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Die Macht der Menschenbilder: Beitrage zur theologischen Anthropologie
Die Macht der Menschenbilder: Beitrage zur theologischen Anthropologie
Die Macht der Menschenbilder: Beitrage zur theologischen Anthropologie
Ebook497 pages5 hours

Die Macht der Menschenbilder: Beitrage zur theologischen Anthropologie

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Mit "Die Macht der Menschenbilder" begründet das "Forum Theologie & Gemeinde" eine neue Reihe - die "Beiträge zur systematischen Theologie". Aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, befasst sich diese Reihe mit den Grundlagen unseres christlichen Glaubens. In dem hier vorliegenden Band geht es um den Menschen und seine Stellung vor Gott. Die Autoren spüren verschiedenen Fragen nach: Wie kann "theologische" Anthropologie gestaltet werden? Wie sieht die Beziehung zu Gott aus bzw. wie ist sie zu denken? Was bedeutet eigentlich die Gottesebenbildlichkeit für den Menschen? Ist eine Unterteilung des Menschen in zwei bzw. drei Teile (Dichotomie/Trichotomie) biblisch? Unser Denken über den Menschen bestimmt unser Handeln mit dem Menschen - sowohl als Gegenüber wie auch auf uns selbst bezogen. Hier spielen Einflüsse z. B. durch Erziehung oder theologische Prägungen eine entscheidende Rolle. Diese gilt es zu erkennen und zu benennen. Dazu wollen die Autoren von "Die Macht der Menschenbilder" einen wesentlichen Beitrag leisten.
LanguageDeutsch
Release dateFeb 15, 2013
ISBN9783942001229
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    Die Macht der Menschenbilder - Jasmin Eifler

    Gemeinde

    Teil I: Wozu eine christliche Lehre vom Menschen?

    Die Frage nach dem Sinn einer theologischen Anthropologie

    Rüdiger Halder

    1 Einführung

    Hand aufs Herz, wer hat sich nicht schon einmal gefragt: Wer bin ich eigentlich? Was macht mich aus? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Die Frage nach dem Sein, nach Zielen und nach einer Bestimmung ist keine Frage, die sich z. B. ein Huhn stellt. Ein Huhn fragt nicht: Warum bin ich ein Huhn? Welchen Sinn hat es, wenn ich jeden Tag ein Bio-Ei lege? Ein Huhn weiß auch nicht um den Unterschied zwischen sich und den anderen Hühnern, zwischen der Hühnerleiter und sich selbst. Ein Huhn sagt auch nicht: „Ich muss jetzt meine eigene Identität finden in dem Hühnerstall." Es strebt kein Selbstfindungsprozess an. Nein, die Frage nach dem Sinn, nach Zielen und nach einer Bestimmung ist alleine die Frage des Menschen. Und diese Fragen entspringen nicht aus einer Laune oder gar Langeweile. Es sind Fragen, die im Wesen des Menschen verankert sind. Sie gehören nicht nur zu seinem Wesen dazu, vielmehr sind sie für ihn lebenswichtig. Warum? Weil es sind die Sinnfragen sind, die letztlich zur Gottesfrage führen. Die Fragen nach dem wer, was, woher und wohin münden vielfach in die Suche nach Gott. Aus diesem Grund bieten die Fragen nach dem Menschen einen Anknüpfungspunkt für das Überbringen der guten Nachricht.

    Der Mensch, und gerade der postmoderne Mensch, leidet unter einer Identitätslosigkeit. Die wissenschaftlichen Anstrengungen, den Menschen verstehen zu wollen, enden in einer Vielzahl von Widersprüchen, welche zu einer allgemeinen Verunsicherung führen. Kubsch bemerkt hierzu:

    Unsere Nachbarn leiden unter den Widersprüchen, die ein Leben ohne Bindung an Gott auslöst, sie werden durch einen Identitätsverlust regelrecht zerrissen. Diese Unruhe nutzt Gott, um die Menschen in ein Gespräch zu verwickeln. Gott fragt leise: „Adam und Eva, wer seid ihr?"¹

    Was also kann wichtiger sein, als diesen Menschen einen Horizont zu eröffnen, in dem sie erkennen, dass ihr Leben einen Sinn hat, dass sie nicht zufällig hier sind, sondern dass eine Bestimmung über ihrem Leben liegt.

    Nun mag ein Christ überzeugend sagen: „Ok, dass ist alles richtig und gut, aber ein Christ hat ja die Antwort bereits gefunden: ‚Der Sinn des Lebens besteht darin, Gott, den Nächsten und sich selbst zu lieben; Gottes Gebote zu halten und mit Gott in Gemeinschaft zu leben. Von daher geht es nun darum, Gottes Willen stets zu erkennen und ihn zu befolgen.‘ Aber mal ehrlich: Eine solche Aussage kann zwar wahrscheinlich jeder Christ unterschreiben, doch so einfach ist es nicht. In Wirklichkeit haben die oben aufgezeigten Fragen nicht aufgehört. Was sich wohl verändert hat, ist, dass die Fragen nun „richtig gestellt werden. Die eigentliche Frage lautet nämlich nicht z. B. „Wer bin ich?, sondern „Wer bin ich vor Gott? Die Antwort auf diese Frage ist alles andere als abgeschlossen, abstrakt und lebensfern. Vielmehr haben wir darin auch als Christen einen Weg zu beschreiten. Anfang und Ziel sind das eine, aber die Fragen: „Welchen Weg gehe ich als Christ darin? und „Wie gestaltet sich der Weg eines Christen? ist eben das andere.

    Die Frage nach dem Menschen ist zudem eine biblische Frage. Schon immer unterlagen die Menschen der Begrenzung ihrer Worte, wenn es darum ging, Prozesse, Wahrnehmungen oder Erkanntes zu beschreiben. Nicht zuletzt stellte die Frage nach dem Menschsein schon in der damaligen Zeit ein Geheimnis dar, welches versucht wurde, zu ergründen. Hiob und der Psalmist konnten demnach vor ihrem Gott nicht anders stehen, als zu fragen: „Was ist der Mensch?"(Ps 8,5)

    Innerhalb der Gemeinde fragt man möglicherweise weniger nach dem Menschen an sich, als vielmehr nach: „Was ist ein Christ? Die sonntäglichen Predigten sind voll von der Frage, wie sich ein richtiger Christ zu verhalten und sein Leben zu gestalten hat. Es wird – zumeist mit biblisch-abstrakten Begriffen – über den wiedergeborenen Menschen gepredigt. Doch was ist ein wiedergeborener Mensch, was hat sich mit der Wiedergeburt konkret verändert? Wie ist das „Neue, das „geworden ist konkret zu benennen? Wie hat man sich das sogenannte „in Christus oder „Christus in mir" vorzustellen? Diese Fragen bleiben häufig unkonkret, abstrakt, kananäisch-schwammig oder völlig einseitig betrachtet im Raum stehen. Fakt ist: Jede Predigt, Bibelarbeit und christliche Lehre ist neben dem Gottesbild in einer vielfältigen – alle Bereiche umfassenden Art und Weise – von Menschenbildern durchdrungen, die das Denken und Handeln eines Christen beeinflussen und ihm dadurch das Leben leicht oder schwer machen können.

    Ebenso zeigt ein kurzer Blick auf den christlichen Buchmarkt, wie relevant die Frage nach dem Christsein zu sein scheint. So betont Joyce Meyer: „Du darfst du selbst sein. Derek Prince fragt: „Wer bin ich? Oder David Hocking: „Identität, wie finde ich sie? Anderson hat einen Studienführer herausgegeben zum Thema „Neues Leben- neue Identität. Dobson will wissen: „Wie werde ich eine Persönlichkeit? Andreas Herrmann gibt Ratschläge zu einem erneuerten Denken. Rudolf Seiß denkt über die Freiheit und Identität des Christen nach. Und Ray Burwick meint, „Du bist besser als du denkst.

    Wozu eine christliche Lehre vom Menschen? Sicherlich nicht, um fertige Antworten zu präsentieren! Es geht in einem ersten Gedanken darum, dass wir es als Kinder Gottes „wert" sind, dass wir über unsere Stellung vor Gott, über unser Geschöpf-Sein, nachdenken. Es geht darum zu erkennen, dass es von Gott erwünscht, ist mit ihm zusammen die Wer-, Was,- Woher- und Wohinfragen immer wieder zu bewegen, um unserer Stückwerkerkenntnis zu erweitern. Die christliche Lehre vom Menschen zeigt auf, dass es – z. B. im Falle einer Predigt über den rechten Christen – sinnvoll ist, über das Bild, welches wir vom (Christen-) Menschen besitzen, nachgedacht zu haben. Denn wie im weiteren Verlauf immer deutlicher werden wird, sind Menschenbilder nicht einfach nur eine abstrakte ideologische Vorstellung. Vielmehr liegt ihr eine Macht zugrunde. Und das Erkennen dieser Macht, wird uns u. a. mehr und mehr aufhorchen lassen, warum eine theologische Anthropologie von Nöten ist.

    »  Begriffserklärung und theologische Verortung

    Das Nachdenken über die Macht der Menschenbilder führt uns in den Bereich der sogenannten Anthropologie bzw. in unserem vorliegenden Kontext in die theologische Anthropologie. Hierbei handelt es sich um eine Disziplin, welche zur systematischen Theologie zu zählen ist. Der Begriff Anthropologie kommt aus dem Griechischen, setzt sich zusammen aus der Wendung „anthropos" und „logos" und meint: „Die Rede vom Menschen". Eine modern zeitgenössische Definition des Begriffes könnte lauten:

    Anthropologie ist eine naturgeschichtliche Wissenschaft vom Menschen und dessen körperlicher und geistiger Eigenschaften².

    Die Anthropologie beinhaltet eine Vielzahl an Forschungsfeldern, so dass eine Definition ihrer Angelegenheit nicht nur sehr unscharf wäre, sie ist aus der Sicht des zeitgenössischen evangelischen Theologen Schoberth gar nur schwer zu klären:

    Schon die Frage, was genau der Gegenstand der Anthropologie sei und erst recht, welche Methoden und Problemstellungen diesem Gegenstand angemessen wäre, ist freilich umstritten.³

    Seiner Meinung nach bezeichnt Anthropologie weniger ein eingrenzbares Thema als vielmehr ein offenes Problemfeld. Somit steht die Klärung ihres eigenen Begriffes nicht im Vorfeld der Anthropologie, sondern ist bereits eine ihrer wesentlichen Aufgaben. In seiner Einführung in die theologische Anthropologie hat sich ­Schoberth dies zur Aufgabe gemacht. Diese umfassende Untersuchung kann in diesem Rahmen jedoch hier nicht geleistet werden.⁴ Für die in diesem Band vorgelegten Beiträge sollte es genügen, im Vorfeld ein paar Gedankenansätze und Thesen zur Frage darzulegen: Warum haben wir uns mit dem Menschen zu beschäftigen?

    »  Vorgehensweise

    Der Fragestellung „Wozu eine christliche Lehre vom Menschen? soll mit drei Überlegungen begegnet werden. Der erste Gedanke will aufzeigen, warum das Nachdenken über Gott immer auch ein Nachdenken über den Menschen mit einschließen muss. Die zweite Überlegung greift den Buchtitel „Die Macht der Menschenbilder auf. Zuletzt soll zum einen der zunehmende massive Angriff auf das traditionelle Menschenbild seitens der Naturwissenschaften respektive Neurowissenschaften betrachtet werden. Zum anderen soll dargelegt werden, welche Gründe es geben könnte, nach denen die theologische Anthropologie einen interdisziplinären Dialog mit den Neurowissenschaften anstreben sollte. Jeder Überlegung liegen drei methodische Schritte zugrunde:

    Darlegung von Beobachtungen, Phänomenen

    Hintergründe

    Aufgabe für die theologische Anthropologie

    2 Warum das Nachdenken über Gott das Nachdenken über den Menschen mit einschließen muss

    »  Beobachtungen

    Ohne Frage ist es Anliegen eines Christen, die Welt und den Menschen von Gott her verstehen zu wollen. Christen besitzen ein theozentrisches Weltbild. In ihrer Lebensgestaltung haben sie den Anspruch, ihr Verhalten und Tun auf Gott auszurichten. Gott hat den Menschen nicht nur gestaltet, vielmehr hat er dem Menschen Bestimmungsziele mitgegeben, eine Berufung erteilt und ihn mit Gaben und Fähigkeiten ausgestattet, diese Ziele – zur Ehre Gottes – zu erreichen. Von daher ist es nicht verwunderlich, wenn man unter Christen hinsichtlich der Frage nach dem Menschen auf eine gewisse Skepsis stößt: Warum sollte man über den Menschen nachdenken? Sollte es nicht das tägliche Anliegen eines Christen sein, darüber zu beten und nachzusinnen, was der Herr will und wie er die Dinge sieht? Sollte es nicht primär darum gehen, Gott verstehen zu wollen? Was ist schon der Mensch, dass Gott seiner gedenkt? Geht es nicht um Gottes Ehre in allem? Sollte man nicht bestrebt sein, dass der Mensch nicht zu viel Bedeutung erhält? Nicht „Yes, we can, sondern „Yes, he can soll das Motto eines Christen sein, oder?

    »  Hintergründe

    Zweifelsohne haben die obengenannten Bedenken vielschichtige Hintergründe. Zum einen haben wir es mit einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber allem zu tun, wo auf der Basis von Vernunft und Verstand theologische Ansichten erörtert und dahingehende Lehre formuliert werden. Davon ist die Anthropologie nicht ausgenommen. Ein meines Erachtens wesentlicher Indikator für die dahingehende Zurückhaltung könnte sein, dass im säkularen Denken die Vormachtstellung des Menschen als Mittelpunkt allen Geschehens seit der Aufklärung (17./18. Jh.) bis heute ungebrochen ist. Der Mensch erhebt seine von Gott gegebene Vernunft und seinen Verstand über Gott und macht sich selber zum Maß aller Dinge. Mit der Bedeutung, die sich der Mensch selber zumisst, wird Gott jeglicher Ehre beraubt.

    »  Aufgabe für die theologische Anthropologie

    Die Verwandlung von einem theozentrischen hin zu einem anthropozentrischen Weltbild, die mit der Aufklärung vollzogen wurde und bis heute anhält, ist ohne Frage ernst zu nehmen. Wenn Menschen über den Menschen nachdenken, dann ist jeder Mensch selbst Gegenstand dieses Nachdenkens. Von daher steht er immer in Gefahr, dem Menschen ein Maß an Bedeutung beizumessen, welches diesem nicht zusteht. Allerdings besteht diese Gefahr auch umgekehrt! Lassen wir uns von der Angst leiten, Gott der Ehre zu berauben, wenn wir einen Menschen wertschätzen, ihn gar ehren, dann wird dies dazu führen, dass wir dem Menschen die Bedeutung verweigern, die Gott ihm zuteilwerden lässt. Dies wird im nächsten Punkt, in dem es um die Macht der Menschenbilder geht, noch viel deutlicher werden.

    Ferner ergibt Theologie ohne Anthropologie keinen Sinn. Anders ausgedrückt: Ein Nachdenken über Gott ist nur dann sinnvoll, wenn ebenso über den Menschen nachdacht wird. Was würde ein Nachdenken über den Erlöser letztlich bringen, ohne sich mit dem Erlösten oder den zu Erlösenden zu beschäftigen? „Erlöser sein ist kein abstraktes Denkkonstrukt, sondern es steht immer in Bezug zu Jemand (Mensch) oder Etwas (Welt), der oder das erlöst wurde. Theologie ist also auch Anthropologie. Dies ist mit Joest dadurch zu erklären, „dass im Mittelpunkt der Theologie die Gott-Mensch-Beziehung steht.

    Hinzu kommt, dass ein Nachdenken über Gott gar nicht möglich ist, ohne über den Menschen nachzudenken! Theologie ist (vielfach) Lehre des Menschen – zumindest dort, wo biblische Aussagen „ausgelegt oder „interpretiert werden. In der reformatorischen Theologie führt dieses Verständnis zu der Definition Theologie als cognitio dei et hominis:

    Theologie ist demzufolge immer auch, und zwar wesentlich und nicht nur beiläufig oder zufällig, Rede vom Menschen. Erst wenn sie vom Menschen spricht, ist sie ganz bei ihrer Sache.

    Hieraus ergeben sich folgende Aufgaben für eine theologische Anthropologie: Entgegen dem Humanismus aufklärerischer Provenienz, der den Menschen in den Mittelpunkt gestellt hat, ist es die vordringliche Aufgabe der Anthropologie, den Menschen in den Blick zu nehmen, den Gott in den Mittelpunkt seines Blickfeldes gerückt hat – als sein Ebenbild. Theologische Anthropologie fragt somit nach dem Menschen in seiner Stellung vor Gott. Es geht dergestalt um das Offenbarwerden des Menschen als Geschöpf Gottes: Warum denkt der Mensch so, wie er denkt? Warum handelt er so, wie er handelt? Hier stellt die theologische Anthropologie ein wichtiges und sinnvolles Gegenüber hinsichtlich der humanistisch geprägten Anthropologie dar.

    Fakt ist ebenso: Um sich dem Geheimnis der Gott-Mensch-Beziehung, der Mensch-Mensch-Beziehung und der Beziehung des Menschen zu sich selber anzunähern, ist eine Präsenz der theologischen Anthropologie unverzichtbar. Um diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen, muss der Mensch von Gott, von seinem „Urdesign" als Ebenbild her angedacht werden. Ausgehend davon, versucht die christliche Anthropologie die Beschädigung des menschlichen Ebenbildes Gottes in Adam und seine Wiederherstellung in Christus in den Fokus zu nehmen. Dabei zieht sie wichtige Rückschlüsse für das tägliche Leben eines Christen. Dies tut sie im Zusammenspiel mit der Sündenlehre (Harmatiologie) und mit der Erlösungslehre (Soteriologie).

    Wenden wir uns nun weiteren Aspekten zu, welche das bisher Dargelegte weiter vertiefen und dadurch die Notwendigkeit einer theologischen Anthropologie begründen. Wir werden dabei feststellen, dass viele Lebensfragen, die Christen in ihren Gemeinden und ihrem Alltag bewegen, viel mehr mit anthropologischen Gesichtspunkten zu tun haben, als ihnen bewusst ist.

    3 Die Macht, die von Überzeugungen und Menschenbildern ausgeht

    »  Beobachtungen

    Dort wo Menschen in den unterschiedlichsten sozialen Kontexten aufeinandertreffen, bleiben selten Spannungen und Konflikte aus. Wenn Menschen zusammenkommen, dann entstehen positive wie auch negative Reibungspunkte, welche umgangssprachlich oft mit dem Begriff „es menschelt" belegt werden. Ein wesentlicher Ausgangspunkt für solche Reibungspunkte ist die Tatsache, dass das Zusammentreffen von Menschen – wie zum Beispiel in einer Gemeinde – von Dynamiken beeinflusst wird, die von Menschenbildern ausgehen und dies vielleicht mehr, als zunächst angenommen.

    Wenn hier von Menschenbildern die Rede ist, dann sind damit im Kern zwei Dinge gemeint: a.) Die Beurteilung des Wesens eines Menschen aufgrund subjektiver Beobachtungen und Erfahrungen mit ihm. b.) Die Vorstellung, wie das Wesen eines Menschen zu sein hat, damit er als persönlich annehmbar gilt. Beiden Überlegungen liegen freilich persönliche, familiäre und gesellschaftliche Prägungen zugrunde. Hinzu kommt, dass gerade unter Christen beim Nachdenken über das menschliche Wesen und in der Begegnung mit ihm die jeweilige (gemeindegeprägte) Vorstellung, wie Gott den Menschen sieht, eine wesentliche Rolle spielt.

    Der Punkt hier ist nun, dass Menschenbilder eine bestimmte Form von Macht ausüben. Damit ist gemeint, dass das Bild, die eigenen Vorstellungen, welche ich vom anderen habe, mich zu einem bestimmten Handeln verleiten. Anders ausgedrückt: Mein Menschenbild wird mich ein Stück weit darin beeinflussen, wie ich mit meinem Nächsten umgehe. Nicht jeder empfindet Sympathien für den anderen. Der Grund dafür liegt nicht immer darin, dass sich mein Nächster mir gegenüber schlecht verhält. Oft sind es die Gestik, die Art eines Menschen, die in mir Erinnerungen an einen anderen Menschen wachrufen, mit dem ich schlechte Erfahrungen gemacht habe und die dann in mir ein bestimmtes Bild von meinem Gegenüber entstehen lassen. Dieses Bild führt vielfach schon im Vorfeld zur Ablehnung, obwohl ich den Betreffenden nicht wirklich kenne. Oder: Teile ich z. B. eine bekannte Verallgemeinerung, nach der jeder Mensch immer zuerst auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist, so wird diese Vorstellung für den Aufbau einer Vertrauensbeziehung sehr hinderlich sein. Dadurch habe ich ein voreingenommenes Menschenbild, welches dazu führt, dass ich meinem Nächsten, der mit einem Anliegen zu mir kommt, grundsätzlich skeptisch begegne.

    Doch der wichtigste Gesichtspunkt im Rahmen einer theologischen Anthropologie ist die Macht der Menschenbilder, welche durch die Vorstellung, wie Gott den Menschen ansieht, ausgelöst wird. Aufgrund unterschiedlicher theologischer Prägung kursieren hier unter Christen die unterschiedlichsten Meinungen. Dahingehende anthropologische Überlegungen (Was ist der Mensch vor Gott?) verbergen sich sehr oft hinter den Fragestellungen: Was ist ein Nichtchrist? Wie haben wir ihn zu beurteilen? Was ist ein rechter Christ? Wie hat ein rechter Christ sich zu verhalten? Entspricht z. B. das Verhalten meines Glaubensbruders nicht meinen Überzeugungen, wie sich ein Christ zu verhalten hat, dann hat dies unweigerlich Auswirkungen auf mein Verhalten zu ihm. So kann es dadurch zu einer Abwertung meines Nächsten kommen, weil ich sein Verhalten z. B. als „nicht geistlich genug erachte. Hinzu kommt, dass mein persönliches (Menschen-) Bild von einem „rechten Christen auch Macht auf mich selber ausüben kann. Dahingehende Vorstellungen können dazu führen, dass ich mir selbst eine „geistliche" Messlatte an Vorgaben setze, die es hinsichtlich meiner Heiligung zu erfüllen gilt. Je mehr jedoch meine mir selber gesetzten Maßstäbe nicht mit meinem Leben als Christ übereinstimmen (weil ich eben auch versage), je mehr kann dies zu mangelnder Selbstannahme führen. Das Ergebnis ist: Ich liebe Gott, ich liebe meinen Nächsten, aber mich selbst verachte ich. Wenden wir uns an dieser Stelle einigen Beispielen aus der Gemeindepraxis zu, um die Problemlage noch etwas zu konkretisieren.

    4 Unser Selbstbild

    »  Beobachtungen

    Es vergeht praktisch keine Gebetsstunde, in der nicht ein Gläubiger oder eine Gläubige sich selber in auffälliger Art und Weise abwertet: „Oh Herr, ich bin ein Nichts, all mein Denken, mein Wollen haben keine Bedeutung vor dir. Ich bin ein Niemand, es geht nur allein um dich, oh Herr. Ich bin es nicht wert, dass ich vor dich trete! Gerade in der charismatischen Szene herrscht immer wieder ein großes Reinigungsbedürfnis vor: „Oh Herr, ich bin so schmutzig, als Braut deiner nicht würdig. Komm und schmücke mich, bereite mich zu, damit ich deiner würdig bin, wenn du kommst, um deine Braut zu holen. Um hier nicht falsch verstanden zu werden, möchte ich darauf hinweisen, dass es jedem frei steht, seinem Glauben Ausdruck zu verleihen und zu beten, wie es ihm gefällt. Zumeist stehen hinter solchen Gebeten die besten Absichten. Es soll dadurch Gott angezeigt werden, dass er an erster Stelle im Leben kommt, er die größte Bedeutung hat, sein Wille zählt. Man will Gott dadurch die Ehre geben! Ein solches Ansinnen ist redlich.

    »  Hintergründe

    Woher kommt ein solches Selbstbild, das mich als Mensch so entwertet? Dahinter steht in der Regel ein sehr düsteres Menschenbild, geprägt durch theologische Interpretationen der Aussagen des Paulus‘ im Römerbrief (Kap 3): „Es ist nichts Gutes im Menschen; der Mensch ist durch und durch schlecht. Kirchenväter wie Augustinus sowie in deren Folge viele Reformatoren haben ihrer Zeit das Bild von der völligen Verderbtheit des Menschen theologisch fruchtbar gemacht. Manche gingen sogar so weit, dass die dem gefallenen Menschen das „Personsein abgesprochen haben.

    Kein Geringerer als Luther hat den Menschen als Willenloser zum „Reittier Satans oder Gottes deklariert. Auch nach der Wiedergeburt bleibt der Mensch verderbt, seinem Wesen nach ganz Sünder. So werden auch Christen heute in ihren sonntäglichen Botschaften immer wieder mit sehr undifferenzierten, teilweise extremen Positionen konfrontiert. Zum einen – in vorwiegend evangelikal-konservativen Kreisen – wird die Gefallenheit und in deren Folgen die Verderbtheit des Menschen überbetont – vielfach mit der Zielsetzung, das Gewicht des Kreuzes und in Folge dessen die Gnade so hell als möglich erscheinen zu lassen. In charismatischen Kreisen findet die Heiligung des Christen eine sehr reduktive (einseitige) Akzentuierung. Ziel ist hier, aus einem guten Christen einen immer besseren und heiligeren Christen zu machen. Blickt nun ein Christ auf sein alltägliches Christsein, auf seine Unzulänglichkeiten, seine Fehler und Versagen so findet er sich in den oben genannten Lehransätzen bestätigt. Bei Ersterem kommt er zur Erkenntnis: „Ja, ich bin so verderbt, an mir ist nichts Gutes! Bei Letzterem kommt er zu der Erkenntnis: „Ja, ich bin noch so unheilig, ich bin noch unrein, an mir ist nichts schön."

    »  Aufgabe für eine theologische Anthropologie

    Wenn wir hier nun kurz inne halten und uns erneut die Frage – Wozu eine christliche Lehre vom Menschen? – vor Augen führen, dann ergeben sich vor dem Hintergrund des bisher Dargelegten mehrere Aufgaben für die theologische Anthropologie. Folgende Fragestellungen werden vor dem Hintergrund der übergeordneten anthropologischen Frage zur Gottesebenbildlichkeit zu erörtern sein: Entspricht dieses düstere Menschenbild und in seiner Folge dieses selbstentwertende Menschenbild wirklich dem biblischen Menschenbild? Ist es tatsächlich im Sinne Gottes, dass der Mensch sich selber so sehr „runterputzt", sich selber entwürdigt? Tun wird damit Gott wirklich einen Gefallen? Geben wir ihm dadurch wirklich die Ehre, in dem wir uns selber verachten? Ist der Mensch, der gemäß Palm 8 nur ein wenig geringer gemacht wurde als Gott selbst, wirklich nichts? Ist ein Kind Gottes ein Niemand? Ist der Mensch – übertrieben formuliert – etwa zu einem Wurm verkommen?

    5 Unser Bild vom Nichtchristen

    »  Beobachtungen

    Dieses düstere Menschenbild beherrscht nicht nur über weite Strecken die evangelikale Gemeindeszene hinsichtlich des Selbstbildes, sondern es hat auch Auswirkungen auf unser Bild vom Nichtchristen. Immer wieder fällt auf, dass Christen zur Welt respektive ihren Mitmenschen ein gebrochenes Verhältnis haben. Sichtbar wird dies vor allem dadurch, dass viele Gemeinden sich von der Welt regelrecht abgeschottet haben. Damit einher geht eine bestimmte Form von Abwertung des Nichtchristen hinsichtlich seines Denkens und Handelns: „Man hat als Christ nicht zu sitzen, wo die Spötter sitzen!" Von daher ist es auch nicht verwunderlich, wenn ein gewisses Schwarz-Weiß-Denken (Nichtchrist = Spötter) und das daraus resultierende Verhalten von Nichtchristen so gedeutet wird, dass sich Christen für etwas Besseres halten.

    »  Hintergründe

    Das Bild vom Nichtchristen ist vielfach negativ und beruht auf biblischen Aussagen, nach denen der Heide geistlich tot, unrein, verblendet und somit für das Verständnis von der Welt, für die wirklichen Lebensfragen und vor allem für geistliche Dinge unverständig ist. Damit einher geht die Ansicht, dass alles Weltliche unter der Macht Satans steht und somit für die Belange des Reiches Gottes nicht zu gebrauchen ist. Auch hier ist reformatorisches Gedankengut in uns verankert. Dadurch, dass der gefallene Mensch durch und durch verderbt ist, gibt es nichts, was er an Gutem zu tun vermag. Fragt man nach, wie es dann möglich sei, dass z. B. jemand einer alten Frau über die Straße hilft, so antwortet Luther mit Augustin: „Das sind alles glänzende Laster!" Will heißen: Die Motivation für eine solche Tat ist ausschließlich Eigennutz. Das Ergebnis solchen Denkens – und dies ist unlängst bekannt und in der Vergangenheit praktisch belegt – ist eine Abschottung der Gemeinde von der Welt und eine damit einhergehende Abwertung des Nichtchristen. Die Welt wird aufgeteilt in die, die Drinnen sind und die, die Draußen sind. Die Welt ist schwarzweiß. Nicht umsonst gelten Christen unter den sogenannten Heiden vielfach als besserwisserisch, arrogant und überheblich.

    »  Aufgabe für eine theologische Anthropologie

    Hier wäre u. a. zu fragen: In wie weit tragen die oben genannten Ansichten und Verhalten gegenüber einem Nichtchristen dem Wesen des Herzens Gottes wirklich Rechnung? Könnte es sein, dass unter Christen Menschenbilder vorherrschen, denen undifferenzierte theologische Prägungen zu Grunde liegen? Ist die Welt wirklich so schwarz-weiß?

    6 Unser Bild vom Superchristen

    »  Beobachtungen

    In der charismatisch-pfingstlichen Szene wird z. B. in der Verkündigung mehr oder weniger der Akzent auf den Sieg Christi gelegt. Daraus werden Schlussfolgerungen gezogen, nach denen es einem Christen unter Berufung auf den Sieg Christi eigentlich gut gehen müsste, ihm sein Leben leicht gelingen sollte – bis dahin, dass er es zum Wohlstand bringen könnte. Dahingehende Lehren gehen sogar so weit, dass eine Art „Superchrist propagiert wird, welcher ausgerüstet mit „Auferstehungskräften nie mehr krank sein kann. Um an diesen Annehmlichkeiten Anteil zu haben, gehe es darum, dass man die dahingehenden Verheißungen („Christus hat alle meine Probleme bereits überwunden") im Glauben nur anzunehmen brauche.⁸ Dieses Menschenbild, welches hier im Sinne eines wiedergeborenen Menschen propagiert wird, wird einen enormen Druck dort aufbauen, wo Zusagen und Ansprüche in keiner Relation zum täglichen Leben eines Gläubigen stehen. Die Folge daraus ist: Gelingt einem Christen seine Lebensgestaltung nicht, werden diesbezügliche Erwartungen nicht erfüllt, so wird er sich selber als Versager fühlen – mehr noch – es kann ihm vorgeworfen werden, nicht genug Glauben zu besitzen.⁹

    »  Hintergründe

    Hinter diesem Menschenbild verbergen sich (bewusst oder auch unbewusst) theologische Überzeugungen, was sich bei einem Menschen verändert, wenn er wiedergeboren wird. Im Hinblick auf unser oben genannten Ansichten spricht man in der theologischen Sprache von einer sogenannten „positionalen"¹⁰ Heiligung. Damit ist gemeint, dass beim Menschen im Augenblick seiner Wiedergeburt eine völlige Wesensveränderung stattfindet. Mit anderen Worten ist der Mensch durch die Wiedergeburt in einem Augenblick völlig wiederhergestellt, von seinen Fähigkeiten her dem paradiesischen Menschen ähnlich. Unter Berufung z. B. auf Röm 6,6 sind es Vertreter wie W. Nee, die der Ansicht sind, dass aufgrund der Tatsache, dass das Werk getan ist, ein Christ um nichts mehr bitten braucht. Er hat nur noch zu loben und zu danken.¹¹

    »  Aufgabe für die theologische Anthropologie

    Mit diesen Gedanken befinden wir uns mitten in der anthropologischen Fragestellung zur Ebenbildlichkeit Gottes. Hieraus ergeben sich folgende Fragen, welchen sich die theologische Anthropologie zu stellen hat: Wie ist der wiedergeborene Mensch im Gegensatz zum paradiesischen und gefallenen Menschen zu verstehen? Was hat sich mit der Wiedergeburt geändert? Wie gestaltet sich sein Ebenbild hin zu Gott? Was bedeutet es, wenn Paulus vom „Christus in mir" spricht (Gal 2,19-20)? Wie kann man sich dies vorstellen? Was kann der wiedergeborene Mensch? Welche Fähigkeiten hat er? Ist es so, dass bei der Wiedergeburt eine völlige Wesensveränderung stattfindet? Wird diese Ansicht dem biblischen Befund gerecht oder wird hier eher selektiv die Bibel gelesen?

    7 Unser neuplatonisches Menschenbild

    »  Beobachtungen

    Im Laufe meines Dienstes vor allem in pfingstlich-charismatischen Gemeinden wurde bzw. werde ich immer wieder mit Aussagen und Praktiken konfrontiert, die nicht wenig Verwunderung in mir wachrufen. So tritt in einer Diskussion um den Heiligungsprozess eines Christen ein bestimmtes Menschenbild in Erscheinung, nach dem der Mensch nicht nur aus drei Teilen – nämlich Geist, Seele und Leib – besteht, sondern dass diese Teile ebenso unabhängig voneinander funktionieren und deshalb – z. B. in der Seelsorge – getrennt voneinander zu beachten sind. Nicht selten höre ich Aussagen wie: „Das ist rein seelischer Natur. Damit ist das Verhalten eines z. B. stark gefühlsorientierten oder labilen oder auch eines zur Depression neigenden Menschen gemeint. Nicht wenig wird z. B. Krankheit als „rein geistliches Problem gedeutet. Darunter wird verstanden, dass Sünde die Ursache für Krankheit sei. Überhaupt werden körperliche Beschwerden schnell auf die sogenannte „geistliche Schiene (= Belastungen aus der Vergangenheit, Unversöhnlichkeit bis hin zu dämonischen Angriffen) geschoben und dort mit Gebet bzw. seelsorgerlichen Gesprächen – nach dem Motto: „wenn du vergibst, dann wirst du heil – zu bekämpfen versucht.

    Ferner kommt es mitunter zu unterschiedlichen Bewertungen der Relevanz des Verstandes, je nachdem ob er zum Bereich des Geistes oder zum Bereich der Seele zugeordnet wird.¹² Ebenso kommt es zu verschiedenen Beurteilungen in Bezug auf die Bedeutung des Geistes im Hinblick auf Seele und Leib. Vielfach wird unter Christen der Geist als gottgeführt angesehen (geistlicher Mensch). Wogegen die Seele und der Leib als „fleischlich gelten. Weil der Geist als Gottes Zugang angesehen wird, ist er es, der die anderen Bereiche des Menschen zu beherrschen hat. Die seelsorgerliche Praxis setzt hier dann beim Geist des Menschen an, ihn gilt es zu stärken, denn „wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit (2 Kor 3,17)!

    »  Hintergründe

    Diesem hier angeführten Menschenbild, welches unweigerlich zur Abwertung von Leib und Seele gegenüber dem Geist führt, liegt ein dualistisches Denken zugrunde, welches auf die griechische Philosophie – z. B. auf die Stoa und Platon – zurückzuführen ist. Damit wird angezeigt, dass das Christentum solch dualistisches Gedankengut, welches vor allen durch Augustins Neuplatonismus Einzug hielt, bis heute nicht überwunden hat. Ebenso sind gnostische Einflüsse (z. B. durch Marcion und Origenes) nicht auszuschließen. Im nichtkirchlichen Bereich schlägt sich dieses dualistische Denken z. B. im Denken von Descartes nieder¹³, der mit seiner Aussage „Ich denke, also bin ich der Vernunft respektive dem Verstand eine übergeordnete Stellung gegenüber der Seele und dem Leib zuteilte.¹⁴ Mit dieser Beobachtung befinden wir uns im Themenbereich der anthropologischen Topologie. Die Topologie beschäftigt sich mit dem Aufbau des Menschen im Sinne verschiedener räumlicher Bereiche. Das Ganze ist auch unter dem Fachbegriff „Schichtenlehre bekannt.¹⁵

    Hier gibt es verschiedene Modelle. Das in der pfingstlich-charismatischen Szene bzw. in ihrer Seelsorgepraxis populärste Modell ist das der sogenannten „Trichotomie" (Dreiteilung). Charles C. Ryrie erklärt das Trichotomie-Modell folgendermaßen:

    Die populäre Trichotomie … erhebt den Geist über die Seele und Geist und Seele zusammen über den Körper … Den Geist und alles Geistliche sollten wir unterstützen, Seele und Leib aber sind verwerflich.¹⁶

    Dieses Denkmodell, welches den Menschen in Leib, Seele und Geist einteilt, wurde unter den pietistischen und angelsächsischen Christen u. a. von Watchman Nee („Der geistliche Christ) „salonfähig gemacht.

    »  Aufgabe für eine theologische Anthropologie

    Wie bereits angemerkt, befinden wir uns hier im Themenbereich der anthropologischen Topologie. Die Arbeitsfragen für die theologische Anthropologie lauten wie folgt: Ist eine biblische Topologie denkbar? Anders gefragt: Entspricht die oben genannte Aufteilung des Menschen in jeweils voneinander unabhängige Bereiche dem biblisch-hebräischen Denken? Wie gestaltet sich ein ganzheitliches Menschenbild und welche praktischen Konsequenzen würde es mit sich bringen?

    8. Interdisziplinärer Dialog oder: Der Blick über den Tellerrand

    »  Beobachtungen

    Errungenschaften in der Hirnforschung (Neurowissenschaften)¹⁷ oder Biotechnologie ist ohne Frage ein wichtiger Bestandteil der Gegenwart. Gerade im Hinblick auf das Verstehen krankhafter Störungen im Nervenbereich des Menschen sind diese Fortschritte von großer Bedeutung. Die Neurowissenschaften haben nicht nur auf den medizinischen Bereich des Menschen Einfluss. Mit den neuen Erkenntnissen werden ebenso philosophische Schlussfolgerungen gezogen, welche ein neues Menschenbild entstehen lassen. Beide Seiten kann die christliche Anthropologie nicht länger ignorieren. Die Entdeckung, dass das menschliche Gehirn nicht statisch, sondern als ein dynamisches Gefüge neuronaler interaktiver Prozesse verstanden werden muss, begründet nicht nur ein neues Paradigma in der Hirnforschung.¹⁸ Vielmehr werden diese neuen Erkenntnisse unterschiedlich interpretiert. Zum einen ist es die sogenannte Kognitive Neurowissenschaft, welche ihre biologischen Ergebnisse anthropologisch deutet. Dabei hat sie den Anspruch, das traditionelle Menschenbild zu hinterfragen und neu zu bestimmen. So gilt die Neurowissenschaft für manche radikale Vertreter – wie z. B. Gerhard Roth – nach Kopernikus, Darwin und Freud als letzter großer Angriff auf das traditionelle Bild vom Menschen.¹⁹ Ihren Aussagen zur Folge sind die menschliche Freiheit, das Selbstbewusstsein, die Seele, die Gefühle, der menschliche Geist nicht existent, sondern lediglich das Ergebnis neuronaler Verschaltungen.²⁰ Vor allem die Frage nach der Freiheit des Menschen gilt in der Öffentlichkeit als die spannungsvollste und zugleich schmerzvollste Herausforderung der heutigen neurowissenschaftlichen Debatte.²¹ Hier werden bestimmte Ergebnisse verschiedener

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