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Tagebücher und Briefe 1938-1949: Mit einem Vorwort von Robert Schindel
Tagebücher und Briefe 1938-1949: Mit einem Vorwort von Robert Schindel
Tagebücher und Briefe 1938-1949: Mit einem Vorwort von Robert Schindel
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Tagebücher und Briefe 1938-1949: Mit einem Vorwort von Robert Schindel

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Die ergreifenden Aufzeichnungen einer jüdischen Krankenschwester im Wien der NS-Zeit: Während Ehemann und Kinder 1939 rechtzeitig in die USA flüchten können, bleibt Mignon Langnas mit ihren gebrechlichen Eltern in Wien zurück. In ihren Briefen und Tagebüchern schildert sie auf eindringliche Weise den Alltag der jüdischen Bevölkerung unter dem Nazi-Regime und während des Krieges.
Mit außergewöhnlichen Fotografien versehen, öffnet dieses Buch einen einmaligen Zugang zu einem der schrecklichsten Kapitel unserer Geschichte.
LanguageDeutsch
PublisherHaymon Verlag
Release dateJun 19, 2013
ISBN9783709976425
Tagebücher und Briefe 1938-1949: Mit einem Vorwort von Robert Schindel

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    Tagebücher und Briefe 1938-1949 - Mignon Langnas

    HAYMON verlag

    Innsbruck-Wien 2013

    www.haymonverlag.at

    Diese E-Book-Ausgabe basiert auf der gekürzten Taschenbuchausgabe (HAYMONtb 2013) der 2010 im Studienverlag erschienenen Originalausgabe.

    © 2010 Studienverlag Ges.m.b.H.,

    Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

    Alle Rechte an der deutschsprachigen Ausgabe des Werkes vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

    Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

    ISBN 978-3-7099-7642-5

    Umschlag- und Buchgestaltung nach Entwürfen von hoeretzeder grafische gestaltung,

    Scheffau/Tirol

    Satz und Umschlag: Judith Eberharter, Eine Augenweide, www.eine-augenweide.com

    Umschlagabbildung: Mignon Langnas, 1941 (George Langnas)

    Transkriptionen, Recherche, Texte und Gesamtgestaltung: Elisabeth Fraller

    Historische Beratung: Evelyn Adunka, Jonny Moser

    Lektorat und Korrektorat: Gertie Aichhorn

    Vorwort Robert Schindel © Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Berlin 2011

    Alle Fotos, so nicht anders angegeben, stammen aus dem Archiv von George Langnas. Alle Rechte für die Materialien inklusive Bilder, Dokumente, Briefe und Tagebucheintragungen liegen, so nicht anders angegeben, bei George Langnas. Die kontextualisierenden Texte (grau gedruckt) hat Elisabeth Fraller verfasst. Keine Transkriptionen, Kommentare oder Fotos dieser Materialien dürfen in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung reproduziert, verarbeitet oder verbreitet werden.

    Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.

    Mignon Langnas

    Tagebücher und Briefe

    1938–1949

    Herausgegeben von

    Elisabeth Fraller und

    George Langnas

    „Aber wenn ich es erleben sollte, meinen Mann und meine Kinder zu sehen, wird es schon ganz gut sein, zuweilen diese Zeilen zu lesen, die ganz mit Blut durchtränkt sind.

    Gerade im höchsten Glück soll man sich der Tränen erinnern."

    (Wien, 18. August 1943)

    Mignon Langnas

    Tagebücher und Briefe 1938–1949

    Inhalt

    Robert Schindel: Was wird aus Robert Soël? A Dank

    George Langnas: Wie alles begann

    Von Galizien nach Wien: Mignons Familiengeschichte

    I. Vertreibung 1938/39

    II. Gescheiterte Flucht 1940/41

    III. Schwester Mignon 1942–1944

    IV. Krieg und Befreiung 1945

    V. Displaced Persons 1945/46

    Epilog: Sieben Jahre

    Editorische Notiz

    Danksagung

    Anmerkungen

    Biographien

    Glossar

    Verwendete Quellen und Literatur

    Was wird aus Robert Soël?

    A Dank

    Ich sehe durch ein kleines, halbhoch angebrachtes Fenster. Draußen kullert ein Ziegelstein, kullert, kullert und bleibt schließlich liegen.

    Immer wieder stellt sich in den Träumen meiner Jugend der Alb ein: Feuerdrachen erscheinen auf einem senkrecht aufgestellten und ins Erdreich gerammten Himmel und kreisen, schlingern, blaue und hellrote Flammen züngeln zwischen den riesigen Zähnen der Drachen aus deren Maul. Dazu hebt ein Tosen an, welches von einem andauernd auf- und abschwellenden Ton abgelöst wird.

    Irgendwann im Oktober 1944 wurde der dunkelhaarige, großbenaste Säugling Robert Soël von der jüdischen Fürsorgerin Franziska Löw im jüdischen Kinderspital abgegeben. Das Spital bekam einen Bombentreffer, übersiedelte in weiterer Folge mit uns Kindern von der Ferdinandstraße in die Mohapelgasse. An diesen beiden Plätzen lagen wir zuhauf und wurden immer weniger, denn Krankheiten grassierten, es fehlte immer mehr am Nötigsten, um zu überleben. In diesem Jammertal arbeitete Mignon Langnas als Krankenschwester, sie brachte ihre Tage damit zu, immer wieder zu verhindern, dass Esther stirbt, dass Ruth stirbt, dass der kleine Robert weder an der einen noch an einer folgenden Kinderkrankheit zugrunde geht.

    Ihre eigenen Kinder hatte Mignon noch rechtzeitig vor der Gewalt der Nazis außer Land bringen können. Da ist sie nun, verzehrt sich täglich nach ihnen, Manuela und Georg, harrt aus und hebt täglich die Judenbälger im jüdischen Kinderspital von der Großen Schaufel herunter, die diese in den Tod kippen will.

    Schließlich sterben Esther und Ruth doch im bomben- und frostrasenden Spätwinter 1944, aber der kleine Robert Soël, von seiner schmächtigen Mutter mit einer an Zauberei grenzenden Robustheit ausgestattet, überlebt Krankheiten, Hungerödeme, Rachitis, und Franziska Löw sowie Mignon Langnas verhindern auch den Transport des Kleinen nach Theresienstadt.

    Meine Mutter Gerti Schindel, die den illegalen Namen Suzanne Soël benutzte, um in Linz mit meinem Vater und anderen Widerstandskämpfern deutsche Soldaten in höchstgefährlichen Aktionen zur Desertion zu bewegen, ward nach ihrer Verhaftung und Enttarnung nach Auschwitz deportiert.

    Mignon überlebte den Naziterror, und es blieben ihr auch einige Schützlinge, die sie durchbringen konnte. Als meine Mutter im August 1945 aus Auschwitz und Ravensbrück nach Wien zurückkehrte, fand sie mich bei Pflegeeltern und nahm mich zu sich. Sie wusste nichts von Mignons aufopfernder Tätigkeit.

    1946 verließ Mignon Europa, um in New York ihre geliebten Kinder endlich in die Arme schließen zu können. All diese Jahre hatten sie aber so erschöpft, dass sie ihre Befreiung nur um vier Jahre überlebte.

    Ich wusste lange nichts von meinen beiden Retterinnen und freue mich sehr, dass dieses Buch entstanden ist. Es zeugt von Menschenwürde in der Barbarei. An mir ist es, den Kindern der wunderbaren Mignon, Manuela und George, stellvertretend zu danken.

    Schalom, Mignon. Schalom uns allen.

    Robert Schindel

    Wie alles begann

    1982 rief mich meine Cousine Susi Hauser an. Ihre Tante Hala sei gestorben, und sie habe ihr Briefe hinterlassen, die meine Mutter Mignon zwischen 1940 und 1945 an Hala geschrieben hätte. Mignon verbrachte die gesamte Kriegszeit in Wien, von Mann und Kindern getrennt. Mein Vater Leo war Anfang 1939 aus Wien geflüchtet, da er fürchtete, verhaftet zu werden. Gegen Ende desselben Jahres wurden meine Schwester Manuela und ich – damals noch kleine Kinder – nach New York geschickt. Hala war in die neutrale Schweiz entkommen, von wo aus sie mit Mignon die ganze Kriegszeit hindurch korrespondieren konnte. Susi übergab mir die Briefe, und wir ließen sie ins Englische übersetzen.

    Einige Jahre später rief mich meine Tante Nelly, Mignons jüngere Schwester, an und sagte, ich könne Mignons Tagebuch abholen. „Was denn für ein Tagebuch?", fragte ich mich. Offensichtlich hatte meine Mutter während des Kriegs ein solches geführt. Mit einem schmerzerfüllten Gesichtsausdruck händigte mir Nelly das Tagebuch aus, mitsamt einer englischen Übersetzung, die ihr Mann Ernest gemacht hatte. Ich nahm die Schriften entgegen, ohne eine einzige Frage zu stellen.

    Die Tagebücher umfassten die Jahre 1939 und 1940 sowie 1945 bis 1949. Die dazwischenliegenden Aufzeichnungen waren während eines alliierten Bombenangriffs auf Wien, bei dem Mignons Wohnung zerstört wurde, verloren gegangen. Die Briefe in die Schweiz und Mignons Tagebuch erzählen die einzigartige Geschichte einer jüdischen Frau, die während des Kriegs in Wien als Krankenschwester für die von den Nationalsozialisten kontrollierte jüdische Gemeinde arbeitete. Mignon hat Entscheidungen zugunsten ihrer Familie getroffen, die ihr selbst viel Leid verursacht und sie in Lebensgefahr gebracht haben: Sie entschied sich dafür, in Wien zu bleiben, um für ihre kränklichen, gebrechlichen Eltern zu sorgen; sie veranlasste, dass ihre Kinder in Sicherheit gebracht wurden; sie arbeitete unermüdlich unter den widrigsten Umständen und großer Gefahr als Krankenschwester für die ihr anvertrauten alten Menschen und Kinder.

    Doch viele Details aus der Familiengeschichte fehlten. Gab es noch weitere Briefe im Besitz von Tante Nelly und Onkel Ernest? Ich fragte die beiden nie danach.

    Nachdem Nelly 1991 und Ernest 2005 gestorben waren, entdeckte meine Frau Mary Lou bei der Räumung ihres Hauses einen mit Klebeband verschlossenen Plastiksack, der alte Briefe von Familienmitgliedern aus der Zeit zwischen 1928 und 1983 enthielt. Die Briefe von 1938 bis 1941 beschreiben die Schwierigkeiten, die mit der Emigration der Familienmitglieder verbunden waren, sowie die durch die Trennung entstandenen Spannungen.

    Die Recherchen für dieses Buch haben Licht auf viele Details und Zusammenhänge geworfen, von denen ich bis dahin nichts gewusst hatte, bzw. bestätigten Vermutungen, die ich seit langem hatte, aber nicht in Worte fassen konnte, geschweige denn, dass ich ihnen nachgegangen wäre. Als Kind stellte ich keine Fragen. Das verursachte ein Gefühl des Unbehagens, das mich mein Leben lang begleitete. Alle Verwandten, mit denen ich aufgewachsen bin, mussten in Wien Familienmitglieder zurücklassen: Mein Vater musste sich von seiner Frau, seinen Eltern und seiner Schwester trennen, meine Tante Nelly von ihrer Schwester und ihren Eltern und Onkel Ernest von seiner Mutter. Sie wussten nichts vom Schicksal ihrer Liebsten (und nur meine Mutter sollte überleben). Fragen verursachten Schmerz. Das Schweigen sollte meine Schwester und mich vor Ängsten und Sorgen bewahren. Das Schweigen war überwältigend.

    George Langnas

    (Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch: Elisabeth Fraller)

    Von Galizien nach Wien: Mignons Familiengeschichte

    Mignon wurde am 1. Oktober 1903 in Boryslaw (polnisch: Borysław), einer Kleinstadt in Ostgalizien, geboren. Sie entstammt einer frommen jüdischen Familie und wuchs im Spannungsfeld zwischen lokaler jüdischer Tradition und säkularer, moderner Lebensweise auf. Mignons Vater Moses Rottenberg war als Kaufmann in Boryslaw zu Ansehen und bescheidenem Wohlstand gekommen. Von tiefer Religiosität geprägt, hielt er die jüdischen Gebote und studierte Thora und Talmud. Wie der Großteil der Juden Galiziens sprach er Jiddisch, aber auch Polnisch und Deutsch. Aus erster Ehe mit Mina Schiff entstammten die drei Kinder Jakob Salomon (geb. 1890), Sender (geb. 1892) und Hinda (geb. 1896). Rottenbergs Frau starb jedoch früh, und so heiratete der junge Witwer bald danach Scheindel Schleifer. Scheindel, die neben ihrem rituellen jüdischen Namen den bürgerlichen Namen Charlotte hatte¹, galt als so genannte „moderne" Frau. Aus dieser Ehe gingen drei Töchter hervor, die alle in Boryslaw geboren wurden: Golda/Gusti (geb. 1898), Mamcze/Mignon (geb. 1903) und Nechume/Nelly (geb. 1908).

    Im Oktober 1914, kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, übersiedelte die Familie nach Wien.

    Auswanderung aus Galizien

    Galizien, eines der rückständigsten Kronländer der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, erlebte im 19. Jahrhundert einen Industrialisierungsschub, der auf der Erdölindustrie basierte. Doch die jüdische Bevölkerung, die einer immer stärker werdenden Ausgrenzung ausgesetzt war, konnte nicht davon profitieren. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wanderten daher Teile der jüdischen Bevölkerung aus Galizien nach Übersee und Palästina aus. Als nach der bürgerlichen Revolution von 1848 sämtliche Wohn- und Arbeitsbeschränkungen für Juden fielen² und sie mit dem Staatsgrundgesetz von 1867 die volle bürgerliche Gleichstellung erhielten, wurden die Donaumetropolen Wien und Budapest wichtige Anziehungspunkte der ostjüdischen Migration. Wien entwickelte sich nach Budapest und Warschau zur Stadt mit dem drittgrößten jüdischen Bevölkerungsanteil in Europa. Nach der Volkszählung von 1910 lebten hier 175.318 Juden.³

    Ende Juli 1914 begann der Erste Weltkrieg, und im August nahm die russische Armee das galizische Lemberg ein. Eine Welle von antijüdischen Pogromen war die Folge. Ab dem Herbst 1914 flüchteten zehntausende Juden aus den umkämpften Gebieten in Galizien, viele wurden von der österreichischen Armee evakuiert und nach Wien gebracht.

    Zahlreiche jüdische Zuwanderer ließen sich in der Leopoldstadt, dem 2. Wiener Gemeindebezirk, nieder. Um 1923 lebten in diesem größten jüdischen Wohnviertel Wiens knapp 60.000 Jüdinnen und Juden, das entsprach fast 40 Prozent der Leopoldstädter Bevölkerung.⁴ Der zwischen Donau und Donauarm gelegene 2. Bezirk hatte als jüdisches Viertel Tradition. Bereits 1625 wurde die jüdische Bevölkerung Wiens unter Kaiser Leopold I. gezwungen, sich hier, in einem Ghetto außerhalb der Stadtmauern, anzusiedeln, aber bereits 1669/70 von demselben Monarchen wieder aus Wien vertrieben und ihre Spuren vernichtet. Die Synagoge wurde zerstört und an ihrer Stelle eine dem heiligen Leopold geweihte Kirche errichtet (heute Leopoldskirche in der Großen Pfarrgasse). Das Viertel, das bis dahin als Unterer Werd bezeichnet wurde, erhielt den Namen Leopoldstadt.⁵

    Die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzende Industrialisierung und der aufkommende Liberalismus führten zur allmählichen Emanzipation der österreichischen Juden. Viele jüdische Zuwanderer siedelten sich nun wieder in der Leopoldstadt an. Auch Gustav Mahler, Sigmund Freud und Theodor Herzl lebten zeitweise dort. Industrialisierung und Wirtschaftsliberalismus verschafften manchen Juden den sozialen Aufstieg in das Besitz- und Bildungsbürgertum, obgleich damit häufig eine Aufgabe der religiösen und kulturellen Traditionen verbunden war.⁶ Das jüdische Bürgertum zog in die Prachtbauten und Palais der Praterstraße, rund um den Augarten und nahe dem Donaukanal.

    Die Industrialisierung Wiens zeigte aber auch ihre Kehrseiten: Durch die enorme Zuwanderung aus den Kronländern war die Reichshauptstadt – nach heutigem Gebietsstand – 1910 auf zwei Millionen Einwohner angewachsen.⁷ In der Leopoldstadt und der angrenzenden Brigittenau, dem 20. Wiener Gemeindebezirk, wo bereits verarmte ostjüdische Flüchtlinge in Massen ankamen, entstanden in den Seitengassen, abseits der gründerzeitlichen Bürgerhäuser, düstere Wohnbaracken und Massenquartiere, die maximal aus Zimmer-Küche-Kabinett bestanden, mit Wasserstelle (Bassena) am Gang. Hier lebten die verarmten jüdischen und nichtjüdischen Arbeiter-, Händler- und Handwerkerfamilien. Die verfehlte Wohnbaupolitik der christlichsozialen Wiener Stadtverwaltung und der gänzliche Ausfall der Wohnbautätigkeit während der Kriegsjahre hatten zu einer furchtbaren Wohnungsnot geführt.⁸ Obdachlosigkeit bzw. überfüllte Wohnungen und miserable Wohnbedingungen, „halbverhungerte Elendshöhlenbewohner, Lumpenproletarier, „berufslose Luftmenschen und „Wanderschnorrer"⁹ prägten das Bild der Leopoldstadt, die zu einem Bezirk der Armen geworden war. Viele dort lebende Juden waren auf Unterstützung durch die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) oder jüdische Wohltätigkeitsvereine und Hilfsorganisationen angewiesen, die in diesem Bezirk zahlreich vertreten waren.

    Zunehmender Antisemitismus

    Was einerseits die Emanzipation des Judentums gefördert hatte, nämlich Industrialisierung und Wirtschaftsliberalismus, das bedrohte und verunsicherte andererseits das kleine und mittlere Bürgertum. Nicht zuletzt durch die Wanderungsbewegungen gerieten traditionelle Ordnungen immer mehr ins Wanken, und soziale Ungleichheiten verschärften sich. Diese Stimmung benutzten deutschnationale oder christlichsoziale Politiker wie Georg von Schönerer oder Wiens Bürgermeister Karl Lueger gegen Ende des 19. Jahrhunderts gezielt, um die nichtjüdische Bevölkerung gegen ihre jüdischen Mitbürger aufzuhetzen. Dabei wurde die aus dem Mittelalter stammende traditionelle katholische Judenfeindlichkeit gegen das „Gottesmördervolk und die „Hostienschänder mit antiliberalen und antikapitalistischen sowie rassistischen Elementen kombiniert und die weit verbreiteten Vorurteile gegenüber „Geld- und Börsenjuden oder intellektuelle „Tintenjuden¹⁰ geschürt. So hatte man den Antisemitismus in Österreichs öffentlichem Leben salonfähig gemacht und ideologisch in manche politische Bewegung integriert.

    Während des Weltkriegs entflammte eine beispiellose antisemitische Kampagne gegen die verarmten ostjüdischen Kriegsflüchtlinge. Für die notleidende Bevölkerung wurden die Juden zu Sündenböcken für alle Missstände gemacht: für Armut, Krieg, Wohnungsnot, Lebensmittelknappheit und soziale Ungerechtigkeit. „Brotneid und das als bedrohlich empfundene „Fremde und „Anderssein der ostjüdischen Flüchtlinge spielten hier eine wesentliche Rolle. Christlichsoziale und deutschnationale Politiker agitierten gegen die jüdischen „Schmarotzer und forderten ihre Internierung und Abschiebung. Unter diesem Druck waren sich Politiker aller Parteien, selbst aus den Reihen der Sozialdemokraten, und sogar assimilierte Juden darüber einig, dass es den jüdischen Flüchtlingen, vor allem den aus Galizien oder der Bukowina stammenden, unmöglich gemacht werden sollte, in Wien ein Heimatrecht zu erlangen. Die in den Nachfolgestaaten als habsburgtreu stigmatisierten verarmten Juden wurden damit zu Ausländern, ihre Integration in die Gesellschaft verhindert.¹¹

    Neue Heimat Leopoldstadt

    In dieser Atmosphäre kam die elfjährige Mignon im Oktober 1914 mit ihrer Familie nach Wien. Sie wuchs in ärmlichen, aber geordneten mittelständischen Verhältnissen auf, inmitten des Elends der Leopoldstadt. Mignons ältester Bruder Salomon („Salo") war in Galizien zurückgeblieben und wanderte Anfang der 1920er Jahre mit seiner neu gegründeten Familie nach Kanada aus.

    Die siebenköpfige Familie lebte in einer typischen „Bassena-Wohnung" in der Blumauergasse 20: Zimmer, Küche, Kabinett, Wasser und Toilette am Gang. Sie war gut in ihre Nachbarschaft und einen erweiterten Familienverband integriert. Gusti, Mignon und Nelly besuchten die Schule, während sich die Halbschwester Hinda, die sehr fromm war, selbstständig mit dem Studium von Thora und Talmud beschäftigte. Mignons Halbbruder Sender war als Gefreiter der k. u. k. Armee in den Krieg eingerückt.

    Mignon und ihre Geschwister um 1916 in Wien (v. l. n. r.): Hinda, Gusti, Nelly, Mignon und Sender in der Felduniform eines Gefreiten der k. u. k. Armee

    Nach dem Krieg kehrten die Halbgeschwister Sender und Hinda wieder nach Boryslaw, das inzwischen an Polen gefallen war, zurück und gründeten dort Familien.

    1922 heiratete Mignons ältere Schwester Gusti den Gymnasiallehrer Markus („Motio) Teichmann. 1923 wurde ihr Sohn Theodor („Teddy) geboren, der später bei Albert Einstein in Princeton studieren sollte. Die Familie wanderte aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage in Europa 1930 nach Südafrika aus und ließ sich in Kapstadt nieder.

    Mignon heiratete am 29. Juli 1928 Leon Hermann („Leo) Langnas, der wie sie aus Galizien stammte und den sie vermutlich aus der gemeinsamen Synagoge, dem „Polnischen Tempel, kannte. Hier, in der Vereinssynagoge der polnischen Juden in der Leopoldsgasse, fand auch die Trauung statt. Auch Leo stammte aus einer frommen Familie, die einen koscheren Haushalt führte und den Sabbat einhielt. Seine Eltern, Nachmann Morgenstern und Nechume/Emma Langnas, waren Kaufleute in Lemberg, wo Leo 1895 geboren wurde.¹² Während des Ersten Weltkriegs kämpfte Leo als Soldat der k. u. k. Armee an der italienischen Front und geriet dort in Kriegsgefangenschaft. Als er 1919 in den Polnisch-Ukrainischen Krieg (1918/19) einberufen werden sollte, übersiedelte Leo mit seinen Eltern und Geschwistern Rosa (geb. 1893) und Ignaz (geb. 1899) nach Wien, wo sie sich in der Leopoldstadt niederließen. Bis zu seiner Heirat lebte Leo mit seinen Eltern in der Novaragasse, nur wenige Schritte von Mignons Haus in der Blumauergasse entfernt, und führte gemeinsam mit seinem Bruder einen Holzhandel im 10. Bezirk.

    Mignon und Leo an ihrem Hochzeitstag am 29. Juli 1928

    Mignon mit Erika, Mai 1931

    Nach ihrer Heirat zogen Mignon und Leo in eine Wohnung in der Lassallestraße 20. In diesem relativ jungen Teil der Leopoldstadt entstanden wie in vielen anderen neuen Stadtteilen mit der Übernahme der Wiener Stadtverwaltung durch die Sozialdemokratische Arbeiterpartei im Jahr 1919 kommunale Wohnbauten, welche die große Wohnungsnot lindern sollten. Dadurch konnten auch Arbeiter und Kleinbürger, die in den überfüllten „Bassena-Wohnungen" oft zu überhöhten Preisen wohnten, in den Genuss von modernen und erschwinglichen Wohnungen gelangen.

    1929 kam Tochter Erika auf die Welt. Das Kind war kränklich und litt an frühkindlichem Diabetes. Erika verstarb bereits dreijährig im Juli 1932 und wurde in der Israelitischen Abteilung des Wiener Zentralfriedhofs begraben. Dieser Schicksalsschlag sollte die Ehe zwischen Mignon und Leo nachhaltig belasten.

    Manuela und Georg beim gemeinsamen Spiel im Hinterhof, ca. 1938

    1933 wurde eine zweite Tochter geboren. Nach dem tragischen Tod der Erstgeborenen wurde sie als Geschenk Gottes empfunden und erhielt daher den Namen Manuela (hebräisch: „Gott ist mit uns). „Mollychen, wie sie liebevoll gerufen wurde, hatte blonde Haare und blaue Augen und sah ihrer Großmutter mütterlicherseits, Charlotte, sehr ähnlich.

    1935 erblickte Sohn Georg das Licht der Welt. „Georgerl" war ein aufgeweckter und lebhafter Bub, der mit seiner älteren Schwester innig verbunden war. Die Geschwister verbrachten viel Zeit in der Wohnung der Großeltern in der Blumauergasse. Vor allem der Sabbatabend war ein zentrales Ereignis im Leben der Familie, das man gemeinsam feierte.

    Mignon war stets in Sorge um die Gesundheit der „Kinderchen". Der frühe Tod der Erstgeborenen hatte zu Selbstvorwürfen geführt und zu der Befürchtung, eine Erbkrankheit hätte Erikas Tod verursacht.

    Mignons jüngere Schwester Nelly, die bereits den größten Teil ihrer Kindheit in Wien verbracht hatte, war die „modernste der drei Schwestern. Sie arbeitete als Ordinationshilfe in der Heilanstalt für Physikalische Therapie ihres Cousins Dr. Emanuel Hauser. Sie war modebewusst und betrieb aktiv Sport. Im März 1936 fand ihre Heirat mit dem in Wien geborenen Handelsangestellten Ernst Eckstein im berühmten Leopoldstädter Tempel in der Tempelgasse statt, in dem auch schon ihre älteste Schwester Gusti getraut worden war. Ernst, dessen Familie aus dem Gebiet der späteren Tschechoslowakei stammte, besaß die österreichische Staatsbürgerschaft. Durch die Eheschließung wurde auch Nelly automatisch österreichische Staatsbürgerin, was ihre Emigration nach dem „Anschluss 1938 erleichtern sollte. Das junge Paar zog in eine Wohnung am Franz-Josefs-Kai, am Donaukanalufer im 1. Bezirk gegenüber der Leopoldstadt.

    Die Geschichte der Familie zeigt, wie sich in ihr zwei unterschiedliche Kulturen vereinen: auf der einen Seite die aus Galizien stammende, noch orthodox geprägte jüdische Frömmigkeit, auf der anderen Seite eine säkulare, moderne Lebensweise und die Identifikation mit der österreichischen Kultur. In der Elterngeneration ist das jüdisch-orthodoxe Erbe noch am stärksten ausgeprägt: Die Sprache ist vom Jiddischen durchzogen, sowohl was einzelne Ausdrücke als auch die Syntax betrifft. Häufig werden hebräische oder biblische Segenssprüche gebraucht, und viele Briefe drücken trotz großer Probleme eine Gelassenheit aus, die starkes Gottvertrauen und jüdischen Optimismus erkennen lässt. Der Übergang zur modernen Welt wird an den Töchtern gut sichtbar: Gusti, die Älteste, verwendet noch oft traditionelle Segenssprüche und hebräische Buchstaben. Aber ihr Interesse an zeitgenössischer Literatur und Wissenschaft beweist auch ihre intellektuelle Aufgeschlossenheit. Bei Mignon verlieren sich antiquiert anmutende Segenssprüche; in ihren Tagebüchern und Briefen schildert sie ihre Erlebnisse realistisch, drückt aber dabei gleichzeitig auch tiefe religiöse Gefühle aus. Jiddische und polnische Ausdrücke erinnern an ihre galizische Herkunft. Ihre Liebe zur österreichischen und deutschen Literatur und Musik sowie ihre österreichisch gefärbte Sprache zeugen von ihrer großen Verbundenheit mit Wien.

    Besuch bei der Familie in Wien (v. l. n. r.): Mignons Halbschwester Hinda Eisenstein (aus Polen), Mutter Charlotte, Claire Schiff, die Frau von Mignons Halbbruder Salo (aus Kanada), Mignon, Vater Moses, Nelly, 1934

    Bei Nelly ist die Entfernung zur jüdischen Kultur Galiziens am größten: Sie scheint nur mehr wenig Bindung zu den ursprünglichen religiösen Traditionen zu haben. Hebräische Segenssprüche finden sich einzig in Briefen an die Eltern. Nelly heiratet einen assimilierten Wiener Juden und entspricht ganz dem Bild einer modernen Frau, die auch als erste der Töchter einen selbstständigen Beruf ausübt.

    Mignons Briefe und Tagebücher zeichnen das Bild einer Familie mit starken emotionalen Bindungen zueinander, die trotz ihrer bescheidenen Lebensverhältnisse zufrieden ist und große Kraft aus dem Zusammengehörigkeitsgefühl schöpft. Die Familie fühlt sich dem Erbe der Monarchie verbunden und in Wien zuhause.

    Viele Jahre später wird Mignon in ihrem Tagebuch das Leben vor dem „Anschluss als „die ganze arglose Zeit von damals bezeichnen. Denn trotz des zunehmenden Antisemitismus in Österreich, der von Seiten der Nationalsozialisten ab 1930 gewalttätige Formen angenommen hatte, und der Machtergreifung Hitlers in Deutschland 1933 erkannten nur wenige die drohende Gefahr und das bevorstehende Unheil.

    I.

    Vertreibung

    1938/39

    „So verroht ist die Welt, in der wir leben!

    Wann hilft uns Gott von hier

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