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Jeder Tag wie heute: Roman
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Ebook152 pages2 hours

Jeder Tag wie heute: Roman

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Eine Einladung zu einer Diskussion über Zeugenschaft, Erinnerung und Schreiben.

Adam Schumacher, der Held dieses Debütromans von Ron Segal, ist ein neunzigjähriger israelischer Schriftsteller und Holocaust-Überlebender. Einst vor den Nazis geflüchtet, reist er nun, viele Jahre später, zum ersten Mal zurück nach Deutschland, um für ein Literaturmagazin seine Erinnerungen aufzuschreiben.
Ausgerechnet dort, wohin er nie zurückkehren wollte, merkt er, dass ihn sein Gedächtnis immer öfter im Stich lässt. Wie der Schuster aus den Märchen der Brüder Grimm, dessen Handwerk über Nacht durch geheimnisvolle Helfer erledigt wird, wacht er jeden Morgen auf, um zu entdecken, dass irgendjemand seine Arbeit schon für ihn getan hat, dass seine Geschichten schon auf dem Papier festgehalten sind.
Ihm wird klar, dass nicht mehr viel Zeit bleibt, das Versprechen an seine verstorbene Frau einzulösen: bevor er sie vergessen haben würde, ihrer beider Lebensgeschichten aufzuschreiben.
Segal erzählt die Fieberträume des Überlebenden, in denen die Fakten und Fiktionen einander schon überlagern, er ruft die Geschichten der Grimms auf, die Mythen, Legenden und versucht ein Amalgam zu finden, das ein literarisches Sprechen über den Holocaust für jemanden »zwei Generationen danach" möglich macht.
LanguageDeutsch
Release dateAug 4, 2014
ISBN9783835326767
Jeder Tag wie heute: Roman

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    Jeder Tag wie heute - Ron Segal

    Satzzeichen.

    1

    Ich werde, wie man es von mir erwartet, nicht mit dem Anfang beginnen.

    Vor zwei Wochen und einem Tag nahm ich wie immer den Bus von meinem Haus im Jerusalemer Viertel Nachlaot nach Yad Vashem und bemerkte gleich beim Einsteigen einen Mann im hinteren Teil: Er war jung, hielt eine Zeitung, und eigentlich gab es keinen Grund, ihn unter den wenigen Fahrgästen an diesem Tag herauszupicken. Aber ich, dessen Sinne durch all die Erlebnisse in den zwei Monaten vor diesem Tag geschärft waren, hatte einen Grund. Ich ging geradewegs auf ihn zu in der Absicht, ihn ohne Zögern anzusprechen, aber da entdeckte ich den grünen Sauerstoffballon, der zu seinen Füßen auf dem Boden lag, an einen kleinen Einkaufswagen gebunden. Ich änderte meinen Plan und setzte mich ihm gegenüber. Es war ein Moment der Unsicherheit, aufgrund all der Jahre vor diesen zwei Monaten, als dächte ich mir plötzlich: Was denn, jeder Mensch irrt sich mal, jeder kann etwas sagen und dann entdecken, dass er damit einem Wissen vorausgreift, das seine Aussage praktisch widerlegt. Aber dann sah ich die Überschrift des Artikels, den er las – »Ein Arzt, der Sterbehilfe für den Verein Natural Resort geleistet hatte, beging Selbstmord, als er entdeckte, dass die betreffende Patientin gar nicht todkrank gewesen war« –, und fing mich wieder.

    Sagen Sie, wissen Sie eigentlich, dass Sie die Zeitung von vorgestern lesen?, sprach ich ihn an, ohne daran zu zweifeln, dass er es wusste, und wartete auf die Antwort, die auch prompt kam: Vor zwei Tagen ist die Welt für mich eingestürzt, und deshalb wollte ich zurückgehen und dort weitermachen, wo ich aufgehört hatte.

    Ich dachte mir, wenn ich die Zeitung von vor zwei Monaten aufgehoben hätte, könnte ich in der Zeit zurückgehen und es auch so machen wie er. Und er, der erkannte, dass mir dasselbe wie ihm passiert war, wunderte sich nicht, dass ich nun nachdachte, statt ihm zu antworten, und eine recht lange Schweigepause zwischen uns entstehen ließ.

    Von der Seite beobachtete uns ein kleiner Junge – wie Kinder halt gucken: ohne sich zu schämen. Denkst du denn, Kind, ich wüsste nicht, wie ich aussehe: alt und über dem einen Auge eine selbstgebastelte Klappe, die nicht mal für mein Alter gut aussieht? Aber der Unterschied zwischen uns, Junge, besteht darin, dass du dir nicht vorstellen kannst, was mir durch den Kopf geht, dass ich aber genau weiß, was in deinem Kopf abläuft. Ich erwiderte seinen Blick, bemüht, eine Mutter auszumachen, die ihm sagen würde, man dürfe nicht so glotzen, das sei ungehörig, aber es war keine Mutter in Sicht.

    Vor zwei Monaten war ich ins Münchner Verlagsbüro des Magazins Schwarz mit Farbe gerufen worden; ein blöder Name, zugegeben, aber tatsächlich geht es um ein angesehenes Magazin, das im internationalen Literaturbetrieb höchste Reputation genießt und auch noch gut verdient. Ich betrat das Büro des Chefredakteurs Max Vérité, den ich seit Jahren kenne, eine Art Glaskasten, bestehend aus vier durchsichtigen Wänden und einer Decke, die das Sonnenlicht auf ganz spezielle Weise filtert, und schloss die Tür hinter mir. Damit verstummte der Lärm der großen Redaktion einer Zeitschrift mit ihrem Termindruck, und so glaubte ich auch, dass die Unterhaltung zwischen Max und mir für die übrigen Mitarbeiter unhörbar sei. Aber es war nicht völlig still auf unserer Seite; ein Geräusch drang herein, das Klappern einer Schreibmaschine vom Typ Remington Nr. 7, deren genaue Modellnummer ich nur deshalb nennen kann, weil es die einzige Schreibmaschine ist, die ich je benutzt habe. Ich blickte hinaus ins Großraumbüro, sah sie dort aber auf keinem Tisch stehen. Logisch, was hätte so eine alte Schreibmaschine wohl in diesem modernen Büro zu suchen. Sicher verdichteten die Glaswände das leise Klicken Dutzender moderner Tastaturen auf der anderen Seite zu einem uralten Geräusch.

    Als wir fertig waren und uns die Hand gaben, hörte ich die Remington eine Zeile beenden und den Wagen auf Hebeldruck zum nächsten Zeilenanfang zurückfahren, doch anstelle des vertrauten Klingeltons erklang ein Krachen, und die Glastür hinter mir zerbrach in tausend Splitter, was die Stille im Büro empfindlich störte. Alles hielt inne. Ist das meinetwegen?, fragte ich Max. Nein, das wäre ohnehin passiert, sagte er. Nun kam wieder Bewegung ins Büro, und einige Mitarbeiter tappten zur Tür wie zu einem Unfallopfer, um nachzusehen, was noch zu machen war, ehe sie sich in nichts als neugierige Passanten verwandelten.

    Adam Schumacher? Ja, antworte ich. Schließlich ist das mein Name. Ein kleines Gesicht blickt mir aus dem Handy-Display entgegen, bemüht, nach oben zu sehen, wie aus einem offenen Fenster, und mein Gesicht zu betrachten, aber das Display ist auf meine Brust gerichtet, während ich gehe. Eva Weiß, sagt sie. Max habe sie an mich verwiesen, und sie wolle mich bei nächster Gelegenheit treffen. Was würde ich dazu sagen? Wäre es ihr jetzt recht?, frage ich. Sie ist überrascht über die kurzentschlossene Rückfrage, aber ja, jetzt ginge es. Wo? Kennen Sie die Buchhandlung Bookowski? Treffen Sie mich draußen am Springbrunnen, und wir setzen uns ins nahe Café, sage ich. Sie lacht, das kennt sie. Das ist ein Kalauer, wissen Sie, sagt sie zu mir. Ein Kalauer? Sie blickt wieder aus dem Display, reckt den Hals so lang wie möglich. Okay, ich werde Sie wohl an dem blauen Hemd erkennen, schließt sie.

    Ich überquere die Straße zum Landtag, um die U-Bahn zum Geschwister-Scholl-Platz zu erwischen; auf genau dieser Straße ist mal ein anderer Jude, Kurt Eisner, seinerzeit bayerischer Ministerpräsident, entlanggegangen, um nach der Wahlniederlage seiner Partei seinen Rücktritt einzureichen, und genau hier wurde er von einem adligen Offizier namens Anton Graf von Arco auf Valley erschossen.

    Der Legende nach wollte die Landesregierung an der Frontseite des Gebäudes eine Plakette mit einer Schilderung des Attentats anbringen, was der Hauseigentümer jedoch energisch verweigerte, weil er ein schlechtes Image für sein Anwesen befürchtete. Der Bürgersteig hingegen ist öffentliches Gelände, und so erinnerten sie dort an Eisner, ersetzten den berühmten Kreideumriss, der die vorletzte Ruhestätte des Ermordeten markierte, durch haltbarere Farbe. Kreide oder nicht – für mich sieht er immer noch aus, als tanze er, die Rechte hochgeschwungen, das linke Bein etwas angezogen, und ich meine genau über den unsichtbaren Blutfleck zu gehen.

    Unser zweites Gespräch begann noch viel seltsamer, diesmal war ich es, der sich bei ihr meldete: Na, junge Dame, finden Sie es höflich, die Zeit eines Menschen zu verschwenden, der nur noch so wenig davon hat? Verzeihung?, sagt sie, versteht nicht, wovon ich rede. Ich warte hier am Springbrunnen auf Sie. Wie, was ich denn meinte? Wir hatten uns am Brunnen verabredet, erinnere ich sie, und ich warte nun schon über zwanzig Minuten. Nein, aber was meinen Sie denn?, fragt sie verstört, sei denn der Mann, mit dem sie seit zwanzig Minuten zusammensitze, nicht ich?! Ich scherze doch sicher nur mit ihr, richtig? Jetzt bekomme ich einen Lachanfall. Nein, nein, ich solle sofort aufhören, verlangt sie, das könne nicht angehen, und flüchtet auf die Toilette, um das Gespräch fortzusetzen.

    Ist das Ihr Ernst, sagen Sie mal, warten Sie tatsächlich immer noch am Springbrunnen? Kommen Sie ans Fenster, antworte ich, und sehen Sie selbst. Sie tritt ans Fenster des Cafés; ich sehe sie sich geheimnistuerisch ducken mit dem Handy am Ohr, doch sie sieht mich erst, als ich ihr mit dem leuchtenden Handy zuwinke. Kommen Sie am besten heraus, sage ich. Nein, um nichts in der Welt sei sie bereit, an ihrem Tisch vorbeizugehen, an dem das andere Ich sitze. Ich solle hereinkommen, bittet sie, so schnell wie möglich.

    Ich gehe hinein, immer noch belustigt über die Situation, und steuere auf sie zu. Wir treffen uns auf halbem Weg an ihrem Tisch; das andere Ich steht lächelnd auf; komisch, sogar abgesehen von dem blauen Hemd sieht er mir etwas ähnlich, ist nur selbstzufriedener, vielleicht weil es ihm vorübergehend gelungen ist, ein anderer zu sein.

    Warum haben Sie mir gesagt, Sie hießen Adam?, fragt sie ihn empört, warum sind Sie mit mir hereingekommen? Er lächelt immer noch, behauptet, sie habe ihn angesprochen und er heiße in Wirklichkeit Rolf Eidehalt; ja, diesen Namen gebe es, es sei ein bayerischer Name. Und sehe sie jetzt ein, wie sie sich habe irren können? Sie sieht es ein. Passen Sie auf sie auf, wagt er mir im Gehen noch zu sagen und legt mir, immer noch lächelnd, die Hand auf die Schulter.

    Sie kann sich nicht beruhigen; verstehen Sie diesen Kerl, faucht sie empört, ich kann nicht glauben, dass mir das passiert ist. Sie setzt sich erst, als sie merkt, dass ich warte, bis sie Platz nimmt. Wissen Sie was?, sagt sie nach längerem Schweigen, wie jemand, der nach kurzem Lauf wieder ruhig zu atmen sucht, sie habe ihn tatsächlich angesprochen, zugegeben; er habe Adam gesagt, oder das habe sie zumindest verstanden, und er trug ein blaues Hemd … Und am Ende dieses Satzes deutet sie mit ausgestrecktem Zeigefinger auf mein Hemd, das eigentlich eher hellblau ist.

    So, sie hat sich beruhigt. Die übrigen Finger gesellen sich dazu, und sie reicht mir die Hand zu einem warmen Händedruck. Eva Weiß, Adam Schumacher, sehr angenehm. Ob ich einen Teil des Manuskripts mitgebracht hätte, möchte sie wissen. Ich erinnere sie daran, dass ich laut Plan bei null anfangen solle, jede Woche ein Kapitel: »Adam Schumachers Rückkehr« – Max’ zündender Einfall, wie ich mich als Schriftsteller neu erfinden könne.

    Ja, richtig, was rede sie denn. Ob ich vorhätte, über meine Frau zu schreiben, fragt sie, holt eine Zigarette heraus, und ihre Frage klingt wie: Stört es Sie, wenn ich rauche?

    Verzeihung, sagt sie, als sie mein Schweigen bemerkt, nach dem Vorfall mit Rolf hatte sie gedacht, das Eis sei gebrochen, sie bittet um Entschuldigung und steckt die Zigarette wieder in die Handtasche. Ich habe wohl ohnehin schon eine Exklusivmeldung für die Abendausgabe, sagt sie lächelnd. Ob sie vorhätte, über das hier Geschehene zu schreiben? Nein, sie weiß nicht, vielleicht.

    Gut, wieso schreibe ein Schriftsteller wie ich einen Fortsetzungsroman, fragt sie und stellt ein kleines Aufnahmegerät zwischen uns, wobei ihre Augen wieder sagen: Stört es Sie, wenn ich rauche? Aber sie meint das Gerät. Wenn Sie einen Scoop haben wollen, liefere ich Ihnen einen, sage ich, und sie hört tatsächlich zu. Ich tue es, weil ich so was noch nie gemacht habe, die Herausforderung lockt mich. Ob ich die deutsche Sprache denn nicht mehr beherrsche, fragt sie, versteht noch nicht. Ich fahre fort: Vielleicht würde ich eine Schreibblockade erleben, eine Lähmung der Schaffenskraft, weil ich wie vor laufender Kamera schreiben müsse, es gibt ja kein fertiges Manuskript, das

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