Besatzungskinder: Die vergessene Generation nach 1945
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Sonya Winterberg legt nun die erste allumfassende Publikation zu diesem Thema vor. Basierend auf Gesprächen mit Zeitzeugen und intensiven Recherchen erläutert sie, wie die Kinder der »Feinde« oftmals ihre Herkunft verschweigen mussten, wie sie diskriminiert, ausgegrenzt und nicht selten misshandelt wurden. Prominente Beispiele wie Fußballtrainer Felix Magath oder Sängerin Marianne Faithfull werden vorgestellt, und auch die Situation der rund 200.000 »Soldatenkinder«, die nach dem Krieg in Österreich geboren wurden, wird durchleuchtet. So entsteht das vielschichtige und detaillierte Porträt einer Generation, deren Schicksal beispielhaft ist für die Nachkriegszeit und den Umgang mit der Vergangenheit.
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Besatzungskinder - Sonya Winterberg
machen.
Kapitel 1
Vater / Mutter / Kind Drei Schicksale der Besatzungszeit
LOUIS
Es sind die letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs, als der 24-jährige Sanitäter und Medizinstudent Louis Kolokoff aus New York mit seiner Infanterieeinheit Hitlerdeutschland erreicht. Das Land liegt bereits in Trümmern, und wo immer die Amerikaner einmarschieren, werden sie häufig schon sehnsüchtig erwartet. Eigentlich gilt der Befehl, dass die Soldaten nur sehr eingeschränkt mit der Bevölkerung Kontakt haben dürfen. Doch immer wieder kommt es zum freundlichen Austausch der GIs mit den hübschen German Frauleins. Auch die jungen Frauen sind froh, dass die schlimmen Kriegsjahre vorbei sind und mit den Befreiern wieder adrett aussehende Männer auftauchen, die ihnen den Kopf verdrehen – denn viele deutsche Männer sind im Krieg gefallen, in Gefangenschaft geraten oder gelten als vermisst. Und noch etwas haben die Amerikaner im Gepäck: für ein Küsschen oder ein bisschen mehr gibt es für die Fräulein Zigaretten, Schokolade, Kaugummi oder Nylonstrümpfe.
Als die Amerikaner im April 1945 im thüringischen Sonneberg einmarschieren, lernt Louis die etwa gleichaltrige Lilli Bibernell kennen. Er spricht kein Deutsch und sie kein Englisch, aber in ihrer Verliebtheit kommen sie auch ohne viele Worte aus. Lilli stammt aus Breslau und scheint sich allein durchzuschlagen. Wo ihre Familie ist, was sie in Thüringen macht und wie ihre Lebensplanung aussieht, ist für Louis zu diesem Zeitpunkt nicht wichtig.
Die junge Frau hat es ihm angetan, und wäre nicht immer noch Krieg, wäre sie eindeutig seine Traumfrau. Ist es tatsächlich nur Liebe? Die Sehnsucht nach einer heilen Welt? Oder macht sich Lilli Hoffnung auf eine Zukunft in den USA mit dem schmucken Soldaten, den sie liebevoll Lu nennt? Auf jeden Fall ist es den beiden jungen Leuten Ernst, ernster, als es die US-Armee zu diesem Zeitpunkt eigentlich zulässt. Es bleibt nicht bei einer Liebesnacht, und noch bevor Louis’ Einheit weiterzieht, ist Lilli schwanger. Louis bleibt nur ein Bild von seiner feschen Braut, öffentlich darf er die Liaison nicht machen. Und auch Lilli hat ein Foto vom Vater ihres Kindes sowie eine Postfachadresse der amerikanischen Streitkräfte, an die sie mit großer Hingabe Briefe auf Deutsch schreibt und die ein Kamerad für Louis übersetzt. Anfang 1946 kommt Sohn Peter zur Welt. Da ist Louis schon wieder einige Monate zurück in den USA. Gern würde er bei Lilli und dem Kind sein, doch für einen amerikanischen Medizinstudenten ist eine Reise nach Europa zu dieser Zeit ebenso unerschwinglich, wie es aussichtslos ist, die junge Frau mit dem Sohn in die USA zu holen. So bleiben ihm nur ein paar Bilder, die er ein Leben lang in seiner Brieftasche bei sich tragen wird.
Als ich im Frühjahr 2014 für dieses Buch recherchiere, schreibt mir Louis’ Tochter Rachel: »Im April 1990 starb mein Vater im Alter von 68 Jahren an einem Herzinfarkt. Er war leitender Internist an einem Krankenhaus in Chicago geworden, nachdem er aus Europa zurückgekehrt war und sein Medizinstudium beendet hatte. Hier traf er auch meine Mutter Sarah, die er 1952 heiratete. Gemeinsam bekamen die beiden fünf Kinder, meine beiden Brüder David und Mark sowie meine Schwestern Valerie, Lisa und mich. Noch bevor er meine Mutter kennenlernte, hatte mein Vater wohl immer wieder sporadisch brieflichen Kontakt mit Lilli und schickte ihr, wann immer es ihm möglich war, kleinere Summen Geld zur Unterstützung. Auch als er längst verheiratet war, schickte er mit dem Wissen meiner Mutter noch Geld für Peter nach Deutschland. Leider fanden wir nach seinem Tod in seiner Brieftasche bei den Familienfotos von uns nur noch zwei Fotos von Lilli und Peter, ohne weitere Hinweise auf deren Verbleib. Meine Mutter hatte über die Jahre die Geschichte schon ganz vergessen und wir Kinder erfuhren erst da, als Erwachsene, dass wir noch einen Halbbruder in Deutschland hatten. Wir würden Peter gern finden. Ob Sie uns helfen können?«
EVA
Als Eva Hermine von Sacher-Masoch an diesem kühlen Wintertag Anfang 1946 im Wiener Collegium Hungaricum einem Major der britischen Armee die Tür öffnet, ahnt sie nicht, dass der Besucher ihr weiteres Leben entscheidend prägen wird. Dieser ihr unbekannte Mann wird der Vater ihres einzigen Kindes werden, der später als Sängerin weltberühmten Marianne Faithfull.
Eva wohnt seit dem Anschluss Österreichs an Deutschland mit ihren Eltern im Haus der ungarischen Gesandtschaft in der Bankgasse. Sie ist Mitte dreißig und noch ledig, obwohl sie nur wenige Jahre zuvor eine sehr begehrte Frau in der Berliner Gesellschaft gewesen war. Vater Arthur war im Ersten Weltkrieg als Berufsoffizier in der k.u.k. Armee gewesen und hatte sich später der Schriftstellerei zugewandt, wodurch er in die Fußstapfen seines berühmten Onkels Leopold von Sacher-Masoch trat, der 1870 mit seiner Novelle Venus im Pelz zum Namenspatron des »Masochismus« geworden war. Auch Evas zehn Jahre älterer Bruder Alexander widmete sich als Journalist und später als Romanautor dem Schreiben. In den zwanziger Jahren genoss die Familie das schillernde Leben in der Kulturmetropole Berlin. Mutter Flora hatte ihre Tochter schon früh zum Ballettunterricht geschickt. Bereits als Jugendliche trat Eva in die Ballettkompanie von Max Reinhardt am Großen Schauspielhaus in der Friedrichstraße ein. Doch klassisches Ballett genügte ihr bald nicht mehr. In dem literarischen Kabarett Schall und Rauch konnte sie sich künstlerisch austoben. »Es waren aufregende Zeiten«, erinnerte sie sich später. »Auf den großen Bühnen verdienten wir Geld, in Kabaretts und Clubs hatten wir zudem noch unseren Spaß.« Ihre grazilen Spiegeltänze quittierte das Publikum mit Begeisterungsstürmen. Die Männerwelt lag ihr zu Füßen. Aber auch das Verkleiden, das Spielen mit Geschlechterrollen und die Fantasie des Publikums übte eine große Faszination auf sie aus. Dass Berlin in jenen Jahren den Ruf genoss, die aufregendste Stadt der Welt zu sein, lag auch an Künstlerinnen wie Eva. Als sie mit gerade einmal zwanzig, noch nicht volljährig, im internationalen Tanztheater Barberina unter Vertrag genommen wurde, stockte selbst den weltoffenen Eltern ein wenig der Atem. Das Programm war freizügig und eindeutig erotisch.
Doch Evas avantgardistischer Lebensstil findet schon zwei Jahre später mit Hitlers Machtergreifung ein jähes Ende. Kurzzeitig begehrt Eva auf und schließt sich der politisch linken Kabarettgruppe Ping-Pong an. Doch als am 10. Mai 1933 die Nazis auf dem Berliner Opernplatz Bücher verbrennen und Goebbels gegen den »jüdischen Ungeist« wettert, spielt Eva zur selben Zeit in Laufweite an der Volksbühne in dem ganz und gar unpolitischen Musiktheatermärchen Der Bauer als Millionär. Es ist das ernüchternde Ende einer großen Karriere – nie wieder wird sie eine Bühne betreten. Floras Mutter ist Jüdin; 1934 ziehen Eva und die Eltern wegen der zunehmenden Pogromstimmung nach Wien um. Alexander bleibt zunächst in Berlin. Doch weil er den Ariernachweis nicht erbringen kann, wird er aus der Reichsschriftumskammer ausgeschlossen. Er flieht schließlich nach Jugoslawien.
Auch in der Alpenrepublik änderte sich das politische Klima zusehends. Mit dem Anschluss an das Deutsche Reich 1938 galten in Österreich die gleichen Rassengesetze wie in Deutschland. Kurz zuvor war es dem Vater noch über alte Militärverbindungen gelungen, eine Wohnung im Collegium Hungaricum anzumieten. Im selben Haus war die ungarische Botschaft untergebracht und die Familie hoffte, dass sich der diplomatische Schutz auf das gesamte Haus erstrecken würde. Noch schützte die Ehe mit einem Arier Evas Mutter, doch die allgegenwärtige Judenfeindlichkeit änderte Leben und Alltag der Familie auf dramatische Weise. Flora und Eva mussten in ihren Pass den Namenszusatz Sara eintragen lassen, um jederzeit als Juden kenntlich zu sein. Täglich verließen jüdische Nachbarn die Stadt oder wurden abgeholt. Ein furchtbares Leben der Anspannung und des Grauens begann.
Als 1941 die Grenzen für Juden geschlossen wurden, hatte Vater Arthur nur noch ein Ziel: seine Ehefrau und die gemeinsame Tochter zu retten. In einem illegalen Netzwerk von Kommunisten, Liberalen, Juden und Katholiken wurde Arthur Teil der Widerstandsbewegung. Er war sechzig Jahre alt, als ihn die Gestapo zum ersten Mal zum Verhör abholte. Sein Name war in einem abgefangenen Gefängniskassiber aufgetaucht. Er wusste, dass er seine Familie nur retten konnte, wenn alle schwiegen. Vier weitere Male wurde er in den folgenden Jahren verhört, die Methoden wurden immer härter. Einmal hängten sie ihn an den Händen auf und befragten ihn stundenlang. Doch Arthur ertrug Hohn, Beschimpfungen und schlimmste Schmerzen. Er gab keine Namen preis.
Eines Tages im Jahr 1944 betritt Eva das Wohnzimmer der Familie. Im Bruchteil einer Sekunde erfasst sie die Situation: Mutter Flora steht am offenen Fenster auf dem Sims und schaut in die Tiefe. Geistesgegenwärtig stürzt Eva zur lebensmüden Mutter und klammert sich an ihren Beinen fest: »Mutter dachte, all das, unser armseliges Leben, die Verhöre bei der Gestapo, sei ihre Schuld – weil sie jüdisch war.«
Bei Kriegsende 1945 gehört die Familie Sacher-Masoch zu den rund 5 000 von einst 140 000 Wiener Juden, die das Dritte Reich in der Stadt überlebt haben. Das einst blühende jüdische Leben, insbesondere im zweiten Wiener Bezirk, der Leopoldstadt, ist innerhalb weniger Jahre komplett ausgemerzt worden. 65 000 Juden sind in den Vernichtungslagern umgekommen. Die Erleichterung darüber, mit dem Leben davongekommen zu sein, währt nicht lange. Sowjetische Truppen besetzen die Stadt und ergreifen Besitz – auch von den Frauen. Der österreichisch-amerikanische Historiker Günter Bischof schätzt, dass in diesen Tagen bis zu 100000 Frauen allein in Wien von den neuen Besatzern vergewaltigt werden. Unter ihnen sind Eva von Sacher-Masoch und ihre Mutter Flora.
Wie in jener Zeit üblich, sprechen Mutter und Tochter nie darüber, was ihnen genau passiert ist. Es geschieht in der heimischen Wohnung, Arthur muss mit ansehen, wie sich die Soldaten an seiner über alles geliebten Frau und seiner Tochter vergehen, ohne dass er etwas dagegen tun kann. Und auch wenn sie ihr Leid stumm ertragen, verändern diese unendlich scheinenden Minuten alles für die beiden Frauen. Hatte Flora sich bislang für die schwierige Lage der Familie unter den Nazis schuldig gefühlt, muss sie nun auch noch für Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion bezahlen. Die Rache der Sieger macht kaum einen Unterschied zwischen Tätern, Mitläufern und Opfern. In den folgenden Jahren wendet sich Flora immer mehr von ihrem Mann ab, der während des Krieges alles für sie riskiert und getan hatte. Ein tiefer Schmerz, den zu überwinden am Ende beide Ehepartner nicht mehr in der Lage sind.
Auch für die inzwischen 34-jährige Eva sind die Folgen der Vergewaltigung existentiell. Neben körperlichen und seelischen Schmerzen bemerkt sie wenige Wochen später, dass sie schwanger ist. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs tritt im katholischen Österreich wieder der »unerbittliche Paragraph 144« in Kraft, der eine Abtreibung grundsätzlich untersagt. Für die unzähligen Frauen, die Evas Schicksal teilen, muss sich dieser Paragraph wie Hohn anhören – als ob sie vom Schicksal nicht bereits genug gestraft wären. Im Gesetzestext steht: »Eine Frauenperson, welche absichtlich was immer für eine Handlung unternimmt, wodurch die Abtreibung ihrer Leibesfrucht verursacht oder ihre Entbindung auf solche Art, dass das Kind tot zur Welt kommt, bewirkt wird, macht sich eines Verbrechens schuldig.« Wieder einmal sind es Arthurs gute Verbindungen in die Wiener Gesellschaft, die helfen, das Unglück geräuschlos zu beseitigen. Eine Strafverfolgung muss Eva nicht befürchten.
Und dann steht da im Winter 1946 plötzlich dieser Fremde vor der Tür des Collegium Hungaricum. Er habe eine wichtige Mitteilung zu überbringen, erklärt er in feinstem britischen Englisch. Eva ist angetan vom Erscheinungsbild des Mannes, der etwa in ihrem Alter ist. Neugierig bittet sie den Offizier herein und holt die Eltern. Major Robert Glynn Faithfull hat Evas Bruder Alexander hinter den feindlichen Linien in Jugoslawien kennengelernt, wo dieser Seite an Seite mit den Partisanen kämpfte, während der Engländer im Auftrag des britischen Militärgeheimdienstes MI 6 unterwegs war. Lange hat die Familie nichts mehr von Alexander gehört und das Schlimmste befürchtet. Alexanders Brief lässt sie aufatmen: Er ist am Leben, und es geht ihm gut. Damit ist Faithfulls Mission eigentlich beendet, doch die Schwester seines Freundes Alexander hat es ihm schon während dieser ersten Begegnung angetan. Als Flora ihn bittet, am nächsten Tag zum Abendessen wieder zu kommen, nimmt er die Einladung dankend an.
Zwischen Eva und Major Faithfull entspinnt sich schnell ein Verhältnis und schon wenige Wochen später hält der Engländer beim Vater um Evas Hand an. Die bildschöne ehemalige Tänzerin ist eine Frau ganz nach Faithfulls Geschmack: kühl, fast unnahbar, stolz und ein wenig seltsam. Eva hingegen hat von Faithfull das Bild eines englischen Gentlemans, wie sie es aus den weltläufigen Berliner Zeiten und aus Filmen kennt. Er ist höflich, charmant und kann sie, die inzwischen so ernst geworden ist, wieder zum Lachen bringen. Mit ihm scheint ein normales Leben möglich, das ihr auch erlaubt, endlich aus dem elterlichen Haushalt auszuziehen und auf eigenen Füßen zu stehen. Dass dieses normale Leben sie nach England führt, stört Eva überhaupt nicht. Im Gegenteil, die Insel scheint ihr ein Sehnsuchtsort, an dem sich die Schrecken der Verfolgung und des Krieges vielleicht ein wenig vergessen lassen.
Neun Monate nach der Hochzeit der österreichischen Adeligen und ihres englischen Majors kommt Töchterchen Marian zur Welt, die sich später Marianne nennen wird. Die junge Familie zieht in das kleine Dörfchen Ormskirk in Lancashire. Robert, der sich inzwischen wieder im zivilen Leben eingerichtet hat, arbeitet an der Universität im nahe gelegen Liverpool an seiner Doktorarbeit in den romanischen Sprachwissenschaften. Heil wird Evas Welt in der neuen Heimat indes nur wenige Jahre sein.
»Ich habe gehört«, schreibt Faithfull in ihren Erinnerungen, »dass Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch gehabt haben, später immer ein Kind haben möchten. Dies erklärt sicherlich, weshalb Eva meinen Vater heiraten und mich bekommen wollte.« Doch das Trauma der Vergewaltigung durch den russischen Soldaten lässt sich so nicht heilen. Als Marian sechs Jahre alt ist, lassen sich die Eltern scheiden. Marianne Faithfull begreift das später als Konsequenz der Erlebnisse Evas bei Kriegsende. »Ich glaube heute, dass die Ehe zwischen meinem Vater und meiner Mutter deshalb nicht funktionierte, weil Mutter seither Männer hasste.«
MARY
Die heute sechzigjährige Mary Sweeney lebt in den USA. Sie weiß, dass sie in Deutschland als Kind eines amerikanischen Besatzungssoldaten und einer minderjährigen Mutter geboren wurde. »Immer wenn ich meine Eltern nach meiner Herkunft gefragt habe, wurde mir gesagt, dass ich undankbar sei und dass ich mich darum nicht zu kümmern hätte«, erzählt sie. »Ich wurde 1955 geboren und wahrscheinlich ein Jahr später aus einem Waisenhaus in Süddeutschland adoptiert.« Das ist alles, was sie aus den offiziellen Papieren entnehmen konnte, die sie im Laufe der Jahre dann doch erhalten hat. Mit Hilfe des Geburtsorts und des Geburtsdatums fordere ich mit ihrer Erlaubnis schließlich eine beglaubigte Abschrift aus dem Geburtenregister an. Zum ersten Mal hört sie ihren deutschen Namen – Katharina. Ihre leibliche Mutter ist die Schülerin Paula Meyer, die zum Zeitpunkt der Geburt selbst gerade erst sechzehn Jahre alt war. Ein Vater ist nicht angegeben. Einerseits freut sich Mary, endlich ihre eigentliche Geburtsurkunde in Händen zu halten und den Namen zu kennen, der ihr einst in Deutschland zugedacht war. Doch zugleich tun sich eine Reihe neuer Fragen auf. Warum war die Mutter so jung? Gab es keine Großeltern, die sich um sie hätten kümmern können? Wer war der Vater? Und schließlich: Gibt es die Mutter noch und wie kann ich sie finden? Trotz all dieser Fragen kann Mary sich von einer Angst nicht frei machen: Ihr Adoptivvater hat ihr bei mehreren Gelegenheiten den Schwur abgenommen, niemals nach ihrer Herkunft zu forschen. Ob sie es trotz dieses eindrücklichen Verbots wagen soll? Schon einmal hatte sie die Akte des Adoptivvaters, einem ehemals hochrangigen Militär, ohne sein Wissen angefordert, nur um herauszufinden, dass beinahe alle Informationen über ihn »classified«, also geheim sind. Seitenweise geschwärzte Blätter habe man ihr geschickt. Sie vermutet, dass der Vater etwas zu verbergen hat, weiß aber nicht, was es sein könnte.
Mary bittet mich, in ihrem Geburtsort weiterzusuchen, ob nicht doch noch jemand ihre Mutter kennt oder anderweitig mit Informationen weiterhelfen kann. Und tatsächlich: Eine Mitarbeiterin der katholischen Kirchgemeinde am Ort erinnert sich an Paula Meyer, die als junge Frau schließlich einen Deutschen heiratete und mit ihm zwei Söhne hatte. Sie sei inzwischen schon einige Jahre verwitwet und gesundheitlich nicht mehr ganz auf der Höhe. Ich bitte um ein Gespräch mit dem Pfarrer, der verspricht, mit der Mutter Kontakt aufzunehmen, um nachzufragen, ob ich sie anrufen darf. Nach einigen Tagen meldet sich der Pfarrer zurück. Paula Meyer habe bittere Tränen geweint, als er sie auf mein Anliegen angesprochen habe. Ja, ich dürfe anrufen, aber sie sei nicht bereit, Kontakt mit ihrer Tochter zu haben.
Als sich die Mutter am anderen Ende der Leitung meldet, bin ich erstaunt, wie sehr sie trotz des Altersunterschieds und der anderen Sprache am Telefon wie ihre Tochter klingt. Doch damit kann ich das Gespräch unmöglich beginnen. Ich frage, ob wir erst ein paar Daten abgleichen können, um sicher zu sein, dass sie auch die Gesuchte ist. Der Mädchenname stimmt, ebenso dass sie im fraglichen Jahr ein Kind bekommen hat. Dann wird es erst still in der Leitung, schließlich ein Schluchzen. »Wissen sie«, sagt die alte Dame, »meine Mutter hat sich damals um alles gekümmert. Ich wusste doch gar nicht, was mit mir geschehen war.« Es stellt sich heraus, dass sie von einem GI, den sie anfangs nett gefunden hatte und der dann plötzlich zudringlich wurde, vergewaltigt worden war. »Ich hatte doch keine Ahnung und war im Dorf die Einzige, der so etwas passiert war. Alle dachten, ich wäre selbst schuld gewesen, dabei hatte ich doch gar nichts getan …« Unser Gespräch geht ihr nahe, und ich bereue es, dass ich jetzt nicht bei ihr bin, sondern das Telefon uns trennt. Sie erzählt von ihrem Mann und den beiden Söhnen. Niemand habe je etwas von dieser Geschichte erfahren und sie wolle es auch dabei belassen. Als ich