

    Nachdem Edyta auf den Plan getreten war, erlebte Arek eine zweite Revolution. Sie wurde sein erstes richtiges Mädchen – die Großstädterin, die Tochter eines Hochschullehrers und Ingenieurs der Landwirtschaftlichen Akademie in Poznań: Die schönste Erfindung der Volksrepublik Polen, wie sich ihr Vater, der als Erfinder von Vorrichtungen für Holzbearbeitungsmaschinen durchaus erfolgreich war, gelegentlich ausdrückte.

    Edyta, meine Edyta, dachte Arek, die katholische Kirche muss vor dir zittern, dein Name besitzt die zerstörerische Kraft eines Ketzers … Er erinnerte sich gerne daran, wie sie einmal, als sie beide schon seit mehr als fünf Jahren in der BRD wohnten und in ihren Ferien oft in Italien waren, auf dem Petersplatz in Rom im Minirock paradiert war – ihrer Schuld vollkommen unbewusst, hatte sie doch die frommen Besucher des Vatikans auf eine harte Probe gestellt. Über Edytas Knien konnte man nämlich das Wort Love lesen. Der Aufdruck des im Vatikan verbotenen Wortes auf den schwarzen Strümpfen, die Edytas lange Beine bedeckten, hatte bei den Touristen mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen als der Staat Gottes mit seinen sakralen Gebäuden. Später erzählte Edyta, sie habe von dem Aufdruck nichts gewusst, als sie die Strümpfe in Deutschland gekauft habe.

    In gewisser Hinsicht hatte Edyta ihrem Geliebten aus Bartoszyce das Leben gerettet, während seine Cousine den Absprung nicht mehr geschafft hatte: Sie war eine Kleine Maräne vom Lutrysee geblieben. Und wenn Arek seine bisherige Biografie in Kurzform wiedergeben müsste, hätte er keine großen Schwierigkeiten damit, einiges zu verschweigen, da ihm vieles, was er erlebt hatte, fremd und eigenartig vorkam, sodass er sich mit seinen früheren Inkarnationen kaum noch identifizieren konnte. Ihm fiel wieder Rudolf Szutkowskis Frage ein: »Wer bin ich?« War er der fünfzehnjährige Junge aus Kikity? Der kleine Schauspieler? Der Zeitreisende mit dem Regenschirm? Oder war er der Mittvierziger, der Onkel Karol in dieser Novembernacht ein letztes Mal Gesellschaft leistete? Der Übersetzer und Holztechnologe? Wer war tot, und wer war lebendig?

    Ende August 1980, als die Streiks in Bartoszyce ihre heißeste Phase erreichten und alle Ausländer, die im Erholungszentrum in Kikity ihren Sommerurlaub verbrachten, in Eile und Angst Polen verließen – vor allem die Freunde und Verwandten aus der DDR – ‚ kam ihm die Trennung von seiner Cousine sehr gelegen: Edyta paradierte am Badestrand des Lutrysees schon damals genauso selbstbewusst wie später auf dem Petersplatz in Rom; sie war eine geborene Ketzerin, und sie ahnte offenbar, dass sie ein Signal aussenden musste, das nur für Arek bestimmt war. Er hatte Edyta seit einigen Stunden am Badestrand von Kikity beobachtet, da sie ihm mit ihren langen Beinen sofort aufgefallen war: Sie lag in der Sonne, las ein Buch und ging ab und zu ins Wasser, und er fasste sich ein Herz und schlich sich an Edyta heran, um sie schließlich, als er sich neben ihr Badehandtuch setzte, anzusprechen; er wollte sich mit ihr für den Abend verabreden, und nach einer spontanen Fahrt mit dem Tretboot gelang es ihm, das Mädchen für ein abendliches Rendezvous zu gewinnen.

    Edyta war in jenem heißen August zusammen mit ihren Eltern an den Lutrysee gekommen. Purer Zufall hatte Areks und Edytas Schicksal geändert und ihnen beiden eine neue Marschroute gewiesen: Die zweite Revolution in Areks jungem Leben kam zum Ausbruch. Ein Freund von Edytas Vater, ein gewisser Herr Adamus, der Direktor der einzigen Möbelfabrik von Bartoszyce, hatte sein Versprechen, eine Ferienwohnung an einem der großen masurischen Seen zu organisieren, nicht gehalten. Er musste also auf die Schnelle eine andere Bleibe für die Sommerurlauber aus der Großstadt finden, und ein Telefongespräch entschied über Areks und Edytas gemeinsame Zukunft. Herr Adamus besorgte für die Urlaubsgäste aus Poznań in Kikity am Lutrysee einen Bungalow, im Erholungszentrum der Textilfabrik.

    Kikity, du bist ein wundersamer Ort, dachte Arek in dieser Nacht der Totenwache, erst hast du mir Mariola und dann Edyta geschenkt: alles in allem zwei großartige Revolutionen!

    Er teilte mit Mariola seine Gedanken und beschränkte sich nicht auf das nackte Erzählen von längst vergangenen Geschehnissen, sie unterbrach ihn kaum, sagte »Aha!« oder »Wirklich?«, und er spürte, wie sie jedes Wort aufsaugte und versuchte, sich jede Kleinigkeit zu merken; Areks Erinnerungen und Reflexionen waren für sie die beste Nahrung, die sie in diesem Augenblick zu sich nehmen konnte, auch wenn er gelegentlich auf Edyta zu sprechen kam …

    Arek erinnert sich an seine Artikel für den Untergrund

    Das erste Rendezvous mit Edyta fand tatsächlich noch am selben Tag statt, an dem Arek sein neues Mädchen am Badestrand von Kikity nach dreitägiger Recherche erspäht und angesprochen hatte. Edytas Beine hatten das Signal ausgesendet, das sich Arek so sehr von einem fremden weiblichen Planeten zu empfangen wünschte, um die Trennung von seiner Cousine besser verkraften zu können.

    Er wusste es noch nicht: Der Lutrysee duldet keine Trennungen. Er kümmert sich um seine liebeshungrigen Kleinen Maränen voller Hingabe, sobald seinen Schützlingen eine Gefahr droht. Der Lutrysee wünscht sich Frieden und eine harmonische Familie. Sein Gewässer ist das kälteste und sauberste in ganz Warmia und Masuren, und nirgendwo gab es so viele Ketzer wie am Lutrysee. Onkel Karol und andere Fabrikdirektoren verbannten in jener Zeit der Streiks und Straßendemonstrationen aufwieglerische Arbeiter und ihre wütenden Vertreter aus der Intelligenzia nach Kikity; Staatssicherheitsoffiziere, ehemalige Ostpreußen aus Westdeutschland, Schweden, Engländer, DDR-Urlauber und Geschäftsleute waren jeden Sommer nach Kikity gereist, um Abend für Abend gemeinsam am Lagerfeuer zu sitzen, am Stock gebratene Würste zu verspeisen und Wodka zu trinken. An diesem See schlossen Feinde für die Zeit der Sommerferien miteinander Frieden, so auch Areks Vater und Onkel Karol. Ende der Siebziger sagte er oft, schon bald würde er Witek vor den Offizieren und Milizionären nicht mehr beschützen können. Dieser Tag kam dann auch tatsächlich, am 13. Dezember 1981; das Kriegsrecht des Generals, der als Einziger den Weg nach Kikity scheute, hatte ihn an diesem Tag an die Ufer des Lutrysees und nach Bartoszyce getragen, eben auch zu Witek. Areks Vater wurde für acht Monate ins Internierungslager gesteckt, und selbst in dem Augenblick, als sich 1988 die »Stunde Null« zu nähern schien – das Ende der Textilfabrik von Onkel Karol und damit auch das Ende der Volksrepublik Polen wurden immer wahrscheinlicher –, wanderten die Menschen weiterhin ins Gefängnis. Kieślowskis 1984 produzierter Film »Ohne Ende« gelangte ein Jahr später in die Kinos und ließ die Zuschauer erschaudern: Man bekam, nachdem man den Streifen gesehen hatte, selber Lust, den Gasherd aufzudrehen und einzuschlafen, wie es Kieślowskis Hauptfigur Urszula Zyro getan hatte, eben nicht nur aus Liebe zu ihrem tragisch umgekommenen Mann, einem Anwalt für unlösbare und politische Fälle. Aber war das Jenseits wirklich leichter zu ertragen als das Leben in der kommunistischen Windmühle, in der es ständig spukte?

    Und was war nach der Aufhebung des Kriegsrechts im Juli 1983 geschehen?

    Seinen Traum, ein echter Theaterschauspieler zu werden, musste Arek begraben – er scheiterte an den strengen Aufnahmeprüfungen der Schauspielschule in Poznań: Er, der ehemalige TV-Kinderstar, hatte von den Professoren für seine filmische Leistung nicht die Bonuspunkte ergattert, mit denen er fest gerechnet hatte. Arek, der 1983 vor allem wegen Edyta zum Studieren nach Poznań gekommen war, entschloss sich kurzerhand für etwas völlig Neues und studierte an der Landwirtschaftlichen Akademie Holztechnologie, wie es ihm Edytas Vater vorgeschlagen hatte, zumal der die Prüfungskommission leitete, die über die Vergabe der Studienplätze entschied … Er verriet Arek den Titel der Bibel der Holztechnologen, und allein die Erwähnung des Buches Technologie des Holzes und der Holzwerkstoffe von Franz Kollman machte auf die Prüfungskommission großen Eindruck; jedenfalls war Arek dank Edytas Vater bestens vorbereitet. Seiner Tochter fiel die Berufswahl übrigens viel leichter, sie schwärmte für Germanistik und bestand die schwierigen Aufnahmeprüfungen – allerdings im Gegensatz zu Arek ohne die Protektion ihres im universitären Bereich einflussreichen Vaters: Sie brauchte nicht einmal die jenseitige Unterstützung ihres vor langer Zeit verstorbenen Opas väterlicherseits, der in den Germanistenkreisen jedem bekannt war. Und während seines Studiums begann Arek, mehr oder weniger aus Enttäuschung über die nicht bestandenen Aufnahmeprüfungen an der Schauspielschule, für verbotene Untergrundblätter kurze Artikel zu verfassen, in denen er den Feind – die kommunistische Regierung in Warschau und die Arbeiterpartei PZAR – angriff und bespuckte. Einige Zeilen, die bei Studenten und Hochschullehrern kurzzeitig sogar für Furore gesorgt hatten, kannte er immer noch auswendig:

    O Ihr Grausamen, o Ihr Beherrscher der irdischen Materie, Ihr Quantenphysiker der Ideologie! O Ihr Schöpfer der allwissenden Partei, die anstelle des vatikanischen Gottes über uns regieren will! Seid gegrüßt von uns Abtrünnigen aus Kikity, von uns Kleinen Maränen, denn wir werden Euch eines Tages beim lebendigen Leibe zerfleischen! Bei Euren lebendigen Schreien werden

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