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Soziale Gerechtigkeit - eine Bestandsaufnahme: Gemeinschaftsinitiative der Bertelsmann Stiftung, Heinz Nixdorf Stiftung und Ludwig-Erhard-Stiftung
Soziale Gerechtigkeit - eine Bestandsaufnahme: Gemeinschaftsinitiative der Bertelsmann Stiftung, Heinz Nixdorf Stiftung und Ludwig-Erhard-Stiftung
Soziale Gerechtigkeit - eine Bestandsaufnahme: Gemeinschaftsinitiative der Bertelsmann Stiftung, Heinz Nixdorf Stiftung und Ludwig-Erhard-Stiftung
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Soziale Gerechtigkeit - eine Bestandsaufnahme: Gemeinschaftsinitiative der Bertelsmann Stiftung, Heinz Nixdorf Stiftung und Ludwig-Erhard-Stiftung

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Was ist soziale Gerechtigkeit? Als Ergebnis eines gesellschaftlichen Verständigungsprozesses bleiben die Antworten darauf einem ständigen Bedeutungswandel unterworfen. Durch die politische Gestaltung zeitgemäßer sozialstaatlicher Institutionen müssen sie laufend neu gewonnen und gesichert werden. Auch der deutsche Sozialstaat befindet sich seit Mitte der 90er Jahre im Umbruch von einem alimentierenden Wohlfahrtsstaat hin zu einem aktivierenden Teilhabestaat. Anliegen des vorliegenden Bandes ist eine erste Zwischenbilanz und Bestandsaufnahme dieser sozialstaatlichen Umbruchsituation. Dabei geht es zunächst um die Ableitung eines dem neuen Paradigma angemessenen Verständnis sozialer Gerechtigkeit (Teil I). Daran anschließend werden die neueren Ergebnisse der empirischen Gerechtigkeitsforschung dargestellt (Teil II) und in einem international vergleichenden Kontext diskutiert und bewertet. Aus den international vergleichenden Analysen und Ergebnissen werden schließlich Elemente einer Strategie zur Transformation des deutschen Wohlfahrtsstaates in einen investiv orientierten Teilhabestaat abgeleitet (Teil III). Abschließend werden die Ergebnisse einer repräsentativen Parlamentarier-Umfrage zum Thema "Soziale Gerechtigkeit in Deutschland" dargestellt (Teil IV).
LanguageDeutsch
Release dateMar 1, 2013
ISBN9783867935005
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    Soziale Gerechtigkeit - eine Bestandsaufnahme - Verlag Bertelsmann Stiftung

    Stiftung

    Soziale Gerechtigkeit in Deutschland –

    Einleitung und Überblick

    Robert B. Vehrkamp

    Einleitung

    Neben konzeptionellen Beiträgen zur Diskussion unterschiedlicher Begriffe und Konzepte sozialer Gerechtigkeit enthält der vorliegende Band empirische und international vergleichende Beiträge und Analysen und führt diese zu einer Bestandsaufnahme sozialer Gerechtigkeit in Deutschland zusammen.

    Während der erste Teil drei Beiträge zu Begriffen, Konzepten und Definitionen sozialer Gerechtigkeit umfasst, geht es im zweiten Teil um empirische Analysen zu ausgewählten Bereichen und Teilaspekten sozialer Gerechtigkeit. Der abschließende dritte Teil widmet sich dem internationalen Vergleich sozialer Gerechtigkeit und leitet daraus empirisch valide Strategiemuster und Umbauszenarien für den deutschen Sozialstaat ab. Im Anhang des Bandes wurde ergänzend die Dokumentation einer Parlamentarier-Umfrage zum Verständnis sozialer Gerechtigkeit bei deutschen Mandatsträgern aus Bundestag, Landtagen und dem Europäischen Parlament aufgenommen, aus der sich interessante Aspekte politischer Zustimmungs- und Mehrheitsfähigkeit sozialstaatlicher Umbaustrategien ergeben.

    Was ist soziale Gerechtigkeit?

    In seinem einführenden Beitrag analysiert Viktor J. Vanberg zunächst Verständnis, Idee und Kritik der sozialen Gerechtigkeit im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft. Im Mittelpunkt steht dabei die potenzielle und tatsächliche Spannung zwischen dem spontanen Gerechtigkeitsempfinden der Menschen als Resultat allgemeiner Gerechtigkeitsvorstellungen und marktwirtschaftlichen Funktionsprinzipien. Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft versucht, gerade diese Spannung zwischen dem Bedürfnis der Menschen nach sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit und den Funktionsprinzipien einer Marktwirtschaft aufzulösen. Als »Integrationsformel« oder »irenische Formel« (Müller-Armack) werden marktwirtschaftliche Effizienz und soziale Gerechtigkeit im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft miteinander verbunden. Durch marktkonforme Interventionen und staatlich organisierte Einkommensumverteilung soll das Marktsystem sozial gerecht gestaltet werden. Müller-Armack hoffte, damit die Marktwirtschaft auch für breiteste Bevölkerungsschichten als zugleich sozial gerechte und wirtschaftlich effiziente Wirtschaftsordnung attraktiv zu machen.

    Gerade mit diesem Anspruch Müller-Armacks geht Vanberg jedoch kritisch ins Gericht. Er bezweifelt aus heutiger Sicht die allein Frieden stiftende und Integration fördernde Wirkung sozialpolitischer Interventionen in den Marktprozess. Vielmehr zeigt die Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland, dass sozialpolitisch motivierte Interventionen des Staates häufig als Einfallstor für Privilegien suchende Interessengruppen missbraucht werden. Darüber hinaus weist Vanberg darauf hin, dass die Marktwirtschaft kein rein technisches, ethisch neutrales und politisch beliebig ausbeutbares Instrument effizienter Wohlstandsproduktion ist: »Die Vorstellung, man könne die Produktivität der Marktwirtschaft nutzen und den erwirtschafteten Wohlstand nach politisch definierten Kriterien sozialer Gerechtigkeit verteilen, ist ebenso illusorisch wie die Vorstellung, ein sportlicher Wettkampf könne seinen eigentlichen Sinn bewahren, wenn am Ende nach politisch definierten Gerechtigkeitskriterien entschieden würde, wer gewonnen und wer verloren hat« (Seite 42).

    Als privilegienfreie Ordnung von Rechtsgleichen ist der Gerechtigkeitsmaßstab der Marktwirtschaft die Verfahrensgerechtigkeit, definiert als Gerechtigkeit der Spielregeln und des Spielverlaufs. Die Herstellung politisch-normativ definierter Verteilungsgerechtigkeit ist damit nur sehr eingeschränkt zu verbinden und stets in der Gefahr, die Gerechtigkeitsmaßstäbe des Marktes und seine Funktionsfähigkeit als effizientes Tauschspiel zu verletzen. Nötig ist deshalb, einen der Marktwirtschaft angemessenen Gerechtigkeitsmaßstab zu finden und für diesen bei möglichst vielen Menschen um Verständnis und Akzeptanz zu werben.

    Wie ein solches modernes Verständnis sozialer Gerechtigkeit aussehen könnte und mit welchen Strategien dafür im gesellschaftlichen Gerechtigkeitsdiskurs Verständnis und Akzeptanz erzeugt werden können, zeigen exemplarisch die Beiträge von Penz/Priddat und Leisering.

    In ihrem Beitrag über Ideen und Konzepte sozialer Gerechtigkeit und ihre Bedeutung für die neueren Entwicklungen im deutschen Sozialstaat setzen Reinhard Penz und Birger P. Priddat der Spannung zwischen markteffizienter Tauschgerechtigkeit und sozialpolitischer Verteilungsgerechtigkeit ihr Leitbild des aktivierenden Sozialstaats entgegen. Ausgangspunkt ist dabei die Diagnose, dass der alimentierende Sozialstaat alter Art bei der Bekämpfung sozialer Exklusion als Kern der neuen sozialen Frage an systematische Grenzen stößt. Eine zukunftsfähige Sozialpolitik müsse deshalb vom Modus der Alimentation auf den Modus der Investition umgestellt werden. Für Penz und Priddat bedeutet das vor allem die radikale Neuausrichtung des staatlichen Transfersystems für Zwecke der Human- und Sozialkapitalbildung: Inklusion durch Bildung anstatt Kompensation für Exklusion. Statt quantitativer Ergebnisverteilungsgrößen wie Einkommen und Vermögen sind qualitative Ausgangsverteilungsgrößen wie Chancen und Teilhabe dabei die zentralen Maßstäbe sozialer Gerechtigkeit.

    Mit ihrem Konzept der Teilhabegerechtigkeit als normativem Kern eines aktivierenden Sozialstaats verbinden Penz und Priddat die Prinzipien der ausgleichenden kommutativen (Tausch-)Gerechtigkeit mit denen der austeilenden, distributiven (Verteilungs-) Gerechtigkeit. Erst die Verbindung beider Prinzipien konstituiert soziale Gerechtigkeit in politisch organisierten Gemeinwesen. Darüber hinaus verbindet sie die Sicherung bürgerlicher Freiheitsrechte mit der Sicherung sozialer Teilhaberechte.

    Sozialpolitisch bedeutet dies gegenüber dem Status quo einen weitreichenden Paradigmen- und Strategiewechsel: Statt alimentierender Sozialtransfers finanziert der Staat bildungs- und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen zur Umverteilung ungleich verteilter Ausgangschancen. Damit vermeiden Penz und Priddat von vornherein, das liberale Paradigma der Chancengerechtigkeit gegen das sozialstaatliche Paradigma der Verteilungsgerechtigkeit auszuspielen. Die staatliche Umverteilung legitimiert sich durch ihre Verwendung zur Herstellung gerechter Teilhabechancen als Kern der Chancengerechtigkeit. Der aktivierende Sozialstaat ist damit kein Nachtwächterstaat, sondern ein starker Staat, der sozialen Ausgleich als Gewährleistung von Teilhabechancen versteht. Praktisch wird damit die Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik zum Kern moderner Sozialpolitik: »Vorrangig ist die Herstellung von Chancengleichheit durch den Aufbau von Humankapital und die Ausrichtung der Steuer- und Transfersysteme auf das Fördern und Fordern von Erwerbstätigkeit« (Seite 62).

    Ob und wie ein solcher Paradigmen- und Strategiewechsel zustimmungs- und mehrheitsfähig werden kann, untersucht Lutz Leisering in seinem Beitrag über die Mechanismen und Strategien gesellschaftlicher Gerechtigkeitsdiskurse im Umbau des deutschen Sozialstaats. Normative Diskurse – so die Ausgangsthese von Leisering – sind wirkungsmächtige, d. h. fördernde oder hemmende, aber in jedem Fall mitprägende Faktoren im Umbau des Sozialstaats. Die deutsche Reform- und Umbauschwäche der vergangenen Jahre analysiert Leisering als politische Diskursschwäche. Ein erfolgreiches Umbauszenario für den deutschen Sozialstaat setzt deshalb eine erfolgreiche Diskursstrategie voraus, die Innovationen und Reformen nicht nur ökonomisch und fiskalisch rationalisiert, sondern durch die Formulierung neuer und zustimmungsfähiger Paradigmen normativ legitimiert und so die Menschen für den Umbau gewinnt und mobilisiert.

    In der Vergangenheit wurde der bundesdeutsche Sozialstaatsdiskurs vor allem durch die Paradigmen der Bedarfs- und Leistungsgerechtigkeit geprägt. Diese traditionellen Paradigmen sozialer Gerechtigkeit werden jedoch seit einigen Jahren überlagert von einer neuen Gerechtigkeitssemantik, in deren Mittelpunkt das Konzept der Teilhabe steht. Der neuere Diskurs über den Umbau des bundesdeutschen Sozialstaats zeichnet sich durch eine neue Gerechtigkeitsvorstellung aus, die sich als Teilhabegerechtigkeit von herkömmlicher Bedarfsgerechtigkeit als etatistischer Zuteilung unterscheidet und mehr auf Zivilgesellschaft, Partizipation und Menschenrechte setzt. Obwohl der Begriff der Teilhabegerechtigkeit noch ein sehr vager Begriff ist, bescheinigt Leisering ihm bereits jetzt semantisches Potenzial für den anstehenden Umbau des deutschen Sozialstaats: »Man könnte (mit Blick auf den Begriff der Teilhabegerechtigkeit, RV) eher von einer neuen politischen Semantik als von einem klar konturierten Paradigma reden. In einem auf Umbau zielenden normativen Wohlfahrtsstaatsdiskurs kann dieser Mangel des neuen Gerechtigkeitsbegriffs aber auch eine Stärke sein« (Seite 91).

    Als normative Diskursstrategien im Umbau des deutschen Sozialstaats beschreibt Leisering drei Strategien:

    – die Strategie der Rekombination, die darauf setzt, traditionell favorisierte Werte zu erhalten und diese lediglich neu zu gewichten und neu aufeinander zu beziehen

    – die Strategie der Re-Referentialisierung, die ebenfalls nicht den normativen Gehalt des vorherrschenden Werteparadigmas verändern will, sondern lediglich seine Adressatengruppen und/oder seine Referenzsysteme

    – die Strategie der Semantikpolitik, nach der die politische Wirkung einer Wertidee sich vor allem aus der zu ihrer Vermittlung gewählten Semantik bestimmt.

    Mit Blick auf das neue Paradigma der Teilhabegerechtigkeit ergibt sich daraus sein diskursstrategisches Potenzial, den Umbau des deutschen Sozialstaats zu beschreiben und mitzuprägen: Aus der Rekombination und Re-Referentialisierung der traditionellen Konzepte der Chancen- und Verteilungsgerechtigkeit ergibt sich eine neue Sozialstaats- und Gerechtigkeitssemantik, die neue Koalitionschancen zwischen unterschiedlichen politischen Lagern und Ideologien eröffnet, die Teilhabe in einer neuen und verbindenden Weise auf ihre jeweils unterschiedlichen Referenzsysteme und -werte beziehen können. Deshalb diagnostiziert Leisering für sozialstaatliche Umbauszenarien, die Teilhabegerechtigkeit als zentrale normative Orientierung beinhalten, die breiteste Basis für eine zustimmungs- und mehrheitsfähige politische Umsetzung.

    Teilbereiche sozialer Gerechtigkeit

    Die Trägheit normativer Diskurse und das Beharrungsvermögen traditioneller Werteinstellungen bedingen, dass die Formulierung zustimmungsfähiger Umbauszenarien für den deutschen Sozialstaat die bei den Menschen vorhandenen Einstellungen zur sozialen Gerechtigkeit berücksichtigt. Aufgrund der Trägheit der grundlegenden Gerechtigkeitsorientierungen hat die empirische Gerechtigkeitsforschung in den letzten Jahren auch keine dramatischen Veränderungen festgestellt, sondern einen lediglich leichten Rückgang egalitärer Vorstellungen ausgemacht. Gleichzeitig nehmen eher individualistische, an liberalen Werten orientierte Gerechtigkeitsvorstellungen leicht zu.

    Einzelbefunde dazu liefert der Zweig der empirischen Gerechtigkeitsforschung, der sich der Einstellungsanalyse widmet und deren Ergebnisse zur Einkommensverteilungs- und Steuergerechtigkeit in dem Beitrag von Stefan Liebig dargestellt und analysiert werden.

    Bei der Gerechtigkeit der Verteilung der Einkommen zeigt sich, dass am oberen Ende der gesellschaftlichen Einkommenshierarchie deutlich stärkere Ungerechtigkeiten wahrgenommen werden als am unteren Ende. West- und Ostdeutsche stimmen darin überein, dass ein Vorstandsvorsitzender in Deutschland ein Einkommen erhält, das weit über dem liegt, was ihm gerechterweise zusteht. Demgegenüber erhält nach Meinung der Deutschen ein ungelernter Arbeiter weniger, als ihm gerechterweise zusteht. Die Intensität des Ungerechtigkeitsempfindens ist jedoch mit Blick auf die Vorstandsgehälter nahezu dreimal so hoch wie bei den Entlohnungen der ungelernten Arbeiter.

    Bei der Steuergerechtigkeit zeigt sich, dass sich gerade bei Beziehern höherer Einkommen kein ausgeprägtes Ungerechtigkeitsempfinden hinsichtlich ihrer eigenen Steuerlast artikuliert. Wer in Deutschland zur Gruppe der Spitzenverdiener gehört, beurteilt seine Steuerlast deutlich weniger ungerecht, als dies Bezieher niedriger Einkommen tun. Vor allem die Bezieher mittlerer Einkommen empfinden in Deutschland ihre Steuerlast als vergleichsweise ungerecht. Liebig zieht daraus den Schluss, »dass es Bezieher höherer Einkommen offenbar durchaus als ihre ›moralische Pflicht‹ ansehen, ihren Anteil an der Finanzierung öffentlicher Güter beizutragen« (Seite 125).

    Im subjektiven Gerechtigkeitsempfinden der Menschen spiegeln sich neben Werthaltungen und Einstellungen auch die empirisch messbaren Verteilungsergebnisse und -zustände einer Gesellschaft, die dann vor dem Hintergrund normativer Grundeinstellungen als mehr oder weniger gerecht beurteilt und wahrgenommen werden. Ein besonders umstrittener Teilaspekt sozialer Gerechtigkeit ist vor dem Hintergrund des demographischen Wandels in Deutschland die Generationengerechtigkeit, die im Mittelpunkt des Beitrags von Richard Hauser steht. Hauser wählt dabei einen umfassenden Ansatz zur empirischen Bestimmung von Generationengerechtigkeit, der über die verengte Diskussion der Generationengerechtigkeit im Kontext der umlagefinanzierten Rentenversicherung hinausgeht. Dabei zeigt sich, dass die generationenspezifischen Forderungen und Verbindlichkeiten aus dem Umlagesystem der Rentenversicherung nur einen Teilaspekt des Generationenerbes spiegeln, der zwar den politischen Diskurs und die Wahrnehmung der Bevölkerung dominiert, nicht jedoch die Gesamtbilanz eines umfassend definierten Generationenerbes. Berücksichtigt man darüber hinaus auch sonstige Finanz- und Sachvermögen sowie generationenspezifische Finanzierung und Bildung von Humanvermögen, ergibt sich ein deutlicher differenziertes Bild: »Unter Berücksichtigung dieser akkumulierten Bildungsausgaben wird das Generationenerbe, das die heute alte Generation hinterlassen wird, nicht nur absolut größer sein als jenes, das sie selbst empfangen hat, sondern es dürfte auch ein größeres Vielfaches des Bruttoinlandsproduktes betragen« (Seite 165).

    Ergänzt wird diese Längsschnittsperspektive einer umfassenderen Generationenbilanzierung in dem Beitrag von Hauser durch eine Analyse der Generationengerechtigkeit aus der Querschnittsperspektive, die die relativen Wohlstandspositionen der unterschiedlichen Generationen im Zeitverlauf fokussiert. Für Deutschland ergibt sich dabei eine in den drei Dekaden von 1973 bis 2003 zunehmende Abweichung von einer bedarfsgerechten Einkommensverteilung zwischen den Generationen zulasten der jungen Generation: »Unterscheidet man in der mittleren Generation die Haushalte mit Kindern von den Haushalten ohne Kinder, dann zeigt sich überdies eine deutliche Spaltung zuungunsten der Haushalte mit Kindern. Die Verschiebung zulasten der jungen Generation trifft eben nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Eltern« (Seite 155).

    Diese letztlich aus Einkommensungleichheiten resultierende Form der Generationenungerechtigkeit wird durch die Einzelbefunde zur Einkommensverteilung im Beitrag von Irene Becker bestätigt. Im Gesamtbefund stellt Becker dabei fest, dass in den vergangenen Jahren die Ungleichheit der Markteinkommen in Deutschland keineswegs abgenommen, sondern eher mäßig zugenommen hat. In den Einzelbefunden zeigt sich das exemplarisch daran,

    – dass in der Verteilung der Arbeitnehmer(innen) nach relativen Lohnpositionen sowohl der Niedriglohnsektor als auch die Hochlohnklasse zwischen 1998 und 2003 relativ zugenommen haben;

    – dass gemessen am Nettoeinkommen aller Steuerpflichtigen das Durchschnittseinkommen der oberen zehn Prozent (fünf Prozent) im Jahr 2003 etwa das Vierzigfache (Hundertfache) des Durchschnittseinkommens der untersten zehn Prozent (fünf Prozent) erreicht;

    – dass in der Summe aller Einkommen die Einkommen der oberen fünf Prozent das Sieben- bis Elffache der Einkommenssumme der untersten fünf Prozent der Bevölkerung ausmachen.

    Darüber hinaus wird der Befund abnehmender Bedarfsgerechtigkeit zulasten der jungen Generation dadurch bestätigt, dass Alleinerziehende und ihre Kinder ein nach wie vor besonders hohes Armutsrisiko tragen, das zwischen 1998 und 2003 nochmals gestiegen ist: Fast die Hälfte dieser Gruppe ist inzwischen von relativer Einkommensarmut betroffen.

    Die Vermeidung von Einkommensarmut stellt nach vorherrschender Meinung auch eine Voraussetzung für effektive sozialinvestive Strategien dar, weil letztlich Verletzungen der Bedarfsgerechtigkeit durch Armut und Ausgrenzung auch die Ungleichheit der Chancen verschärfen und soziale Teilhabe von vornherein verhindern. Auch eine sozialinvestive Strategie des sozialstaatlichen Umbaus setzt deshalb ein gesellschaftlich vereinbartes Mindestmaß an Verteilungsgerechtigkeit bereits voraus. Neben den Aspekten der Einkommensverteilung entscheidet über Verteilung von Teilhabechancen auch die Vermögensverteilung, deren Entwicklung zwischen 1993 und 2003 im Mittelpunkt des Beitrags von Peter Westerheide steht.

    Betrachtet wird dabei die Entwicklung der materiellen Vermögensverteilung, also besonders des Geld- und Immobilienvermögens, des Betriebsvermögens sowie der Ansprüche aus der gesetzlichen und betrieblichen Altersversorgung.

    Beim privaten Geld- und Immobilienvermögen zeigt sich zunächst eine sehr ungleiche Verteilung: Während die Haushalte in der unteren Hälfte der Vermögensverteilung über etwas weniger als vier Prozent des gesamten Nettovermögens verfügen, halten die 20 Prozent vermögensstärksten Haushalte rund zwei Drittel des gesamten privaten Geld- und Immobilienvermögens. Im Zeitverlauf zeigt sich darüber hinaus, dass diese Vermögensverteilung im Zeitraum zwischen 1993 und 2003 in Westdeutschland etwas ungleichmäßiger geworden ist, in Ostdeutschland dagegen etwas gleichmäßiger. Ursache dafür ist neben Änderungen der Alters- und Haushaltsgrößenstruktur vor allem die unterschiedliche Wertentwicklung der Vermögensformen im Zeitverlauf: Weil Haushalte mit höheren Vermögen üblicherweise auch höhere Anteile ihres Vermögens in Aktien und Wertpapieren halten, hat deren relativ zu anderen Vermögensformen bessere Wertentwicklung den Grad der Vermögensungleichheit zwischen 1993 und 2003 erhöht.

    Während sich die Vermögensungleichheit durch die Einbeziehung des ebenfalls sehr ungleich verteilten betrieblichen Vermögens nur unwesentlich verändert, verhält es sich mit den Ansprüchen aus der gesetzlichen Rentenversicherung anders: »Sie sind weitaus gleichmäßiger verteilt als die materiellen Vermögen und haben – auch im Vergleich zu den durchschnittlichen materiellen Vermögen – erheblichen Umfang: Ihre Einbeziehung nivelliert die interpersonelle bzw. die haushaltsbezogene Vermögensverteilung daher in erheblichem Maße« (Seite 228).

    Soziale Gerechtigkeit im internationalen Vergleich

    Zum Versuch einer Bestandsaufnahme sozialer Gerechtigkeit in Deutschland gehört auch die international vergleichende Gerechtigkeitsanalyse, der sich die Beiträge von Wolfgang Merkel und Diether Döring widmen. Während es in dem Beitrag von Merkel zunächst um die Ergebnisse und Implikationen eines indikatorengestützten empirischen Rankings sozialer Gerechtigkeit im OECD-Vergleich geht, steht im Beitrag von Döring die empirisch fundierte Ableitung Erfolg versprechender sozialstaatlicher Strategien aus einem europäischen Neunländervergleich im Mittelpunkt.

    Das empirische Ranking sozialer Gerechtigkeit im OECD-Ländervergleich betrachtet für die fünf Ländergruppen der angelsächsischen, skandinavischen, kontinentalen, südeuropäischen und mittelosteuropäischen Wohlfahrtsstaaten jeweils sieben verschiedene Indikatoren sozialer Gerechtigkeit: Neben den Armutsquoten fließen in das Ranking die Bildungsausgaben, die Inklusion am Arbeitsmarkt, die Sozialausgaben, die Einkommensverteilung sowie Indikatoren der Generationen- und Geschlechtergerechtigkeit ein. In der Gesamtschau eines ungewichteten Gesamtindex ergibt sich dabei als Rangfolge, dass die skandinavischen Länder mit großem Abstand vor den fünf kontinentaleuropäischen Ländern (inkl. Deutschland) führen, gefolgt von den angelsächsischen Ländern mit nur geringem Vorsprung vor den ostmitteleuropäischen Ländern, während die südeuropäischen Länder abgeschlagen auf dem letzten Rang landen.

    Mit Blick auf die Interpretation vor allem der deutschen Ergebnisse kommt Merkel zu dem Ergebnis, dass die zentrale und schwerwiegende Gerechtigkeitslücke der kontinentalen Wohlfahrtsstaaten in ihrer anhaltend schlechten Bilanz auf dem Arbeitsmarkt liegt. Darüber hinaus zeigt sich die krasse Fehlallokation sozialstaatlicher Ressourcen in den vergleichsweise höchsten sozialkonsumptiven Ausgaben, während die kontinentaleuropäischen Länder bei den sozialinvestiven Ausgaben gerade noch vor Süd- und Ostmitteleuropa liegen.

    In der Gesamtbewertung leitet Merkel aus den Ergebnissen des Rankings ab, »nicht das angelsächsische Modell als Vorbild für die Sozialstaatsreform des kontinentalen Europa zu betrachten. Ich will vielmehr abschließend argumentieren, dass die normative, ökonomische und politische Logik der Institutionen des aktivierenden skandinavischen Wohlfahrtsstaats, diese zu einem auch für den Kontinent beachtenswerten Reformmodell machen« (Seite 250). Operativ sollen dabei aktivierende Elemente in einen stärker steuerfinanzierten und stärker universalistischen Wohlfahrtsstaat skandinavischen Musters integriert werden: »Die erfolgreiche aktivierende Arbeitsmarktpolitik Dänemarks mit ihren verschärften Zumutbarkeitsklauseln zeigt, wie erfolgreich dies geschehen kann, ohne dabei soziale Gerechtigkeitsgüter zu verletzen« (ebenda).

    Diese empirischen Ergebnisse und sozialpolitischen Schlussfolgerungen werden in vielen Facetten durch die Ergebnisse des empirischen Neunländervergleichs unterschiedlicher sozialpolitischer Strategien von Döring gestützt. Aus seinem Vergleich der Beschäftigungswirkung unterschiedlicher sozialstaatlicher Strategien leitet Döring ein Muster beschäftigungspolitisch erfolgreicher Sozialstaatsstrategien ab, bestehend aus der Kombination folgender sechs Strategieelemente:

    – einen überdurchschnittlichen Anteil an steuerlicher bzw. steuerähnlicher Finanzierung;

    – die Beimischung starker Kapitaldeckungskomponenten in der Alterssicherung;

    – die gezielte Begünstigung von Niedrigeinkommen bei monetären Leistungen des sozialen Sicherungssystems;

    – die Tendenz zur Gleichbehandlung unterschiedlicher Erwerbsformen, insbesondere von selbstständigen und abhängigen Tätigkeiten;

    – überdurchschnittliche Anstrengungen in Aus- und Weiterbildung;

    – überdurchschnittliche Anstrengungen zugunsten der Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und privatem Leben (u. a. Betreuungsangebot).

    Wichtig ist Döring dabei, dass erfolgreiche Länder nicht einzelne der angesprochenen Strategieelemente isoliert aufweisen, sondern gerade dadurch gekennzeichnet sind, die Strategieelemente in Kombination umzusetzen. Der daraus resultierende Reformbedarf für Deutschland bleibt vergleichsweise groß: »Der bisherige deutsche Sozialstaat liegt unglücklicherweise bei keinem der genannten sechs Elemente gut im Rennen« (Seite 277).

    Ausblick

    Mit Blick auf die politische Durchsetzbarkeit einer am Leitbild des aktivierenden Teilhabestaats orientierten Sozialstaatsreform in Deutschland ergeben sich aus den im Anhang dargestellten Ergebnissen einer repräsentativen Parlamentarier-Umfrage zum Verständnis sozialer Gerechtigkeit ergänzend einige interessante Aspekte:

    – Befragt nach ihrem Verständnis sozialer Gerechtigkeit, steht für eine deutliche Mehrheit (55 Prozent) aller Parlamentarier die Chancen- und Teilhabegerechtigkeit im Mittelpunkt. Am stärksten ausgeprägt ist das Verständnis sozialer Gerechtigkeit als Chancen- und Teilhabegerechtigkeit bei der jungen Politikergeneration, in der fast zwei Drittel aller Befragten (65 Prozent) soziale Gerechtigkeit im Sinne von Chancen- und Teilhabegerechtigkeit definieren. Chancengerechtigkeit bei der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt sowie die Teilhabe aller am gesellschaftlichen und sozialen Leben sind damit aus Sicht der Politiker die wichtigsten Grundpfeiler einer sozial gerechten Gesellschaft.

    – 70 Prozent aller befragten Parlamentarier teilen die Auffassung, dass die sozialen Sicherungssysteme stärker über Steuern finanziert werden sollten. Besonders ausgeprägt ist diese Meinung wiederum bei den jüngeren Mandatsträgern: Drei von vier der bis 35-Jährigen treten für eine stärkere Steuerfinanzierung ein – gegenüber zwei von drei bei den älteren Politikern.

    – Mehr als drei Viertel (78 Prozent) aller jüngeren Parlamentarier halten das deutsche Rentenversicherungssystem für nicht generationengerecht. Auch bei der mittleren Altersgruppe und bei den ab 50-Jährigen wird diese Einschätzung mehrheitlich geteilt.

    – Befragt danach, welches entwickelte Industrieland ihren Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit am nächsten kommt, sieht eine Mehrheit von 55 Prozent aller Politiker in den skandinavischen Ländern ihr Vorbild sozialer Gerechtigkeit. Dagegen halten nur noch 15 Prozent der Parlamentarier Deutschland für vorbildlich, wobei sich die jüngere Generation (6 Prozent) noch deutlich weniger am deutschen Sozialstaatsmodell orientiert als die ältere Politikergeneration (19 Prozent).

    Daraus ergibt sich, dass eine sozialpolitische Reformstrategie, die auf Teilhabe aller durch Aktivierung im Rahmen eines stärker steuerfinanzierten und universalistischen Sozialstaats setzt, zur Realisierung von mehr sozialer Gerechtigkeit in Deutschland nicht nur konzeptionell gut begründbar und empirisch Erfolg versprechend ist. Darüber hinaus erweist sie sich auch als gesellschaftlich zustimmungsfähig und politisch mehrheitsfähig. Das Ziel, mehr soziale Gerechtigkeit durch Teilhabe aller am wirtschaftlichen, sozialen und politischen Leben zu erreichen, wird damit zur Leitidee und zum Prüfstein für alle Konzepte und Vorschläge zur Gestaltung eines zukunftsfähigen deutschen Sozialstaats.

    I. Was ist soziale Gerechtigkeit?

    Marktwirtschaft und Gerechtigkeit –

    Idee und Kritik der sozialen Gerechtigkeit

    im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft

    Viktor J. Vanberg

    1 Einleitung

    Dass es in einem sozialen Gemeinwesen gerecht zugehen sollte, ist allgemein als Selbstverständlichkeit anerkannt. Kontroversen über Gerechtigkeitsfragen gibt es nicht, weil die einen sich für gerechte Verhältnisse aussprechen, während die anderen meinen, es solle doch besser ungerecht zugehen. Wenn Kontroversen entstehen, so typischerweise deshalb, weil die Frage umstritten ist, was denn – in einem konkreten Fall oder auch allgemein – als gerecht gelten kann. Um mit Konfliktfällen umzugehen, haben sich in geordneten Gemeinwesen Verfahren herausgebildet, mit denen in einer von allen Beteiligten anerkannten Weise entschieden werden kann, was in den betreffenden Gemeinwesen als gerecht angesehen werden soll. Gerichte schlichten Kontroversen darüber, was in konkreten Fällen als gerecht anzusehen ist, indem sie auf die Regeln oder Prinzipien Bezug nehmen, die in einem Gemeinwesen allgemeine Anerkennung beanspruchen können. Kontroversen darüber, welche Regeln in einem Gemeinwesen als gerecht anzuerkennen sind, werden im politischen Prozess der Gesetzgebung geschlichtet, in dem – sei es unter Berufung auf stillschweigend anerkannte fundamentale Prinzipien der Gerechtigkeit, sei es unter Hinweis auf die erwartbaren Konsequenzen – abgewogen wird, welche unter möglichen konkurrierenden Regeln am ehesten allgemeine Anerkennung verdient.

    Im gerichtlichen Schlichtungswesen ist es eine Selbstverständlichkeit, dass die spontanen Gerechtigkeitsempfindungen der Menschen nicht der letzte Maßstab dafür sein können, was als gerecht zu gelten hat. Die durch Gerichte zu klärenden Kontroversen entstehen ja nicht zuletzt deshalb, weil die Gerechtigkeitsempfindungen der beteiligten Parteien in Widerspruch zueinander stehen und den Gerichten die Aufgabe zufällt zu klären, welche der widerstreitenden Auffassungen im Sinne der im betreffenden Gemeinwesen anerkannten allgemeinen

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