Rituale: Woher sie kommen - warum wir sie brauchen
By Adrian Naef
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In den Institutionen der Kirchen sind sie zu einer leeren Hülle geworden; es liegt an uns, Rituale in zeitgemäßer Weise im Jahreslauf zu erneuern.
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Rituale - Adrian Naef
Adrian Naef
Rituale
Woher sie kommen – warum wir sie brauchen
Elster Verlag • Zürich
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2013 by Elster Verlagsbuchhandlung AG, Zürich
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ISBN 978-3-906065-67-0
E-Book-Herstellung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Umschlag: dreh gmbh, Zürich.
Für mein Patenkind Shervin
geboren 16.10.2012
Inhalt
ANSTELLE EINES VORWORTS
INVENTUR
Grenzen der Religionen
Über die Hoffnung
VOM GLAUBEN ZUM RITUAL
Glaube
Religiosität
Religionen
Ritual
DURCH DAS JAHR
Fasnacht
Ostern
Pfingsten
Sonnenwende
Sommerfeste
Erntedankfest
Ahnengedenken
Advent
Nikolaus
RITUALE DER REIFUNG
Wir reifen im Leben
Initiationen und Gemeinschaft
Hochzeit und Partnerschaft
Taufe
Die Aufnahme
Die Ankündigung
Geburtstag
Beten
Pilgern
Segnen
Beerdigung
Nachwort
Anstelle eines Vorworts
Rituale sind der Gegenstand dieses Buches. Aber man kann dieses Thema nicht umfassend behandeln, denn die Erscheinungsformen von Ritualen sind vielfältig und umfassend. Rituale sind ein fester Bestandteil unseres Lebens, ob wir sie bewusst als solche wahrnehmen oder nicht. Auch Tiere kennen Rituale; das Ritual ist älter als die Religion. Die Erfahrung in dunklen Tagen zeigt, dass ganz gewöhnliche, ja mechanische Rituale das Einzige sein können, das Halt gibt, wenn sich Hoffnung und Glaube längst verabschiedet haben. Besser, wir pflegen Rituale bewusst, bevor es so weit kommen muss.
Rituale kommen ohne Religion aus, Religionen jedoch nicht ohne Rituale. Wir kennen sie allerdings vorwiegend aus dem religiösen Zusammenhang. Doch was wäre ein Staatsbesuch ohne die Rituale des Empfangs: roter Teppich, Ehrenkompanie, Blaskapelle? Es ist schwer vorstellbar, dass die deutsche Bundeskanzlerin Merkel mit einem VW Golf zum Flughafen Tegel fährt, hinterm Zoll auf Präsident Obama wartet und ihn auf dem Rücksitz zum Bundeskanzleramt formlos spediert.
Wer Rituale in seinen Alltag integrieren will, landet naturgemäß schnell im Feld des Religiösen, weil wir bereits religiös begabt auf die Welt kommen. Unsere Vorfahren haben in den Apfel der Erkenntnis gebissen und sich somit aus der fraglosen Schöpfung herausgenommen – unser Bedürfnis nach religio (= Sorgfalt, bedenken; abgeleitet von relegere).
Sorgfalt in der Beachtung von Vorzeichen und Vorschriften) ist daher zwingend, und unsere Fähigkeit des Staunens eine Mitgift des aufrechten Ganges mit Blick nach oben. Religiosität ist somit keine Wahl, sondern eine Frage des Stils. Nicht ob, sondern wie wollen wir unsere alltäglichen, religiösen, unsere spirituellen Bedürfnisse leben, heißt die Frage. Auch: begreifen, was uns ergreift.
Dieses Buch ist der Versuch, ein Gefühl für das enge Wechselverhältnis zwischen der wiederkehrenden, sichernden Gewohnheit und der Religosität, zwischen dem Ritual und unseren spirituellen Bedürfnissen zu entwickeln. Es liegt in der Natur der Sache, dass er nur unvollkommen sein kann.
Wir erleben gerade den möglicherweise tiefgreifendsten gesellschaftlichen Umbruch der letzten Jahrzehnte. Was uns die Globalisierung an Anpassung abfordert, ist eine gewaltige Herausforderung. Das Versprechen von der Gleichheit der Menschen, das die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gegeben hat, wird durch die Handels- und Menschenströme der globalisierten Welt eingelöst.
Die alten regionalen Religionen haben aber keine Antworten mehr auf gänzlich neue Umstände auf allen Gebieten, und auch der Versuch vieler Menschen, sich mit der Annahme religiöser Gewohnheiten aus anderen Kontinenten zu behelfen, ist nicht wirklich hilfreich. Dort steht die Religion vor den gleichen Problemen. Die Vermischung von Ethnien als Folge der Globalisierung wird neue Formen der Spiritualität fördern. Sie geschieht rasant, und sie kann eine Chance für die Zukunft sein, auch wenn uns das Tempo zuweilen überfordert.
Eine neue Form, in der alle Unterschiede, wenn nicht aufgehoben, so doch in Würde gelebt werden könnten, ist aber noch nicht in Sicht. Trotzdem: Wir leben jetzt und wollen ein Leben in Würde führen. Dazu gehört, dass wir unseren Alltag bewusst mit Ritualen begleiten.
Zuvor muss aber noch eine Inventur gemacht werden: Es wird nachgesehen, in welchem Umfang die traditionellen Religionen unsere Gewohnheiten beherrschen und was sich besser machen ließe.
Deshalb wird auf den folgenden Seiten versucht, unsere rituellen Traditionen, die uns so oder so das ganze Jahr begleiten, zu hinterfragen. Die nachfolgenden Texte bringen Anregungen, wie das von Montag bis Montag, von Januar bis Januar, von Jahreszeiten zu Lebenszeiten, allenfalls gemacht werden könnte. Um mehr brauchen wir uns nicht zu kümmern, der Zeitgeist wird es weisen.
Inventur
Seit einigen Jahren ist «Globalisierung» das Schlüsselwort für unsere Weltwahrnehmung. Historiker erzählen uns jedoch, dass die Globalisierung schon Jahrhunderte alt ist. Jesuiten und Franziskaner missionierten bereits im sechzehnten Jahrhundert in Indien, China und und in Südamerika und begleiteten die kolonialen Handelsinteressen. Das Weltbild weitete sich dadurch, dass die Kolonialmächte die Welt entdeckten und die antiken Vorstellungen überwanden. Wer gen Westen segelte, kam im Osten wieder an.
Damit lief es von Anfang an auf ein Weltbewusstsein hinaus. Globalisierungsgegner wehren sich chancenlos gegen eine Jahrtausende alte Entwicklung, die den begrenzten Blick durch einen erweiterten überwindet.
Immer wieder hatten alte Weltbilder neuen weichen müssen und mit ihnen die religiösen Vorstellungen ihrer Zeit. Nicht die Erde steht im Zentrum unseres Planetensystems, sondern die Sonne. Unser Planetensystem bildet nicht das Zentrum des Universums, sondern ist nur ein winziger Teil davon. Und schemenhaft ahnen wir, dass Albert Einsteins Thesen der Relativitätstheorien – auch wenn wir sie nicht verstehen – uns den Boden unter unseren Gewissheiten wegziehen. Zweifellos ist aufgrund neuer atemberaubender, technischer Möglichkeiten ein weiterer Umbruch zu beobachten, vielleicht der tiefgreifendste in der Menschheitsgeschichte.
Die Bilderfolge ist jedenfalls definitiv in unserer Welt angekommen. Wir haben unsere Heimat vom Mond aus gesehen. Sie ist definitiv keine Scheibe mit einem sie überwölbenden Firmament, und sie steht nicht auf drei Säulen, sondern sie ist eine Kugel, beschränkt und doch ohne Grenzen. Hinter diese Einsicht kann das Bewusstsein nicht mehr zurückgehen. Gesehen ist erkannt. Und diese Erkenntnis hat eine wohl nur für uns Menschen offensichtliche spirituelle Qualität.
Der Unsicherheit der Weltsicht steht die relative Sicherheit unserer persönlichen Umwelt gegenüber, in der wir unsere Lebensweise organisieren. Rituale strukturieren unseren Alltag und das Jahr; sie begleiten unsere Initiationen von der Geburt bis zum Tod. Auch Tiere entwickeln Rituale und finden Sicherheit in immer wiederkehrenden Gewohnheiten. Rituale, das Ritual ist älter als Religion. Und rede man bloß von Gewohnheit, der kleineren Schwester des Rituals – was wäre Liebe oder Bindung ohne sie, was wäre die Ehe ohne ihre speziellen kleinen Rituale?
Rituale kommen also ohne Religion aus, aber Religion nicht ohne Ritual. Und da wir unabdingbar mit der Begabung zu religiösen Betrachtungen in diese Welt geworfen werden, haben die wichtigsten Rituale durchs Jahr seit Urzeiten eine spirituelle Dimension. Schon der Blick hinauf zum Mond weckte religiöse Gefühle. Wer noch an der Macht des Religiösen zweifelt – eines der erstaunlichsten Phänomene unserer Zeit ist doch, dass weder die Aufklärung noch die säkularen Ideologien der beiden vergangenen Jahrhunderte die alten Religionen verschwinden ließen, auch wenn man Religionen nicht mit dem Religiösen verwechseln sollte. Religiosität bleibt ewig frisch und ist ein Bedürfnis.Die bekannten Weltreligionen mögen sich überlebt haben und heute verzichtbar sein. Doch selbst sie verfügen über eine Eigenschaft, die man oft vergisst und die das meiste erklärt: Sie sichern unser wichtigstes Bedürfnis – nach dem Wahrgenommen-Werden durch eine Gemeinschaft. Davon leben die Kirchen, nicht anders als der Kaninchenverein; zentral ist nicht das Bedürfnis nach Gott.
Aber Gott respektive Götter waren ein Bestandteil der Religionsbildung – Götter figurierten als «nützliche Illusion». Sie waren nichts anderes als die Verlängerung der nur dem Menschen eigenen Projektionsfähigkeit als Produkt des aufrechten Ganges: Was passiert da oben in den Wolken? Was passiert da drüben, wo die Halme zittern? Ein Säbelzahntiger? Was geht wohl im Kopf meines Feindes vor? Was denkt er wohl über mich?
Der nächste Gedanke nach einem übernatürlichen Wesen, einem geistig völlig unabhängigen Wesen war nur ein kleiner Schritt mehr, aber einer zuviel. Dass er sich anfänglich disziplinierend und gemeinschaftsbildend auf Menschensippen auswirkte, ist eine andere Sache. Religiosität braucht ihn nicht.
Der Blick vom Mond auf die Erde zeigt uns, wie sehr unser Weltbild in den letzten Jahrhunderten radikal umgewälzt wurde. Das verlangt aber auch die Einbindung der ganzen Welt in ein neues Wertesystem, nicht nur einzelner Kontinentalgebiete. Das wird weitgehende Konsequenzen für die kontinentalen Religionen, ihre Regionalgötter und ihre Glaubensinhalte haben. Auf der blauen Kugel sind jedenfalls keine Grenzen erkennbar.
Zwar gibt es noch kontinentale und regionale Einflusssphären, aber die klassischen Kolonial- und Regionalreiche