Die Politisierung der Sicherheit: Vom inneren Frieden zur äußeren Bedrohung
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Book preview
Die Politisierung der Sicherheit - Frédéric Gros
Die Politisierung der Sicherheit
Frédéric Gros
Die Politisierung der Sicherheit
Vom inneren Frieden zur äußeren Bedrohung
Aus dem Französischen
von Ulrich Kunzmann
INHALT
Vorwort
KAPITEL I. Die Gemütsruhe des Weisen. »Sicherheit: Vertrauensvoller und ruhiger Geisteszustand«
Die Stoiker: Sicherheit der Selbstbeherrschung
Die Epikureer: Die Sicherheit der Lust
Die Skeptiker: Die Sicherheit der Entsagung
KAPITEL II. Der Sonntag der Geschichte. »Sicherheit: Fehlen von Gefahren«
Der millenaristische Glaube: Ursprünge
Sicherheit der Gegenwart: Die Armenkreuzzüge
Sicherheit des Geistes: Die Nachwirkungen des Joachim von Fiore
Sicherheit der Gleichheit: Das kommunistische Millennium
Sicherheit des Reichs: Der Kaiser der Letzten Tage
KAPITEL III. Der Garantiestaat. »Sicherheit: Element der materiellen öffentlichen Ordnung; es wird vom Fehlen von Gefahren für Leben, Freiheit oder das Eigentumsrecht der Personen gekennzeichnet«
Rechtssicherheit
Militärische Sicherheit
Die polizeiliche Sicherheit
KAPITEL IV. Biosicherheit. »Sicherheit: Was den normalen Ablauf einer Tätigkeit, die normale Entwicklung eines Prozesses ermöglicht«
Schutz
Kontrolle
Regulierung
Schlussbemerkung. Über einige Bedeutungsfokusse
Nachbemerkung zur deutschen Ausgabe
ANHANG
Tabelle der großen Konzepte der Sicherheit im modernen Zeitalter
Anmerkungen
Bibliografie
Vorwort
In Medien und Politik ist die Sicherheit heute in aller Munde. In der Öffentlichkeit beruft man sich auf sie, und die politischen Entscheidungsträger werden nicht müde, von ihr zu reden: Man bedauert, dass sich das Unsicherheitsgefühl verschärfe; man doziert, dass Sicherheit die wichtigste Freiheit sei; unter Bezugnahme auf zahlreiche Meinungsumfragen stellt man fest, dass Sicherheit zusammen mit Arbeitslosigkeit und Ökologie zu den Hauptsorgen der Bevölkerung zähle. Für die kindliche Entwicklung und die Selbstverwirklichung des Erwachsenen soll sie eine unerlässliche Voraussetzung bilden. Seit einigen Jahren sind außerdem bestimmte neue Begriffe aufgetaucht: »Ernährungssicherheit«, »Energiesicherheit«, »menschliche Sicherheit« usw. Schließlich boomt der Wirtschaftszweig der Sicherheit in allen seinen Formen (Informatik, Domotik, Überwachung). Wenn alles schlecht läuft und die Ängste zunehmen, füllen sich die Sicherheitsverkäufer die Taschen. Aber was ist Sicherheit? Ein Gefühl, ein politisches Programm, eine materielle Kraft, eine Nebelwand, eine Hoffnung, ein Fluch, eine pathologische Zwangsvorstellung, eine Quelle der Legitimität, eine Ware, eine öffentliche Dienstleistung? Betrachten wir zuerst einige Definitionen.
Sicherheit (sécurité): »Gut oder schlecht begründete Geistesruhe bei einer Gelegenheit, da Anlass zur Furcht bestehen könnte« (Littré). »Vertrauensvoller und ruhiger Geisteszustand« (Trésor de la langue française). Demnach soll Sicherheit eher ein ausgewogener mentaler Zustand, eine ruhe- und vertrauensvolle, friedliche seelische Verfassung als ein bloßes Gefühl sein. In diesem ersten Sinne wäre Sicherheit, was man heute Gemütsruhe nennen würde. Diese Bedeutung kommt direkt aus dem Lateinischen: Man nennt securus, wer sine cura ist: frei von Sorgen, unbeschwert von Störungen, ohne Beunruhigung. Dieser Sinn wird sich im Französischen lange erhalten: Bei Rousseau zeichnet Sicherheit reine Seelen aus, ganz wie die Julies in seiner Neuen Heloise. Nur jene, die ein ruhiges Gewissen und ein tugendhaftes Herz haben, können sich der Sicherheit erfreuen. Betont wird hier also nicht das Fehlen von Gefahren oder die Abwesenheit von Bedrohungen, sondern der Umstand, dass diese Gefahren nicht den Seelenfrieden beeinträchtigen, nicht die Geistesruhe bedrohen. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass nichts den Schlaf des Gerechten stören kann, dass einen von dem Moment an, da man mit seinem Gewissen im Reinen ist, nichts mehr zu ängstigen vermag. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts stellen die Wörterbücher der Académie française fest, dass diese Ruhe »in einer Zeit bzw. bei einer Gelegenheit« empfunden werde, »da Anlass zur Furcht bestehen könnte«. Damit soll ausdrücklich betont werden, dass diese Sicherheit nicht das Vorhandensein von Bedrohungen ausschließt, ganz im Gegenteil: Denn sie hängt nicht von der Abwesenheit äußerer Gefahren, sondern von einer zutiefst innerlichen subjektiven Festigkeit ab. Diese ausdrückliche Betonung spiegelt sich in den Zitaten wider, die die Akademiewörterbücher in der Ausgabe von 1762 anführen: »Inmitten so vieler Gefahren fürchtet Ihr nichts, Eure Sicherheit erstaunt mich.« »Voll unglaublicher Sicherheit schlief er inmitten der Feinde.« »Mit großer Sicherheit des Gewissens.«
Sicherheit (sécurité): »Fehlen von Gefahren« (Académie française, 1935). »Auf materiellen, wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen beruhende objektive Lage, die das Fehlen von Gefahren für Personen oder von Bedrohungen für Güter mit sich bringt und die Vertrauen bewirkt« (Trésor de la langue française). »Lage, in der jemand oder etwas keiner Gefahr oder Bedrohung, insbesondere durch einen tätlichen Angriff, durch Unfälle, Diebstahl oder Beschädigung, ausgesetzt ist« (Larousse). Hier macht sich ein Umschwung bemerkbar: Die Sicherheit bezeichnet keinen Gemütszustand mehr, sondern eine objektive Lage. Es geht nicht mehr darum, eine von nichts zu beeinträchtigende innere Ruhe zu kennzeichnen, nicht einmal um das handgreifliche Vorhandensein von Gefahr, sondern um das wirkliche Fehlen von Bedrohungen, eine Situation, in der die Risiken tatsächlich, wirklich, objektiv beseitigt und die Gefahren gebannt wurden. Wenn man beispielsweise von einem Menschen sagt, er sei »in Sicherheit«, so weist man darauf hin, dass er sich nunmehr in einer Lage befindet, in der er keiner Gefahr ausgesetzt ist. Wenn man einen Gegenstand »in Sicherheit« bringt, so schafft man ihn an einen Ort, wo ihn nichts bedroht und wo er nicht weggenommen oder beschädigt werden kann.
Sicherheit (sécurité): »Element der materiellen öffentlichen Ordnung; durch das Fehlen von Gefahren für Leben, Freiheit oder das Eigentumsrecht der Personen gekennzeichnet« (Trésor de la langue française). Diese spezifische als auch umfassende dritte Begriffsbestimmung verbindet die Sicherheit mit dem Staat, der als zentralisierte politische Einheit, als öffentliche Gewalt verstanden wird. Man spricht von »öffentlicher« Sicherheit, wenn man den Schutz der Güter und der Personen gegen Angriffe und Diebstähle, doch auch die Verteidigung der Institutionen gegen Subversionen, Rebellionen und Aufstände bezeichnen will, von »kollektiver« Sicherheit, wenn man die zwischenstaatlichen Bündnisabsprachen und andere diplomatische Übereinkommen bezeichnen will, die geeignet sind, einen Dritten von einer Aggression abzuhalten, und von »militärischer« Sicherheit, wenn man einen Komplex von Streitkräften bezeichnen will, die jeden Überfall auf das Territorium verhindern können. In diesem Fall erscheint der Staat als Garant der Sicherheit: Er garantiert die Rechte der Personen, den Schutz ihres Lebens und ihrer Güter, die territoriale Integrität eines Landes, die Stabilität der Regierung, die öffentliche Ordnung. Der Staat ist Sicherheit.
»Sicherheits-« tritt als Teil von Wortzusammensetzungen auf: »[In Bezug auf einen konkreten oder abstrakten Sachverhalt] Was den normalen Ablauf einer Tätigkeit, die normale Entwicklung eines Prozesses ermöglicht« (Trésor de la langue française). Wenn man zum Beispiel über einen »Sicherheits«-Vorrat verfügt, versetzt man sich in die Lage, niemals auf die Versorgung verzichten zu müssen und jede Nachfrage befriedigen zu können. Sicherheit bedeutet hier, einen Vorgang so zu flankieren, dass er ungestört und ununterbrochen verläuft. In einem weiteren Sinne geht es um ein Ensemble von Maßnahmen, die die Kontinuität eines Prozesses sichern sollen. In diesem Sinne spricht man heute von »Informatiksicherheit«, aber auch von »Ernährungssicherheit« (dass man einer bestimmten Bevölkerung einen ständigen Nachschub von Nahrungsmitteln sichert), von »Energiesicherheit« (Aufspeicherung, Vervielfältigung der Versorgungsquellen, Krisenvorsorge).
Anhand dieses ersten Überblicks über die gängigsten Definitionen der Sicherheit lassen sich vier große Dimensionen unterscheiden: Sicherheit als Geisteszustand, als seelische Verfassung des Subjekts; Sicherheit als objektive Lage, als durch das Fehlen von Gefahren und das Verschwinden der Bedrohungen gekennzeichneter Weltzustand; Sicherheit als staatliche Garantie der Grundrechte, des Schutzes der Güter und Personen, der öffentlichen Ordnung, der territorialen Integrität; schließlich Sicherheit als Kontrolle der Versorgungsströme. Diese vier Dimensionen wechseln sich im Konzept der Sicherheit ab. Sie bestimmen seine Konsistenz und seine Spannungspunkte.
Hier soll nun jede einzelne dieser großen Dimensionen erkundet werden, indem wir vier bestimmte historische Problemstellungen prüfen. Sicherheit als Gemütsruhe und Seelenzustand wird ausgehend von den antiken spirituellen Techniken, insbesondere denen der hellenistischen und römischen Philosophie, untersucht. Die großen stoischen, epikureischen und skeptischen Weisheitslehren haben sich tatsächlich als wahrhaftige »Sicherheitsunternehmen« in dem Sinne dargestellt, dass sie ihren Schülern verhießen, Seelenstärke und unerschütterliche Geistesruhe zu erringen.
Sicherheit als Fehlen von Gefahren und Verschwinden der Bedrohungen soll ausgehend von der millenaristischen oder chiliastischen Glaubensvorstellung beschrieben werden. Das Christentum hat tatsächlich die Utopie eines tausendjährigen Reiches ausgemalt, in dem die wiedervereinigte Menschheit eine Zeit vollkommenen Glücks erleben soll. Krankheiten und Qualen verschwinden, Mühsal und Arbeit enden, alle Formen der Knechtschaft werden beseitigt, alle Mächte des Lasters und des Bösen erleiden eine vollständige Niederlage, mit jeder Aggressivität zwischen den Menschen ist es vorbei – in dieser Zeit badet die wiedergeborene Menschheit im inneren Glück. Die Kirche verurteilte diese Glaubensvorstellung sehr früh als häretisch. Während des ganzen Mittelalters bildete sie trotzdem den Ausgangspunkt vieler politischer, gesellschaftlicher und religiöser Bewegungen. Von der Hoffnung auf eine verheißene Zeit endgültiger Sicherheit erfasst, strebten diese Bewegungen danach, die Geschichte zu beschleunigen, damit dieses Goldene Zeitalter anbrechen möge.
Sicherheit als Komplex staatlicher Garantien ist ein Produkt der Neuzeit: Durch die Gründungstexte des politischen Denkens (Hobbes, Locke, Rousseau), durch die für das Europa nach dem Westfälischen Frieden (von Richelieu bis Bismarck) gültigen geopolitischen Konzepte, schließlich durch den Aufbau einer modernen Polizei etabliert sich das ganze System der Sicherheit zunehmend im Sinne der Einrichtung und Aufrechterhaltung einer öffentlichen und internationalen Ordnung. Es entsteht eine Anzahl von Begriffen (Überwachung, Gleichgewicht der Kräfte, Staatsräson, Reglementierungen, Ausnahmezustand usw.), die das ständige Erbe und die feste Grundlage für unsere Vorstellungen von der Sicherheit als öffentlichem Gut bilden.
Der letzte Bedeutungsfokus der Sicherheit als Kontrolle der Versorgungsströme ist weniger klar bestimmt, jedoch grundlegend. Er lässt sich in solchen Ausdrücken wie Ernährungs-, Energie-, Gesundheitssicherheit, affektive Sicherheit oder auch »menschliche Sicherheit« finden und ermöglicht es, neue Konzepte auszuleuchten (»Rückverfolgbarkeit«, »Vorsorge«), aber auch, die Konzepte »Kontrolle«, »Schutz«, »Regulierung« zu hinterfragen. Um ihn zu untersuchen, kann man sich auf Diskurssysteme (Theorie der menschlichen Sicherheit, Vorsorgeprinzip), aber auch auf Techniken oder Praktiken (Überwachungskameras, RFID-Chips, Biometrie) beziehen, die alle unserer Zeit angehören.
Kapitel I: Die Gemütsruhe des Weisen
»Sicherheit: »Vertrauensvoller und ruhiger Geisteszustand«
Im ursprünglichen Sinn bezeichnet Sicherheit einen Seelenzustand, eine durch Vertrauen, Ruhe und Frieden gekennzeichnete subjektive Verfassung. In historischer Hinsicht ist dies die erste Bedeutung des Begriffs. Sicherheit als Gemütsruhe bildet einen Schwerpunkt der großen hellenistischen Weisheitslehren. Die bedeutenden Philosophieschulen, die sich seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. entwickeln, definieren diese Sicherheit als das wichtigste Wesensmerkmal des Weisen und vermitteln spirituelle Techniken, mit denen sie sich erwerben lässt.
Die Stoiker: Sicherheit der Selbstbeherrschung
Es bietet sich an, die Untersuchung dieses Bedeutungsfokus mit einem Hinweis auf die Techniken der Stoiker einzuleiten. Es handelt sich um Senecas berühmte, an Lucilius gerichtete Erklärung: »securitas autem proprium bonum sapientis est« (»Sicherheit aber ist des Weisen eigenes Gut«¹). Die griechische Entsprechung ist ataraxia, wie sie zum Beispiel bei Epiktet verwendet wird: »Wenn du dagegen die Befreyung von Leidenschaften, Unabhängigkeit und Gemüthsruhe [Sicherheit – ataraxia] einzutauschen Lust hast; […] um […] bald ein Philosoph […] zu seyn […].«² Bei Seneca verbindet sich die securitas mit den Begriffen tranquillitas (Ruhe), quies (Seelenfrieden), aber auch mit magnitudo (Seelengröße). So etwa: »Was ist das glückliche Leben? Sorglosigkeit und beständige innere Ruhe (securitas et perpetua tranquillitas)! Das wird dir geben die Seelengröße […].«³ Bei Epiktet steht ataraxia zusammen mit eleutheria (Freiheit) und manchmal mit apatheia (Leidenschaftslosigkeit).
Die stoische Ethik ist im Wesentlichen eine Ethik der vollkommenen Selbstbeherrschung, der Herausbildung eines starken Selbst, das den stürmischen Angriffen der Welt vollkommen trotzt. Gegenüber den Unsicherheiten der Zeitläufte, angesichts der Unglücke und großen Missgeschicke des Lebens bleibt der stoische Weise aufrecht und standhaft. Er wird nicht schwanken, sondern alles ertragen, ohne zu murren. Da haben wir das berühmte Bild des mitten in den Stürmen des Lebens mit hoch erhobenem Haupt stehenden Weisen. Dieses Ideal der Selbstbeherrschung und Kraft, dieses Ideal der inmitten aller Schrecknisse bewahrten Gemütsruhe und der mustergültigen Unerschütterlichkeit zu erreichen, während uns der Strudel mitreißt, kurz gesagt, diese securitas oder ataraxia als ständigen Geisteszustand zu erringen, das verlangt eine ungeheure Disziplin, ein ständiges Mühen und regelmäßige, wiederholte Übungen. Die skeptische ataraxia setzt, wie man noch sehen wird, eine ursprüngliche kognitive Entscheidung, eine grundlegende Bekehrung, einen einschneidenden geistigen Akt voraus, die man danach stärken und fortführen muss, da sie tief verwurzelten geistigen Gewohnheiten widersprechen. Die epikureische ataraxia erhält sich hingegen durch eine ständige Kultur der Einfachheit, die zur Grundlage hat, dass man auf falsche Freuden verzichtet, die Illusion der gesellschaftlichen Anerkennungen aufgibt, das Gift der unnützen Befriedigungen ablehnt. Die stoische ataraxia ist die anspruchsvollste von den dreien, denn sie setzt lange und schwierige Einübungen voraus. Wenn nämlich der skeptische Weise seinen Gleichmut und sein belustigtes Lächeln mitten unter den Dogmatikern vorführt, wenn sich der epikureische Weise vor der Welt und den heulenden Wölfen schützt, wobei er Zeit und Brot mit wenigen Freunden teilt, so trotzt der stoische Weise der Unordnung der Welt und wehrt sich: Er wirkt in der Stadt, er berät die Mächtigen, er beteiligt sich an politischen Kämpfen. Eigentlich erprobt er unablässig seine innere Kraft und Sicherheit im Zusammentreffen mit den Massen, in den politischen Kämpfen, bei den Volksversammlungen. Sein ganzes Leben gestaltet sich als Bewährungsprobe. Das immer wieder auflodernde Feuer der politischen Aktion schmiedet den Stahl der souveränen Gemütsruhe. Der Stoizismus, die Ethik des Mutes, der Tat, der Standhaftigkeit, setzt eine innere Disziplin und eine fortwährende Auseinandersetzung mit der äußeren Welt, ein ständiges Eintauchen in die Angelegenheiten der Welt voraus.⁴
Wie gesagt, es geht darum, im Getöse der Welt aufrecht zu bleiben, seine Selbstbeherrschung zu bewahren, seinen Kurs in den Stürmen zu halten und auch im schlimmsten Unwetter weiterhin ein beispielhaftes Verhalten zu zeigen.⁵ In der allgemeinen Unsicherheit der Welt gilt es, eine absolute innere Sicherheit zu bewahren. Dieses Selbstbewusstsein wird langsam und Schritt für Schritt errungen. Es verlangt vorbereitende Übungen. Um nie zu erlahmen, muss man sich vor allem immer wieder am Kampf beteiligen, seinen Platz in der ersten Reihe des Unheils, die den herabregnenden Schlägen am nächsten ist, behaupten. Die Selbstbeherrschung ist in vier Bereichen Bedrohungen ausgesetzt, auf die sich auch das Bemühen um Sicherheit konzentrieren muss. Zunächst gibt es die Ereignisse, die Unglücksfälle, die Dramen oder sogar die göttergemachten Überraschungen. Es handelt sich um alles, was eintritt (Katastrophen oder Glücksfälle) und in der Seele nicht zu unterdrückende Emotionen und lebhafte Unruhe hervorruft. Die Sicherheit muss sich zuerst auf die Vorstellungen von der äußeren Welt konzentrieren. Sie unterrichten mich über das, was kommt. Als destabilisierend erweist sich hingegen nicht das, was draußen geschieht, sondern das, was, hier der zweite Bereich, im Innern wirkt: die Regungen des Verlangens, die von Ängsten und Hoffnungen hervorgerufene Verwirrung, die unruhigen Bestrebungen. Verwirren können mich all diese Seelenregungen, die mich dazu bewegen, das eine wahnsinnig herbeizuwünschen, das andere verzweifelt abwenden zu wollen und mich in einem dritten Feld leidenschaftlich um etwas zu bemühen. Denn ich bin nicht nur der, dem etwas geschieht, der im tiefsten Innern die widersprüchlichen Regungen der Wünsche und Ängste fühlt, sondern auch ein Mann der Tat: Ich handele, ich unternehme, ich gestalte. Was nun meine Standhaftigkeit bedroht, ist ganz einfach der Misserfolg, der Fehlschlag, der Zusammenbruch meiner Unternehmungen, das Scheitern der Pläne. Der letzte große Unsicherheitsbereich ist schließlich die Aussicht auf den Tod, auf das Nichts, das unerbittlich auf mich wartet. Selbst wenn es mir gelingt, mich nicht mehr von meinen Vorstellungen beeindrucken, mich nicht mehr von meinen Wünschen mitreißen, mich nicht mehr in meinen Unternehmungen entmutigen zu lassen, bleibt dieser allerletzte, unermessliche, endgültige Unsicherheitsbereich: mein baldiger Tod. Man kann hier an eine Maxime aus dem Altertum erinnern, selbst wenn sie von Epikur stammt: »Im Hinblick auf den Tod bewohnen wir alle eine Stadt ohne Mauern.«⁶
Die ganze stoische Ethik besteht nun in der Gestaltung der vier großen Sicherheiten: Sicherheit der Vorstellung, Sicherheit des Verlangens, Sicherheit des Handelns und schließlich Sicherheit gegenüber dem Tod. Dem Weisen wird es durch ein Übungsprogramm, durch spirituelle Praktiken zunehmend gelingen, aus sich selbst, aus seiner Seele eine, um es in immer wiederkehrenden Bildern auszudrücken, uneinnehmbare Festung,⁷ einen unerschütterlichen Felsen inmitten der wild brausenden Wogen⁸ zu machen.
Zuerst also die Sicherheit der Vorstellung. Wenn uns eine unheilvolle, destabilisierende, dramatische, unglückliche Vorstellung von außen erreicht (eine Trauernachricht, die Mitteilung eines Verlustes, einer Katastrophe: in Flammen stehendes Haus, beschlagnahmte oder gestohlene Reichtümer, Tod eines Angehörigen), so setzt uns diese Vorstellung offenbar der Gefahr aus, uns um alle Gemütsruhe zu bringen und in einen Strudel des Jammers zu ziehen. Dann heißt es, unverzüglich mit der Arbeit zu beginnen: sich nicht vom Bild faszinieren lassen, nicht seiner dramatischen Ausdrucksweise erliegen, sondern ihm unbedingt eine seelische Tätigkeit entgegensetzen, die den Eindruck überwinden, bezwingen, beherrschen kann. Für die stoische Schule muss sich die Aufgabe vorrangig auf den »inneren Diskurs«⁹ konzentrieren, den die Vorstellung in uns hervorruft. Diese Arbeit erweist sich als entscheidend, denn unsere Affekte sollen, wenn man den Lehren der Stoiker folgt, insgeheim immer von einem Urteil abhängen. Wenn ich unglücklich bin, so deshalb, weil ich urteile, dass »das, was mir geschieht, ein Unglück ist«; wenn ich Angst habe, so deshalb, weil ich urteile, dass »das, was ich erfahre, schrecklich ist«; wenn ich mich fürchte, so deshalb, weil ich glaube, dass »das, was sich ankündigt, schlimm ist«. Man müsste diesen inneren Diskurs, diesen Komplex von impliziten Urteilen, die Auslöser, Wurzel und Ursache unserer Emotionen, Betrübnisse und Ängste sind, kontrollieren und ändern können. Die Entdramatisierung unserer Vorstellungen, die Loslösung von allem, was es in den Weltnachrichten an Erschütterndem geben kann, gehören zu dieser ersten Arbeit, die darin besteht, anstelle unkontrollierter, das Unglück vertiefender Gedanken, anstelle heimlicher, das Herz verdüsternder Diskurse einige ethische Riegel vorzuschieben, die die Seele stärken und jeden Überschwang verhindern können. Es geht also darum, Techniken zu definieren, um diesen inneren Diskurs zu formatieren, der die Seele in allen Richtungen umtreibt, damit man sie im Gegenteil fest im Gleichgewicht hält.
Der erste Imperativ lautet, die eintretende Vorstellung zu kategorisieren. Dies bedeutet im Grunde ganz einfach, sie ausgehend von einem einzigen Kriterium zu klassifizieren, das bestimmt: »hängt von mir ab« oder »hängt nicht von mir ab«. Dies ist die berühmte, von Epiktet unermüdlich wiederholte goldene Regel des Stoizismus: Ich muss unterscheiden können, was von mir abhängt und was nicht. Bei allen Vorgängen in der äußeren Welt (Folge von Ereignissen, Vermögen, Begegnungen, unheilvolle Zufälle, unglückliche Koinzidenzen usw.), in Bezug auf die Materialität der Körper (Krankheit, Verfall, Zersetzung, Abnutzung usw.), bei den gesellschaftlichen Arrangements (Anerkennung, Aufstieg, Rangordnung usw.), bei allem, was schließlich die materiellen Reichtümer, die körperliche Gesundheit oder den Sozialstatus betrifft, bei alldem hängt nun in strengem und absolutem Sinne nichts von mir ab, denn alles, was mit den Körpern, den Dingen und dem Status geschieht, hängt mit einer Kombination von Umständen zusammen, die weit über mich hinausreicht. Sobald mir etwas geschieht, soll ich daher nicht mit dem Ruf »welch ein Unglück!« reagieren, sondern die Vorstellung der Kategorie »hängt nicht von mir ab« zuordnen, um dann zum Beispiel hinzufügen zu können: »Das ist also gleichgültig.« Da das, was mir geschieht, von Kausalitätsketten abhängt, die sich mir gewiss entziehen, muss man mit diesem Eingeständnis der Ohnmacht antworten, das eine Quelle der Gemütsruhe in sich birgt. Um die innere Sicherheit zu bewahren, soll diese erste, sehr negative Etappe darin bestehen, die Vorstellung einfach zu neutralisieren. Ich löse mich von ihrem Inhalt, indem ich ihn als fremd bezeichne: »Das hängt nicht von mir ab«, »das ist gleichgültig«.¹⁰
Wenn man sich erst einmal für stark genug hält, um den Missgeschicken der Welt seine geringschätzige Ohnmacht entgegenzusetzen, kann in Bezug auf die äußeren Vorstellungen eine zweite Sicherungstechnik Anwendung finden. Diese besteht in einer aktiveren Verarbeitung der Gegebenheiten der Welt. Bleibt man bei der ersten Etappe stehen, führt das zu einer etwas reizlosen Sicherheit. Anstatt sich mit einem »dafür kann ich nichts« beinahe feige vom Inhalt der Vorstellung abzuwenden und dem Problem auszuweichen (resignierte Sicherheit), wird der Weise bei allem, was ihm zustößt, bald und direkter die Frage des Gebrauchs stellen.
Das Problem wird nun: Welchen Gebrauch – den erhabensten, edelsten, philosophischsten, mit den mir selbst gegebenen Regeln am besten übereinstimmenden, den der innersten Natur der Welt angemessensten – soll ich von dem machen, was mir widerfährt, was mich von außen erreicht? Wie soll ich auf das antworten, was mir geschieht? Mit Tränen und Verzweiflung? Mit ruhiger Standhaftigkeit, mit der Suche nach einer Lösung? Mit Mut, Spott, vernünftigem Ausweichen? Die Beziehung zum Realen wird zu einer technischen Frage. Es empfiehlt sich, sich nicht der Verwirrung, nicht jeder äußeren Vorstellung hinzugeben, sondern ihnen einen Pflichtenkatalog entgegenzuhalten. Ich verliere einen Freund, ich bin ruiniert, ich erwache mit einem Leiden: Jedes Mal konsultiere ich das Register der Haltungen, die in diesem oder jenem Fall einzunehmen sind. Gegenüber dem Unglück der anderen gilt es, eher Solidarität als Mitleid zu zeigen und ihnen zu helfen, ohne mich von erweichenden Tränen überwältigen zu lassen. Meinen Angehörigen gegenüber werde ich Mut brauchen. Es geht jedes Mal darum, den Geschehnissen gewachsen zu sein und jedes Ereignis nach seinem möglichen Gebrauch abzuklopfen: Worin besteht der edelste Gebrauch, der sich von dem, was mir zustößt, machen lässt? In diesem Fall wird der Inhalt der Vorstellung durchaus berücksichtigt. Man gibt sich nicht damit zufrieden, auf abstrakte Weise über ihn hinauszugehen, indem man Gleichgültigkeit vorgibt (»hängt nicht von mir ab«). Vielmehr ist man ihm gegenüber mit einem Katalog von Verhaltensschemata gewappnet, die im Voraus die angemessene Reaktion bestimmen.¹¹
Es gibt eine zweite Art von auffälligeren Vorstellungen, die jedoch ebenso nachteilig für unsere Sicherheit sind wie die Bilder der Trauer und des Ruins. Es sind die Vorstellungen vom Glück der anderen, von deren gesellschaftlichem Erfolg und Wohlergehen. Nichts kann uns so vollständig deprimieren wie das Glück der anderen: Durch die Spiele der Einbildung und der Vergleiche macht mich das Glück der anderen unfehlbar missmutig, und es ist gerade so, als beraubte man mich der Güter und Vergnügungen, die sie zur Schau stellen. Gleichfalls können Erinnerungen an früheres Glück oder auch einigermaßen intensive ästhetische Eindrücke zu Emotionen führen, die die seelische Härte aufweichen. Dann ist angeraten, zusätzlich Übungen festzulegen, mit denen sich die deprimierenden oder einfach beunruhigenden Auswirkungen bunter Bilder neutralisieren lassen, um in uns die destabilisierenden Leidenschaften des Neids und des Ressentiments oder auch Nostalgie und sogar ästhetisches Entzücken zu beherrschen. Hier hat sich eine fast vollkommene Aufteilung ergeben: Wenn der ehemalige Sklave Epiktet, der lange die Quälereien eines demütigenden und grausamen Herrn ertragen hatte, vor allem Übungen ersinnt, mit denen sich betrübliche Vorstellungen abwenden lassen, so beschreibt der Kaiser Mark Aurel eher Techniken, mit denen man sich in der gesellschaftlichen Maskenkomödie gegen die Bilder auffälliger Erfolge und prahlerischer Freuden, genauso aber auch gegen schwindelerregende Schönheit wenden kann.
Zwei Techniken lassen sich benutzen, wenn man sich von der wirren Faszination dieser Vorstellungen befreien will: sequenzielle Einteilung und materielle Zerlegung. Es handelt sich jedes Mal um eine analytische Methode: Man reduziert das Gesamtbild auf kleinere Einheiten. Sequenzielle Einteilung: Wenn zum Beispiel, schreibt Mark Aurel, ein Lied euer Herz ergreift und ihr der Rührung zu verfallen droht, so bemüht euch, die Noten nur in ihrem Nebeneinander wahrzunehmen, als wären sie voneinander getrennt und ohne gegenseitige Beziehung.¹² Lehnt es ab, der melodischen Linie zu folgen, und seid bestrebt, immer nur eine Note nach der anderen wahrzunehmen. Wenn man am Abendhimmel plötzlich eine stumme Symphonie von zusammen fliegenden Hunderten Vögeln miterlebte,