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Erinnerungskriege: Der Erste Weltkrieg, Österreich und die Tiroler Kriegserinnerung in der Zwischenkriegszeit
Erinnerungskriege: Der Erste Weltkrieg, Österreich und die Tiroler Kriegserinnerung in der Zwischenkriegszeit
Erinnerungskriege: Der Erste Weltkrieg, Österreich und die Tiroler Kriegserinnerung in der Zwischenkriegszeit
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Erinnerungskriege: Der Erste Weltkrieg, Österreich und die Tiroler Kriegserinnerung in der Zwischenkriegszeit

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KRIEGSERINNERUNG DER ZWISCHENKRIEGSZEIT IN POLITISCH GOUTIERTEN BAHNEN
Zur Heroisierung und Ästhetisierung des Krieges in Kunst, Dichtung und Geschichtsschreibung und der Prägung des Bildes vom "gefallenen Helden".
In der Ersten Republik kommt es zu keiner wissenschaftlich-kritischen Auseinandersetzung mit dem Krieg. Die Erinnerung an die Kriegsjahre wird im zwischenkriegszeitlichen Österreich als zutiefst traumatisch empfunden. Mit der Kriegsgeschichtsschreibung befassen sich fast ausschließlich militärische Kreise, deren Abwehrhaltung gegen Schuldzuweisungen bald aggressiven Rechtfertigungspositionen Platz macht. Nicht genuin militärischen Aspekten wie sozialen oder ökonomischen Faktoren kommt lediglich marginale Bedeutung zu.
Diese "Offiziersgeschichtsschreibung" bewegt sich ganz im Rahmen der allgemeinen politischen Entwicklung der Ersten Republik und dem damit verbundenen "ideologischen Mainstream". Die schleichende konservative Restauration, die ab Anfang der zwanziger Jahre auch nachhaltige Auswirkungen auf das offizielle Geschichtsbild des Ersten Weltkriegs zeitigt, schafft das ideologische Fundament, das die öffentliche Kriegserinnerung in uniforme, stereotype und politisch goutierte Bahnen lenkt.
Auch die Denkmal-Kultur, Filme und zahlreiche historischen Romane sind Ausdruck dieser Interpretation, in der Heroisierung und Ästhetisierung das Bild bestimmen und der getötete Soldat zum "gefallenen Helden" wird.
Oswald Überegger analysiert in diesem Buch die Konstituenten des Kriegsgeschichtsbildes in Österreich und Tirol in der Zwischenkriegszeit.
LanguageDeutsch
Release dateApr 23, 2014
ISBN9783703009044
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    Erinnerungskriege - Oswald Überegger

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    1. Einleitung

    Die Erforschung der regionalen Geschichte des Ersten Weltkrieges ist in den letzten Jahren auch und besonders in Tirol weit fortgeschritten. Von der bis in die 1980er Jahre vorherrschenden klassischen Betrachtungsweise, die sich vor allem der Operationsgeschichte des Gebirgskrieges und – allzu oft – der Verklärung seiner Protagonisten verschrieben hatte, verschob sich der Fokus hin zur Erforschung der so genannten ‚Heimatfront‘.¹ Die international und besonders in Deutschland ab Ende der 1980er Jahre prosperierende Alltags- und Mentalitätsgeschichte des Krieges² sowie die neue ‚Militärgeschichte von unten‘³ beeinflussten auch die österreichische respektive Tiroler Weltkriegsforschung, die sich im internationalen Vergleich allerdings relativ spät neueren Forschungsinteressen zuwandte.

    Die kriegsspezifischen, teilweise sehr konfliktreichen Beziehungen zwischen Staat, Militär und Gesellschaft, das Entstehen und die Auswirkungen der staatlichen Kriegs- und Mangelwirtschaft sowie – damit verbunden – die soziale Situation der Kriegsgesellschaft, der Komplex der vielgestaltigen Zwangsmaßnahmen des autoritären Kriegsstaates und die Rolle gesellschaftlicher Akteure und Kollektive im Krieg standen in den letzten Jahren im Mittelpunkt der Forschungen über Tirol im Ersten Weltkrieg.

    So differenziert und in gleichem Maße allumfassend die regionale Beschäftigung mit der Geschichte des Krieges auf den ersten Blick auch scheinen mag, werden bei näherer Betrachtung und im Kontext der neuesten Trends der internationalen Weltkriegsforschung doch auch merkliche Defizite sichtbar. Nach wie vor fehlt es auch für den zivilen Raum abseits der Fronten an Arbeiten, die stärker auf die erfahrungsgeschichtliche Ebene rekurrieren. Besonders bedauerlich erscheint die Tatsache, dass es auch in Tirol bisher an theoretisch-methodisch fundierten ‚Mikrogeschichten‘ fehlt, die unterhalb der stets fokussierten regionalen Räume auf lokaler, familialer oder individueller Ebene die mentalitäts- und erfahrungsgeschichtliche Dimension gewissermaßen ‚vor Ort‘ ausloten.

    Neben dem fehlenden mikrogeschichtlichen Blick stellt die forschungspraktisch bedingte starke Separierung der beiden Erfahrungsebenen von ‚Front‘ und ‚Heimat‘ ein weiteres Defizit dar. Sie ist letztlich auch eine Folge der oftmals überschätzten kriegsbedingten ‚Entfremdung‘ ziviler und militärischer Lebenswelten. Die Analyse von ‚Front‘ und ‚Heimat‘ als vielschichtige, miteinander verbundene Erfahrungs-, Erwartungs- und Sehnsuchtsräume bildet weiterhin ein Desiderat der Forschung. In diesem Zusammenhang könnte man sich etwa die Frage stellen, welche Brüche und Kontinuitäten es in der raum- und funktionsspezifischen Wahrnehmung von Front und Heimat gab.

    Die Fokussierung der zivilen Seite in der Erforschung der regionalen Geschichte des Ersten Weltkriegs brachte es nolens volens mit sich, dass die Perspektive des soldatischen Kriegserlebnisses letzthin etwas außerhalb des Blickwinkels der Forschenden geriet. Obwohl in den letzten Jahren einige Studien entstanden, fehlt es bisher an einer modernen Erfahrungsgeschichte der Tiroler Weltkriegssoldaten, die sich an aktuellen theoretisch-methodischen Vorgaben orientiert.⁷ Die bestehenden Studien – es handelt sich meist um universitäre Abschlussarbeiten – kommen für gewöhnlich über den Typus einer sehr konventionell und deskriptiv gehaltenen klassischen Alltagsgeschichte – meist als soldatische Leidens- und Passionsgeschichte verstanden – nicht hinaus.⁸ Die ganze Bandbreite der Gewalterfahrung und der eigentliche Akt des Tötens als Gewaltausübung spielen darin kaum eine Rolle. Im Zentrum stehen die Soldaten „als Befehlsempfänger, als leidende und passive Objekte der kriegerischen Gewalt und des militärischen Repressionssystems".⁹

    Neben der fehlenden Mikroperspektive, der zu starken Separierung kaum sinnvoll zu trennender Erfahrungsräume und der Vernachlässigung des soldatischen Kriegserlebnisses bildet die meist mit dem Ende der militärischen Auseinandersetzungen im November 1918 abreißende Perspektive der Untersuchungszeiträume zweifellos ein weiteres Manko. Die Nachkriegszeit ist in Wirklichkeit nicht ohne den Krieg zu verstehen. Soziale, mentale und psychosoziale Veränderungsprozesse wurzeln mit unterschiedlicher Intensität in den Kriegsereignissen und -erlebnissen. Erlebter Krieg und gegenwärtiges (Nachkriegs-)Handeln interagieren im Rahmen der Aktualisierungs- und Vergegenwärtigungsprozesse des in Erinnerung gerufenen Krieges auf vielfältige Weise. Mit Blick auf den gegenwärtigen Stand der Geschichtsschreibung ist gewissermaßen ein doppeltes Defizit zu konstatieren: Zum einen enden die Studien, die sich mit der Kriegszeit beschäftigen, mehr oder weniger abrupt mit dem Kriegsende. Zum anderen lässt sich auch innerhalb der österreichischen Geschichtsschreibung zur Ersten Republik beobachten, dass der Krieg als zentrales Ereignis und Erlebnis, das die individuellen Handlungsdispositionen vielfach entscheidend tangierte und Einfluss auf die Lebenswelten der Nachkriegszeit nahm, nicht gebührend oder lediglich sehr oberflächlich bzw. beiläufig berücksichtigt wird.

    Im Zentrum dieser Studie steht die bisher – das gilt für Österreich gleichermaßen wie für Tirol – in der Forschung vernachlässigte Kriegserinnerung der Zwischenkriegszeit. Sie versucht darzustellen, wann, warum und in welcher Weise Individuen, Institutionen oder gesellschaftliche Gruppen den vergangenen Krieg zum Gegenstand gegenwärtiger Betrachtungen machten. Und sie will veranschaulichen, über welche Medien des Gedächtnisses diese Aktualisierungsprozesse erfolgten. Die mentalen und psychosozialen Auswirkungen der Weltkriege für die Gesellschaftsentwicklung stellen in Österreich ein noch weitgehend unerforschtes Terrain dar. Noch sehr viel mehr als für den Zweiten Weltkrieg gilt dieser Befund für den Ersten Weltkrieg. Wissenschaftliche Untersuchungen über die Frage, welche Bedeutung dem erinnerten Krieg als Kategorie mentaler Gesellschaftsentwicklung im Frieden zukam, fehlen bisher ebenso wie Forschungsbemühungen, die sich mit der ineinandergreifenden Bedeutung von erinnerungskulturellen Residuen, wissenschaftlicher Aufarbeitung der Kriegsgeschichte und verarbeitendem Umgang mit dem Krieg nach 1918 auseinandersetzen.

    Die Studie beschäftigt sich auf mehreren Ebenen eingehend mit den nach 1918 entstehenden Erinnerungskulturen des Krieges. Neben der politischen und militärischen Konstruktion der Kriegserinnerung sollen vor allem auch die erinnerungskulturellen Entwicklungstendenzen und die konkrete Bedeutung des erinnerten Krieges für die Nachkriegsgesellschaft analysiert werden. Ausgehend von den öffentlichen politischen bzw. militärischen Projektionen historischer Kriegserinnerung soll untersucht werden, inwiefern sich derartige Deutungsangebote erinnerungskulturell sedimentiert haben und wie bzw. in welcher Weise diese Wissensvermittlung konkret im lebensweltlichen Umfeld entstanden ist bzw. transportiert und aufgenommen wurde.

    Die theoretisch-methodische Grundkonzeption der Arbeit basiert dabei auf verschiedenen Prämissen:

    1. Der Untersuchungsraum dieser Arbeit beschränkt sich auf das Gebiet des Bundeslandes Tirol in den heutigen Grenzen (Nord- und Osttirol). Die im Sinne eines regionalen Vergleichs äußerst spannende Mitberücksichtigung Südtirols und des Trentino¹⁰ musste aus forschungspraktischen Gründen unterbleiben. Der Vergleich von drei sich sehr unterschiedlich entwickelnden regionalen Erinnerungskulturen hätte den zeitlichen Rahmen gesprengt, innerhalb welchem die Arbeiten für diese Studie abgeschlossen werden mussten. Die einzelnen Fallstudien der Arbeit fokussieren in erster Linie die angesprochene regionale Ebene, versuchen allerdings innerhalb des regionalen Fokus mehr oder weniger dynamisch die in lokalen Zusammenhängen wirksam werdenden mikrosozialen Erinnerungsprozesse auf der einen Seite und die nationalen ‚Rahmenbedingungen‘ des Erinnerns auf der anderen Seite im Blickfeld zu behalten. Kriegserinnerung lässt sich als Prozess und Vorgang nur verstehen, wenn man keine der angesprochenen Ebenen verabsolutiert bzw. ausklammert.

    2. Die Studie sieht sich einer Art „Sozialgeschichte des Erinnerns"¹¹ verpflichtet, der es um eine möglichst breite Berücksichtigung verschiedener gesellschaftlicher Erinnerungsakteure geht – wenngleich auch diese Studie natürlich exemplarisch bleiben muss. Innerhalb der hier postulierten Erinnerungsgeschichte geht es vor allem um das zentrale Spannungsfeld von öffentlichen und ‚privaten‘ Kriegsdeutungen, wobei der Kriegserinnerung ländlicher Bevölkerungsschichten besondere Bedeutung beigemessen wird. Eine Leitfrage, die sich wie ein roter Faden durch mehrere Kapitel dieser Arbeit zieht, ist die Frage nach dem unterschiedlichen Gehalt von öffentlich inszenierter Kriegserinnerung und individuellen Erinnerungsmustern und jene nach den Veränderungsprozessen, denen sie unterlagen. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der Kompatibilität der Deutungsinhalte der verschiedenen Erinnerungsformen und nach der Herausbildung hegemonialer bzw. alternativer Kriegsgedächtnisse. Ziel des Projektes ist es vor allem, die Entwicklung der Kriegserinnerung im lebensweltlichen Kontext zu untersuchen, um Informationen über die konkrete Verarbeitung des Krieges zu gewinnen. Wie vollzog sich der Kampf um die Deutungsmacht des Krieges nach 1918? Gab es innerhalb der popularen Ebene historischer Kriegserinnerung so etwas wie konkurrenzierende Deutungsmuster? Lassen sich milieuspezifische (politische und soziale Milieus) Deutungsmuster festmachen?

    3. Die Studie zielt auf die Berücksichtigung der breiten Varianz der Medien des Kriegsgedächtnisses. Ein Defizit der bisherigen regionalen (und nationalen) Erforschung der Erinnerungskulturen des Krieges stellt die schier exklusive Betrachtung einzelner ‚Erinnerungsorte‘ und einzelner Medien des Kriegsgedächtnisses dar – allen voran des Kriegerdenkmals. Diese Arbeit hingegen versucht nicht ein bestimmtes Medium des Kriegsgedächtnisses gleichsam exemplarisch in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen, sondern die diskursiv bzw. symbolisch produzierten „Erinnerungsfiguren"¹² und die Aktivität der zentralen Erinnerungsträger eines regional begrenzten Territoriums. Eine ausgewogene Berücksichtigung verschiedener Erinnerungsmedien, Erinnerungsträger und der von ihnen konstruierten Erinnerungsfiguren bietet die Gewähr dafür, dass die komplexe Gemengelage des regionalen Erinnerungsgeschehens zutreffender erfasst wird.

    4. Methodisch orientiert sich die Studie an der neueren geschichtswissenschaftlichen Erinnerungsforschung, die in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Diskussionsbeiträgen und Denkanstößen zur historischen Erinnerungsforschung hervorgebracht hat, und an der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung.¹³ Wo immer es möglich und sinnvoll erschien, versucht die Studie den territorialen Bezugsrahmen der Arbeit nicht isoliert zu betrachten, sondern den Vergleich mit anderen regionalen Räumen zu suchen. Aufgrund der schlechten Forschungslage in Österreich sind es vor allem sich auf Deutschland beziehende Vergleichsstudien, die für diese Studie herangezogen wurden.¹⁴

    Am Beginn dieser Arbeit steht die Beschäftigung mit den zentralen Erinnerungsfiguren des Krieges, die in der politischen und medialen Öffentlichkeit der Zwischenkriegszeit eine Schlüsselrolle spielten. Die Kriegsschuldfrage, die Debatten über die Schuld an der Niederlage sowie die Frage, ob das, was im November 1918 geschah, wirklich eine militärische ‚Niederlage‘ war, beschäftigten nicht nur die österreichische, sondern auch die Tiroler Öffentlichkeit nach 1918 in intensiver Weise. Diesem einleitenden Kapitel, das vor allem die grundsätzlichen Erinnerungsdebatten und -politiken im öffentlichen Raum verständlich machen will, folgt eine ausführliche Betrachtung der ‚militärischen Erinnerungskulturen‘. Die Rolle der ehemaligen k.(u.)k. Offiziere im ‚Erinnerungskulturkampf‘ der Ersten Republik und die Bedeutung und Wirkmacht der von ihnen dominierten Kriegsgeschichtsschreibung werden ebenso analysiert wie etwa die Rolle der organisierten Veteranen und das Verhältnis zwischen letzteren und dem neuen Bundesheer der Ersten Republik. Eine Analyse der ländlichen Kriegserinnerung der Heimkehrer vor Ort zeigt, dass auch die stets bemühten Deutungsetiketten einer ‚Radikalisierung‘ und ‚Brutalisierung‘ mit Vorsicht zu genießen sind. Das Kriegserlebnis, so die entwickelte These, hat die regionale Gesellschaft insgesamt weit weniger ‚brutalisiert‘ und ‚radikalisiert‘ als vielfach angenommen.

    Anschließend erfolgt eine Analyse der regionalen symbolischen Erinnerungslandschaften. Ihr geht es vor allem um eine Problematisierung des Wesens der von der Denkmalkultur der Zwischenkriegszeit ausgehenden Erinnerungsimpulse. Die Befunde relativieren letztlich die zentrale Bedeutung, die dem Kriegerdenkmal für die Verarbeitung des Krieges in der Literatur stets zugeschrieben wird. Über die klassische Analyse der Formensprache der Kriegerdenkmäler hinaus, versucht die vorgenommene Mehrebenen-Analyse auch zur diskursiven Semiotisierung der Denkmäler im Rahmen der Repräsentation des Gefallenengedenkens und der Konstruktion des Gefallenen vorzustoßen sowie die öffentliche Denkmal-Erinnerung mit anderen Gruppengedächtnissen zu kontrastieren. Dieser Vergleich zeigt, dass die Denkmal-Erinnerung viele Bevölkerungsschichten nur mittelbar oder teilweise auch gar nicht erreicht hat und die von ihr ausgehenden Botschaften sehr unterschiedlich aufgenommen wurden.

    Noch während des Krieges, vor allem gegen Ende des Krieges, entstand der Topos der ‚undankbaren Heimat‘ als Teil der Dolchstoß-Legende. Die diffusen Klagen der Kriegsheimkehrer über die vermeintliche ‚Undankbarkeit‘ der Heimat dienten im zeitgenössischen und – später – im historiographischen Diskurs häufig als Referenzpunkt und Beweis für die teilweise gescheiterte Reintegration der Heimkehrer. Letztere nährte die historiographischen Radikalisierungs- und Brutalisierungsdiskurse oder verleitete zur vorschnellen Verortung diverser ‚Männlichkeits-Krisen‘. Die Studie versucht in einem eigenen Kapitel über den Topos der ‚undankbaren Heimat‘ seine Entstehungsgeschichte nachzuvollziehen. Dabei zeigt sich, dass die Vorwürfe primär militärelitären Deutungsmustern heimkehrender Offiziere entsprangen. Nicht die individuelle Flucht in die Radikalisierung, ‚Brutalisierung‘ oder andere Krisen war im Übergang vom Soldaten zum Zivilisten die Regel, sondern die vielfach erfolgreiche Reintegration in die vertraute ländlich-lokale Lebenswelt oder die Rückkehr zum gewohnten und ersehnten zivilen Alltagsleben.

    In diesem Reintegrationsprozess spielten die Kirche und die religiösen Strategien zur Reintegration der Heimkehrer eine besondere Rolle. Aufgrund der weitgehenden Unterstützung des staatlichen Kriegsapparates und der Verstrickung in die staatliche Kriegspropaganda wuchs die gesellschaftliche Kritik an der Kirche im Krieg beständig und erreichte gegen Ende des Krieges und in den ersten Nachkriegsjahren einen Höhepunkt. Über ihre dominante Rolle im Kriegsritual und aufgrund der Tatsache, dass sich in Tirol keine ausschließlich profanen Formen des Gefallenengedenkens entwickelten, gelang es der Kirche allerdings, das in der Bevölkerung vorhandene religiöse und spirituelle Potential zu nutzen und die dominante gesellschaftliche Position im Laufe der Zwischenkriegszeit zumindest teilweise wieder zurückzugewinnen. Gefallenenkult und Kriegsritual blieben in Tirol letztlich vorwiegend religiös dominiert.

    Die Botschaften des Gefallenenkults und der konservativen Kriegserinnerung wandten sich als ‚prospektives Gedächtnis‘ vor allem an die Jugend, die zum Adressaten militärischer, politischer und gesellschaftlicher (Kriegs-)Sehnsüchte avancierte. Die von den gefallenen ‚Helden‘ vermeintlich repräsentierten (alten Tiroler) Werte sollten von einer neuen Generation ‚aktualisiert‘ und gelebt werden. Unter der jungen Generation trafen das ‚Zuviel‘ an Kriegserinnerung und der zunehmend militarisierte Habitus des öffentlichen Kriegsgedenkens allerdings auf relativ wenig Interesse. Sie fühlte sich von Sport, Technik und dem sich in den 1920er Jahren entwickelnden freizeitbestimmten Lebensstil ungleich stärker angezogen.

    Die Erinnerung an den Krieg wurde (und wird) in Tirol durch das vor allem in der Zwischenkriegszeit entstandene Narrativ des Gebirgskrieges geprägt. In die traditionellen Tiroler Wehrhaftigkeitsdiskurse eingesponnen zeichnete es das Bild eines gegen übermächtige Gegner heldenhaft kämpfenden Tiroler Volkes. Im Gegensatz zu den Materialschlachten im Westen und Osten wurde der Gebirgskrieg als Kampf gedeutet, in dem die psychophysischen Qualitäten des einzelnen Soldaten noch zur Geltung kamen. Der erinnerte Krieg im Gebirge repräsentierte eine Art spezifischen Schlachtenmythos, zu dessen Aushängeschild der Typus eines heroischen Alpinisten-Soldaten avancierte. Dabei wurde die Tatsache, dass auch der Alpenkrieg ein industriell geführter, technisierter Krieg war, in dem individuelles Heldentum eine lediglich marginale Bedeutung spielte, bewusst oder unbewusst verschleiert bzw. übergangen. Der Gebirgskrieg fand als ‚Krieg der Bergführer‘ nicht nur im kollektiven regionalen Gedächtnis einen festen Platz, sondern auch in der Geschichtsschreibung, die lange – in ihren populärwissenschaftlichen Varianten teilweise bis in die Gegenwart – in der skizzierten Verortung des Gebirgskrieges verharrte.

    Die vorliegende Arbeit versteht sich insgesamt als erster Aufriss eines komplexen Themas. Erinnerungsgeschichte lässt sich nicht als etwas Statisches begreifen; sie ist ständig im Fluss. Nach 1945 veränderte sich der Blick auf den Ersten Weltkrieg. Er wurde teilweise vom Zweiten Weltkrieg überlagert und verdrängt. Eine ganze Reihe von in der Zwischenkriegszeit entstandenen Deutungsstereotypen wurde allerdings weitgehend unhinterfragt tradiert. Das gegenwärtige Bild des Ersten Weltkrieges in einer breiteren regionalen Öffentlichkeit orientiert sich deshalb teilweise immer noch an diesen und jenen Versatzstücken der Kriegsdeutungen, die im Prinzip in der Zwischenkriegszeit geprägt wurden.

    Auch die wissenschaftliche Forschung hat sich – wie zu Beginn dieser Einleitung aufgezeigt – in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert und weiterentwickelt. Die 2014 anstehende hundertste Wiederkehr des Kriegsbeginns wird das historische Ereignis ‚Erster Weltkrieg‘ – so ist zu vermuten – erneut in das Rampenlicht einer historisch interessierten Öffentlichkeit bringen. Diese Tatsache stellt auch für die Geschichtswissenschaft die Chance dar, die Forschungen über den Krieg in den Alpen und in Tirol weiter zu forcieren und das regionale Bild des Ersten Weltkriegs in der Öffentlichkeit ein Stück weiter von seinen mythischen und heldischen Verbrämungen zu entkleiden.

    ¹ Vgl. zur Tiroler Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg ausführlicher auch meine älteren Anmerkungen an anderer Stelle: Oswald Überegger, Tabuisierung – Instrumentalisierung – verspätete Historisierung. Die Tiroler Historiographie und der Erste Weltkrieg, in: Geschichte und Region/Storia e regione 11 (2002) 1, S. 127–147.

    ² Vgl. zur neueren deutschen Weltkriegsgeschichtsschreibung für viele andere Darstellungen die Beiträge von Gerhard Hirschfeld, Der Erste Weltkrieg in der deutschen und internationalen Geschichtsschreibung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2004) B 29–30, S. 3–12, und Gerd Krumeich, Die Erforschung des Ersten Weltkrieges in Deutschland, in: Oswald Überegger (Hrsg.), Zwischen Nation und Region. Weltkriegsforschung im interregionalen Vergleich. Ergebnisse und Perspektiven (Tirol im Ersten Weltkrieg 4), Innsbruck 2004, S. 19–31.

    ³ Vgl. Bernd Ulrich, „Militärgeschichte von unten". Anmerkungen zu ihren Ursprüngen, Quellen und Perspektiven im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996) 4, S. 473–503; Wolfram Wette, Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten (Serie Piper 1420), München u. a. 1995.

    ⁴ Vgl. die umfassende Auswahlbibliographie, in: Oswald Überegger (Hrsg.), Heimatfronten. Dokumente zur Erfahrungsgeschichte der Tiroler Kriegsgesellschaft im Ersten Weltkrieg, Bd. 2 (Tirol im Ersten Weltkrieg 6), Innsbruck 2006, S. 1070–1080.

    ⁵ Vgl. etwa für Deutschland bspw. die Studien über Freiburg von Christian Geinitz und Roger Chickering: Christian Geinitz, Kriegsfurcht und Kampfbereitschaft. Das Augusterlebnis in Freiburg. Eine Studie zum Kriegsbeginn 1914 (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte, Neue Folge 7), Essen 1998; Roger Chickering, Freiburg im Ersten Weltkrieg. Totaler Krieg und städtischer Alltag 1914–1918, Paderborn 2009. Für Österreich vgl. die Studie von Maureen Healy, Vienna and the Fall of the Habsburg Empire. Total War and Everyday Life in World War I (Studies in the Social and Cultural History of Modern Warfare 17), Cambridge 2004.

    ⁶ Vgl. etwa für Deutschland die Arbeit von Anne Lipp, Meinungslenkung im Krieg. Kriegserfahrungen deutscher Soldaten und ihre Deutung 1914–1918 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 159), Göttingen 2003.

    ⁷ Etwa an dem im Rahmen eines Sonderforschungsbereiches an der Universität Tübingen entwickelten Konzept der Kriegserfahrungen. Vgl. Nikolaus Buschmann/Horst Carl (Hrsg.), Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg (Krieg in der Geschichte 9), Paderborn/München/Wien u. a. 2001. Vgl. auch Anselm Doering-Manteuffel, Die Erfahrungsgeschichte des Krieges und neue Herausforderungen: Thesen zur Verschränkung von Zeitgeschehen und historischer Problemwahrnehmung, in: Georg Schild (Hrsg.), Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit. Neue Horizonte der Forschung, Paderborn u. a. 2009, S. 273–288. Vgl. zur neuesten Weltkriegsforschung auch den Überblicksbeitrag von Christoph Nübel, Neue Forschungen zur Kultur- und Sozialgeschichte des Ersten Weltkriegs. Themen, Tendenzen, Perspektiven, in: H-Soz-u-Kult, 14.6.2011, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2011-06-001. Vgl. auch die verschiedenen Beiträge in: Arnd Bauerkämper und Elise Julien (Hrsg.), Durchhalten! Krieg und Gesellschaft im Vergleich 1914–1918, Göttingen 2010.

    ⁸ So etwa stellvertretend für andere Isabelle Brandauer, Menschenmaterial Soldat. Alltagsleben an der Dolomitenfront im Ersten Weltkrieg 1915–1917 (Nearchos. Archäologisch-militärhistorische Forschungen 1), Innsbruck 2007; Martin Wernard, Lebensalltag im Gebirgskrieg. Die Tiroler Kaiserjäger am Pasubio 1916–1918, Dipl. Innsbruck 2005.

    ⁹ So hat in seiner Kritik Thomas Kühne formuliert: Thomas Kühne, Massen-Töten. Diskurse und Praktiken der kriegerischen und genozidalen Gewalt im 20. Jahrhundert, in: Peter Gleichmann und Thomas Kühne (Hrsg.), Massenhaftes Töten. Kriege und Genozide im 20. Jahrhundert (Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung 2), Essen 2004, S. 11–52, hier S. 13.

    ¹⁰ Vgl. als ersten Überblick die Studie von Laurence Cole, Divided land, diverging narratives: memory cultures of the Great War in the ‚successor regions‘ of Tyrol, in: Mark Cornwall und John Paul Newman (Hrsg.), Sacrifice and Rebirth: the Legacy of the Habsburg Empire’s Great War, Oxford/New York, (im Druck). Ich danke Laurence Cole für die Überlassung des Manuskripts. Vgl. zur Situation im Trentino: Nils Arne Sørensen, Zwischen regionaler und nationaler Erinnerung. Erster Weltkrieg und Erinnerungskultur im Trentino der Zwischenkriegszeit, in: Hermann Kuprian und Oswald Überegger (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg im Alpenraum. Erfahrung, Deutung, Erinnerung/La Grande Guerra nell‘arco alpino. Esperienze e memoria (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs/Pubblicazioni dell‘Archivio provinciale di Bolzano 23), Innsbruck 2006, S. 397–411.

    ¹¹ Begriff bei Peter Burke, Geschichte als soziales Gedächtnis, in: Aleida Assmann und Dietrich Harth (Hrsg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt am Main 1991, S. 289–304, hier S. 291.

    ¹² Vgl. zum Begriff ausführlicher die Anmerkungen auf S. 16f.

    ¹³ Vgl. dazu die im Literaturverzeichnis aufgeführten Arbeiten sowie die in den folgenden Kapiteln themenbezogen immer wieder zitierte Literatur.

    ¹⁴ Vor allem die Studien von Benjamin Ziemann. Vgl. vor allem Benjamin Ziemann, Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914–1923 (Veröffentlichungen des Instituts zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung, Schriftenreihe A: Darstellungen 8), Essen 1997.

    2. Erinnerter Krieg und mediale Öffentlichkeit: Schlüsselmythen und -legenden im politisch-militärischen Kriegsdiskurs

    Der am 3. November 1918 geschlossene Waffenstillstandsvertrag von Villa Giusti formalisierte die Niederlage der österreichisch-ungarischen Armee an der Südwestfront. Die Auflösung der Habsburgermonarchie verkörperte auch für breite Segmente der Tiroler Gesellschaft einen quasi „traumatischen Ort"¹, der eine „katastrophische Krise nach sich zog, die „eine positive Konstitution oder Entwicklung historischer Identität verhinderte und die Möglichkeit ausschloss, „Identität auf einem werthaften Ereignis zu begründen, das im Zusammenhang mit der zu bewältigenden Krise geschehen ist".² Die Revolution stellte politische und gesellschaftliche Gewissheiten radikal und nachhaltig in Frage. Die künftige Regierungsform, die staatsrechtliche Zugehörigkeit Tirols (Österreich, Deutschland oder Freistaat) und die territoriale Integrität des Landes (Landeseinheit oder Brennergrenze) avancierten u. a. zu zentralen Fragen im regionalen politischen Nachkriegsdiskurs.³

    Neben der Konfrontation mit den dringlichen politischen und gesellschaftlichen Problemlagen der revolutionären Umbruchsphase und des frühen Nachkrieges⁴ ordnete der im Krieg stattgehabte mentale Transformationsprozess allerdings auch die psychosoziale Konstitution der Gesellschaft neu. Umso erstaunlicher erscheint es, dass gerade diese für das Verständnis der Geschichte der Ersten Republik zentralen mentalen und psychosozialen Transformationsprozesse von der Geschichtsschreibung bisher – sieht man von der klassischen Frage nach der österreichischen Identität einmal ab – kaum thematisiert worden sind.⁵ Abseits der Diskussionen über politische, staatsrechtliche und gesellschaftliche Zukunftsfragen nahmen der auch auf regionaler Ebene als ‚Urkatastrophe‘ verortete Krieg und seine verarbeitende Deutung eine zentrale Position innerhalb der individuellen und kollektiven Erinnerung an eine – im wörtlichen Sinne – „gegenwärtige Vergangenheit⁶ ein. Diese im frühen Nachkrieg omnipräsente jüngste (Kriegs-) Vergangenheit beförderte die Fragen nach der Schuld am Kriegsausbruch und seinem katastrophalen Ende an die Oberfläche und rückte gruppenspezifische Erklärungs- und Rechtfertigungsvarianten ins Zentrum, die sich nach der Logik unterschiedlicher Thematisierungs-, Bewältigungs-, Verdrängungs- und Tabuisierungsstrategien richteten. So verschiedenartig all diese Strategien auch gewesen sein mögen, wirkungsgeschichtlich analysiert kreisen sie um den Versuch, das Trauma des Krieges und der Niederlage auf ihre je eigene Art und Weise zu überwinden. Insofern zieht „traumatische Erfahrung immer „einen schweren Kampf um Interpretation nach sich. „Sie muß so gedeutet werden, daß sie Sinn macht, d. h. in die wirksamen Verstehens- und Interpretationszusammenhänge der praktischen Lebensorientierung paßt. Ein solcher Sinn werde dadurch geschaffen, so Jörn Rüsen treffend, „daß alles das an der traumatischen Erfahrung unterdrückt wird, was die Wirksamkeit und Sicherheit dieser Deutungsmuster gefährdet. Lebensnotwendige Sinnbildung über Traumata bedeutet zunächst einmal eine Verfremdung, ja Verfälschung von Erfahrung in der Absicht, mit ihr zu Rande zu kommen.⁷ Diese Versuche zur ‚Historisierung‘ eines Traumas kennzeichneten insbesondere den konservativen politischen Diskurs, der den Krieg als Reaktion auf die als unangenehm empfundene Thematisierung der Verwerfungen des Krieges schon Anfang der 1920er Jahre als „alte verschollene Sache⁸ oder als „alte Walze"⁹ bezeichnete.

    Die als Überwindungsversuche traumatischer (Kriegs-)Erfahrung zu verstehenden und die (Kriegs-)Erinnerung manipulierenden Verformungsfaktoren gegenwärtiger Vergangenheit konstituierten mehrere, genau genommen vier große „Erinnerungsfiguren"¹⁰, die den öffentlichen politisch-militärischen Erinnerungsdiskurs der Zwischenkriegszeit dominierten, und die im Folgenden näher beleuchtet werden sollen. Es handelt sich um die vieldiskutierten Fragen nach Schuld und Unschuld im Rahmen der regionalen Kriegsschuld- und Dolchstoßdebatten, um den im Kontext der Wahrnehmungsverweigerung der Niederlage entstandenen Topos von ‚im Felde unbesiegt‘ und um die vor allem im militärischen Diskurs präsenten Anschuldigungen an die vermeintlich ‚undankbare Heimat‘.¹¹ In Ergänzung zur Analyse dieser zentralen Nachkriegsmythen und -legenden geht es im Folgenden vor allem auch um die „Kritik, Kontrolle und Rückführung der Verformungen auf eine ursprüngliche Wahrnehmung und wirkliche Sachverhalte, die Johannes Fried eindringlich als „das vordringlichste Ziel der geschichtswissenschaftlichen Memorik bezeichnet hat.¹² Inwiefern basierte also der Gehalt der angesprochenen Topoi auf realen Gegebenheiten?

    Die angesprochenen Erinnerungsfiguren nahmen in jeweils unterschiedlichen Interpretationsvarianten, in differenter Weise und Intensität eine zentrale Position innerhalb der verschiedenen Gruppengedächtnisse ein, die als parteipolitisch verortete milieu- und gruppenbezogene Funktionsgedächtnisse zu charakterisieren sind.¹³ Im Rahmen des sich als autoritatives öffentliches Gedächtnis¹⁴ etablierenden Funktionsgedächtnisses der auch noch nach 1918 hegemonialen katholisch-konservativen Tiroler Gesellschaftssegmente erscheinen die genannten Erinnerungsfiguren als Konsequenz einer kontrapräsentischen Erinnerung, die „von Defizienz-Erfahrungen der Gegenwart ausging und „in der Erinnerung eine Vergangenheit rekonstruierte, „die meist die Züge eines heroischen Zeitalters¹⁵ annahm. Den zu Mythen und Legenden verdichteten Erinnerungsfiguren kam in dieser politischen Erinnerungsstrategie neben Rechtfertigungsabsichten zweifellos eine Orientierungsfunktion zu.¹⁶ Im Prinzip handelte es sich um „programmatische Erinnerungen¹⁷, die – unter dem prioritären Ziel der Herrschaftslegitimierung und -sicherung infolge neuer Verhältnisse und veränderter Rahmenbedingungen – der Tradierung von Kontinuität, der Identitätsvergewisserung, der Stabilisierung einer althergebrachten politisch-kulturellen Ordnung und der Re-Etablierung eines konventionellen Wertehaushalts dienten. In diesem Sinne ist Gedächtnis „ebenso retrospektiv wie prospektiv: es beansprucht in der Gegenwart einen Bezug zur Vergangenheit für die Zukunft herzustellen.¹⁸ Diese Praxis des kollektiven Erinnerns ist deshalb „eng verbunden mit kreativen Konstruktionsprozessen. Wie Astrid Erll treffend schreibt, ist „das Gedächtnis weniger auf die Vergangenheit [ausgerichtet], als auf gegenwärtige Bedürfnisse, Belange und Herausforderungslagen von sozialen Gruppen oder Gesellschaften".¹⁹

    Im Rahmen einer erinnerungshistorischen Perspektivierung ist es demnach sinnvoll, zwischen verschiedenen öffentlichen Funktionsgedächtnissen (partei-) politischer Kollektive und gesellschaftlicher Milieus zu differenzieren, die sich sukzessive als „Leiterinnerungen"²⁰ etablierten: auf der einen Seite das in erinnerungshegemonialer Weise sedimentierende (katholisch)-konservative Funktionsgedächtnis, dessen fundierende Erinnerungsfiguren die regionale Mythomotorik des vergangenen Krieges beherrschten; auf der anderen Seite mehrere nicht-hegemoniale kritisch-subversive Funktionsgedächtnisse²¹, von denen das sozialdemokratische den konservativen Deutungen wohl am entschiedensten entgegengesetzt war.

    Der Weg hin zur erinnerungshegemonialen Bedeutung des konservativen Funktionsgedächtnisses vollzog sich in mehreren Phasen.²² Aufgrund der evidenten Aktualität des Themas und des großen Konfliktpotentials, das der Krieg damals noch darstellte, war die Konkurrenzsituation verschiedener Leiterinnerungen in der revolutionären Phase der unmittelbaren Nachkriegszeit am ausgeprägtesten. Mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Krieg und infolge der Konsolidierung der politischen Verhältnisse gewannen die Interpretationen des konservativen Funktionsgedächtnisses in der Öffentlichkeit zunehmend an autoritativer Bedeutung und Wirkmacht. Die Vergangenheitskonstruktionen des austrofaschistischen Staates verliehen der heldisch verbrämten konservativen Deutung des Krieges schließlich mehr oder weniger den Status eines öffentlichen „Erinnerungsoktroi[s]".²³

    Im Folgenden geht es um die mehrdimensionale Analyse jener Erinnerungsfiguren, die im politisch-militärischen Vergangenheitsdiskurs der Zwischenkriegszeit eine herausragende Stellung einnahmen. Dabei wird zunächst auf die konkrete inhaltliche Gestalt der Erinnerungsfiguren eingegangen; anschließend sollen die Deutungen der unterschiedlichen Gruppen-Funktionsgedächtnisse in Bezug zur jeweiligen Erinnerungsfigur analysiert werden, um die teilweise eklatanten Unterschiede in den gruppenspezifischen Ausprägungen der verschiedenen Erinnerungskulturen herauszuarbeiten; und schließlich soll, gleichsam implizit, das jeweils projizierte Erinnerungsbild mit den ob zitierten ‚wirklichen Sachverhalten‘ (Johannes Fried) konfrontiert werden.

    Ziel dieses einführenden Kapitels ist es, die enorme Wirkkraft und gesellschaftliche Relevanz der angesprochenen Mythen und Legenden für die regionale Nachkriegs-Öffentlichkeit zu veranschaulichen und über das Wissen um die Bedeutung dieser zentralen Erinnerungsfiguren zugleich auch die Basis für das Verständnis der folgenden Kapitel zu schärfen. Regionale Kriegserinnerung und psychosoziale Gesellschaftsentwicklung sind im Detail nur zu verstehen, wenn man über die grundlegenden Argumentationsweisen und die allgemeinen Mechanismen bzw. Strategien der öffentlichen Vergegenwärtigung des Krieges Bescheid weiß.

    2.1 Schuld und Unschuld I: Regionale Kriegsschulddebatten

    Der einleitend in Anlehnung an Jörn Rüsens Typologie identitätsbildender historischer Ereignisse als ‚katastrophische Krise‘ charakterisierte Zusammenbruch evozierte zunächst eine intensive genuin politische Diskussion rund um die Frage der Kriegsschuld. In der frühen Nachkriegszeit avancierte letztere gleichsam zu einem zentralen Generator durchweg verschiedenartiger geschichtspolitisch²⁴ motivierter Rekurse auf die Ereignisgeschichte des Kriegsausbruches und die jeweilige parteipolitische Positionierung im Rahmen der zu Kriegsbeginn wirksam werdenden politischen und staatlichen Mobilisierungs- und Legitimationsstrategien. Die Intensität dieser Debatten vollzog sich im Gleichklang mit tages- und zeitpolitischen Bedingtheiten, die sich in essentieller Weise auf die Thematisierung an sich und die jeweilige Vehemenz in der politischen Argumentationsführung niederschlugen. Dementsprechend wirkten in diesem politischen, staatlichen und gesellschaftlichen Transformationsprozess des frühen Nachkrieges mehrere strukturelle Faktoren auf die wellenbewegungsartigen politischen Konjunkturen der Kriegsschulddebatte ein.²⁵

    Als im wahrsten Sinne des Wortes ‚gegenwärtige Vergangenheit‘ (Aleida Assmann) konditionierte in der frühen Republik vor allem die zeitliche Nähe bzw. Distanz zum Zusammenbruch als Elementarereignis die Frequenz und Intensität der Debatten im politischen Diskurs. Stellte die politisch naturgemäß sehr kontrovers erörterte Schuldfrage zunächst unter dem Eindruck der unmittelbaren Kriegsfolgen ein beträchtliches Attraktivitätspotential dar, verflüchtigten sich allerdings die aktuelle Sprengkraft und Brisanz der Thematik im Laufe der 20er Jahre zusehends. Die ursprünglich ungemein emotionalisierte Hervorkehrung von vermeintlicher Schuld und Unschuld gerierte zur standardisierten ‚Lagerdeutung‘, die als Verantwortungsmuster meist anlassbezogen stereotyp propagiert wurde.

    Die im Rahmen der Kriegsschuldfrage bemühten politischen Rechtfertigungsmuster bildeten in Tirol vor allem während der Landtagswahlkämpfe von 1919 und 1921 einen viel und kontrovers diskutierten Zankapfel des parteipolitischen Diskurses. Aufgrund des bereits erwähnten Aktualitätsverlustes und der Priorität sachpolitischer Fragen spielte die Thematik etwa im Landtagswahlkampf von 1925 schon eine deutlich untergeordnete Rolle.²⁶ Ihren vorzeitigen Höhepunkt hatte die Schulddebatte allerdings bereits nach dem Bekanntwerden der Friedensbedingungen von Saint Germain²⁷ erlebt. Letztere hatten auf politischer Ebene der Tendenz Vorschub geleistet, den vermeintlichen ‚Schandfrieden‘ in einen ursächlichen Verantwortungszusammenhang mit der Frage nach der Schuld am Kriegsausbruch zu erörtern.²⁸

    Auf der konkreten Ebene der politischen Deutungen lassen sich innerhalb der Kriegsschulddebatten der 1920er Jahre zwei Dimensionen differenzieren: eine themenbezogene und eine adressatenbezogene Dimension der Kriegsschulddebatte. Erstere umfasst die Frage nach der originären Kriegs(ausbruchs)schuld gleichermaßen wie die Problematik der Kriegs(verlängerungs)schuld. Mit Blick auf die adressatenbezogene Dimension der Kriegsschulddebatte gilt es hingegen zwischen freilich eng miteinander verbundenen allgemein-übergreifenden und regionalspezifischen Verantwortungs- und Beschuldigungsmustern zu differenzieren. Letztere standen im Zentrum einer in noch stärkerem Maße geschichtspolitisch motivierten „politische[n] Strategie der kollektiven Erinnerung"²⁹, die eine regionale, tirolspezifische Kriegsschulddebatte forcierte, in der sich als Hauptkontrahenten vor allem das katholisch-konservative Lager und die Sozialdemokraten unversöhnlich gegenüberstanden.

    Im Zentrum der medial ausgetragenen regionalen Tiroler Kriegsschulddebatte, in der die Sozialdemokraten einen aktiv-anklagenden Part einnahmen, während das konservative Lager eher defensiv konterte, standen die jeweilige parteipolitische Ausrichtung in der Julikrise und die Haltung zum Kriegsausbruch. Die Schuldzuweisungen der Tiroler Sozialdemokraten rückten die Christlichsozialen als konkret zu bekämpfenden politischen Hauptgegner gewissermaßen in die regionale Stellvertreterposition einer vermeintlich direkt für den Kriegsausbruch verantwortlichen Gesamtpolitik des bürgerlich-konservativen Lagers.³⁰ „Die Partei, deren Hände vom Blut befleckt sind, die Partei, die mit der unermeßlichen Schuld an diesem verbrecherischen Krieg belastet ist, so die sozialdemokratische Volkszeitung im November 1919 anlässlich eines Heimkehrerfestes am Bergisel, „sie wagt es nun, an euch heimkehrende Soldaten heranzutreten und um euer Vertrauen zu buhlen! Die Christlichsozialen haben ja mit glühender Begeisterung den Krieg begrüßt, haben euch und eure Brüder in den Tod, in die Gefangenschaft gejagt! Und nun wollen sie euch glauben machen, daß sie schuldlos waren.³¹ In seiner Entgegnung auf die Schuldvorwürfe, die als wahlstrategisch motivierte „sozialdemokratische Hauptlüge"³² interpretiert wurden, thematisierte das konservative Lager hingegen die ambivalente Haltung der Sozialdemokraten zum Krieg und die angeblich zu Kriegsbeginn auch in den eigenen sozialdemokratischen Reihen grassierende Kriegsbegeisterung.

    Neben der eigentlichen Schuldfrage spielte in dieser regionalen Kriegsschulddebatte die wiederum von sozialdemokratischer Seite thematisierte emotionale (zustimmende bzw. ablehnende) Haltung zum Kriegsausbruch und zum Krieg an sich eine herausragende Rolle. Die Diskussion um die Frage, wie sich die regionale Gesellschaft dem Ausbruch des Krieges gegenüber verhielt, schlug sich in unterschiedlichen narrativen Konstruktionsvarianten des so genannten ‚Augusterlebnisses‘ nieder.

    Im Rahmen dieser Konsens-Dissens-Debatten, die die Stimmungslagen zu Kriegsbeginn thematisierten, gewann der Mythos vom Augusterlebnis³³ als konservative Meistererzählung an Konsistenz. Das konservative Narrativ entwickelte sich im Laufe der 1920er und 1930er Jahre zum Rechtfertigungskonstrukt mit zunehmend erinnerungshegemonialer Bedeutung. Die Konstruktion einer quasi reflexartig agierenden, übergreifend kriegsbegeisterten und förmlich in einen ‚Verteidigungskrieg‘ hineingezwungenen regionalen Solidargemeinschaft stellte einen Rückgriff auf kriegspropagandistisch motivierte Mobilisierungsstrategien dar, die nun in der konservativen Rechtfertigungsrhetorik fortlebten. In der Diktion dieser konservativen Meistererzählung war man voller „Begeisterung [. . .] dem Feind entgegen gezogen. „Man dachte nicht an Tod und Gefahr, nicht an Leiden und Strapazen, man dachte nur an sein Vaterland, für das man kämpfen, das man schützen wollte. Der „österreichische Frontsoldat blieb „treu und schützte die Heimat mit seinem Leben bis zum bitteren Ende.³⁴ Mit dieser Stilisierung zu einem in kollektiver Vergemeinschaftung erlebten ‚Verteidigungskrieg‘ wurde der Kriegsbeginn 1914 in die Nähe der Tiroler ‚Erhebung‘ von 1809 gerückt und in die geläufige Kontinuitätsgeschichte eines Verteidigungstopos integriert.³⁵ Innerhalb des konservativen Schuldabwälzungsdiskurses stand deshalb auch weniger der Beginn des Krieges mit Serbien im Mittelpunkt, der sich zur rechtfertigungsstrategischen Dramatisierung der militärischen Auseinandersetzungen als Verteidigungs- und Freiheitskrieg selbstredend weniger eignete, sondern der als ‚Verrat‘ gebrandmarkte italienische ‚Intervento‘ vom Mai 1915 und der folgende Krieg gegen Italien.³⁶

    In schroffem Gegensatz zum konservativen Funktionsgedächtnis³⁷, das einen politisch motivierten selektiven Blick auf die Situation im August 1914 bot, stand das alternative Funktionsgedächtnis der Tiroler Sozialdemokratie. In scharfer Abgrenzung und in nicht minder politisierender Weise dekonstruierte es das konservative Erinnerungsbild einer uneingeschränkt kriegsbegeisterten Tiroler Gesellschaft. In der sozialdemokratischen Lesart stellte die militärische Einrückung einen – unter dem Damoklesschwert einer repressiven Militärmaschinerie erfolgten – Akt begeisterungsloser, widerwilliger Pflichterfüllung dar:

    „Die Masse der Soldaten, die in die Kaserne zog und sich klar war, daß dieser Weg dem Schlachtfelde entgegenführt, war mehr von Trauer und Empörung, als von Begeisterung erfüllt. Wohl ist auch unter den Einrückenden Gesang laut geworden, wohl brachen sie in Rufen gegen die Feinde aus, aber alle diese Aeußerungen waren bestimmt, die nagende innere Stimme zu übertönen, die in jedem Menschen lebendig wurde und ihn zwang, sich zu fragen: für wen und für welche Zwecke mußt du dich abschlachten lassen? Die Stimme des Lebens, die in jedem Menschen spricht, wenn er sich in die Zone der Gefahren begibt, war erwacht, und um sie zu übertönen, sangen die ‚Vaterlandsverteidiger‘; sie sangen in der Stimmung der Todgeweihten. Wäre es möglich gewesen, die Empörung über den Krieg, die in dem Innern der Einrückenden hell loderte, zusammenzufassen zu einem handelnden Machtfaktor, so hätte der Krieg zu seinem Beginn auch schon sein Ende gefunden. Das Geschrei der Patrioten und blutrünstigen Kriegstreiber hätte wahrlich bald verstummen müssen.

    Aber wir lebten im alten Staat. Seine Polizei, seine Gerichte und sein Militarismus bildeten damals eine festgefügte Organisation [. . .]. Jeder Widerstand wäre erbarmungslos niedergeschlagen worden."³⁸

    Die letztlich ‚erfolgreichere‘ konservative Konstruktionsvariante des ‚Augusterlebnisses‘ wurde in der Folge als hegemoniale Meistererzählung auch historiographisch tradiert. Die ältere Tiroler Geschichtsschreibung ist in ihrer Analyse der herrschenden gesellschaftlichen Stimmungslage zu Kriegsbeginn 1914 lange von einer übergreifenden, nahezu totalen Kriegsbegeisterung ausgegangen.³⁹ Erst die neuere Forschung hat diesen Topos vom ‚Augusterlebnis‘ in mehrfacher Hinsicht relativiert. Sie eröffnet einen Blick auf die im August 1914 in der Tiroler Gesellschaft herrschenden Haltungen und Stimmungen, der ganz wesentlich von der konsensuellen Definition des Kriegsbeginns als großer integrativer Gemeinschaftserfahrung abweicht und sich im Prinzip irgendwo zwischen den skizzierten konservativen und linken Konstruktionsvarianten des ‚Augusterlebnisses‘ verortet. Die Haltung der Tiroler Gesellschaft zum Krieg ist demnach realiter sehr differenziert zu beurteilen. Die neueren Forschungserkenntnisse zusammenfassend, lassen sich in Anlehnung und Erweitung des anthropologischen Erfahrungskonzepts von Reinhart Koselleck insgesamt fünf Konfliktlinien (Cleavages) filtern, die sich quer durch die Tiroler Kriegsgesellschaft zogen:⁴⁰ Zweifellos hat es auch in Tirol eine Begeisterung für den Krieg gegeben, die allerdings im urbanen Bürgertum ungleich größer war als auf dem Land (raumgeographische Cleavage), die unter der bildungsbürgerlichen Intelligenz ausgeprägter war als in den bildungsschwachen popularen Schichten (bildungsimmanente Cleavage), die unter den Frauen sehr viel gedämpfter war als in den Reihen der stärker ‚kriegsergebenen‘ Männer (geschlechtsspezifische Cleavage), die in Deutschtirol ungleich größer war als im italienischsprachigen Teil Tirols, im Trentino (nationale Cleavage), und die vor allem in der jungen Generation ihren Anklang fand, wo der Krieg als etwas quasi Unwirkliches, als etwas Abenteuerliches vielfach auch eine willkommene Chance darstellte, aus dem unspektakulären, routinisierten Lebens- und Arbeitsalltag auszubrechen (generative Cleavage).⁴¹

    Der emotionale Schlagabtausch in den regional eingefärbten Debatten über die Kriegsschuldfrage resultierte aus dem Bemühen der politischen Parteien, die Masse von Heimkehrern zu integrieren und die desillusionierte bzw. desorientierte ‚Heimatfront‘ politisch zu stabilisieren; natürlich entsprangen die heftigen Auseinandersetzungen auch einem wahlstrategischen Kalkül. Damit eng verbunden basierten die Positionen in der Kriegsschulddebatte auch auf regional übergreifenden, parteipolitisch differierenden Lagerdeutungen. Im konservativen politischen Diskurs wird dabei eine argumentative Doppelstrategie erkennbar: Auf einer allgemeineren Ebene war man zum einen darum bemüht, den Kriegsausbruch als von rationalen Ursachen und konkreten Verantwortlichkeiten enthobene, kaum steuerbare und als Elementarereignis gleichsam schicksalhaft hereinbrechende Kraft zu deuten.⁴² Im Rahmen der Entgegnung auf konkrete Schuldvorwürfe trat zum anderen eine rechtfertigungsimmanente Abwehrstellung zutage, deren differenziertere und moderatere Deutungen die Schuld am Kriegsausbruch als, wenn auch primär die Entente bestreichende, so doch geteilte Schuld aller beteiligten Staaten deuteten.⁴³ Die im Gesamtkontext allerdings dominierenden radikaleren Rechtfertigungsvarianten verorteten die Schuld in den Reihen einer großen Bandbreite von im Prinzip austauschbaren Feindbildern: von der konkret mit einzelnen Staaten identifizierten Schuld⁴⁴ bis hin zu diffus gelagerten, einzelne gesellschaftliche Gruppen bestreichende Verschwörungstheorien.⁴⁵ Im konservativen politischen Diskurs gerierte der Krieg zum gerechten Verteidigungs- und Freiheitskrieg⁴⁶, zu einem „dem Vaterlande aufgezwungenen"⁴⁷ Krieg.

    Die skizzierten konservativen Verantwortungsdeutungen glichen damit dem sich allerdings tendenziell verbalradikaler gebärdenden deutschnationalen Diskurs im Rahmen einer sich interessenbezogen ähnelnden bürgerlichen Verantwortungsstrategie in der Kriegsschulddebatte. Die Deutung des Krieges als schicksalhaft hereinbrechendes, naturgegebenes, Elementarereignis⁴⁸, die Stilisierung des Weltkrieges zum gerechten Verteidigungskrieg⁴⁹ und die Schuldzuweisung an die Entente⁵⁰, verbunden mit einer geharnischten Kritik an den Friedensverträgen von Saint Germain und Versailles⁵¹ sowie an das pazifistische ‚Nie-wieder-Krieg‘ der Sozialdemokraten, durchzogen die deutschnationalen Stellungnahmen im Rahmen der Debatte.⁵² Die Ablehnung jedweder Schuld der Mittelmächte am Kriegsausbruch, die Forderung nach der Revision des ‚Schandfriedens‘ und die dezidierte Schuldzuweisung an die Sozialdemokraten standen darüber hinaus auch im Zentrum der kategorischen und aggressiven Abwehrhaltung der Tiroler Nationalsozialisten in dieser Frage.⁵³

    Den unabhängig ob moderat oder radikal ausgerichteten bürgerlich-nationalen Entschuldungsvarianten diametral entgegengesetzt, thematisierten die Sozialdemokraten die Schuldfrage über die evokative Hervorkehrung der enormen humanen Kosten des Weltkrieges. Ausgehend von den zahlreichen Toten, Verwundeten und Invaliden, den infolge des verlorenen Krieges desaströsen und von der Gesellschaft in dominanter Weise als defizitär empfundenen Lebensbedingungen des Nachkrieges konfrontierte das linke Lager die alten und neuen politischen, militärischen und gesellschaftlichen Eliten mit der stets an die katastrophale Bilanz des Krieges gekoppelten, politisch maßgeblichen Frage nach der Schuld am Kriegsausbruch.⁵⁴ In Ergänzung zur regionalen Schuldzuweisung an die politischen Exponenten der Tiroler Volkspartei⁵⁵ umfasste das Spektrum von Schuldigen mehr oder weniger die traditionellen Feindbilder der Arbeiterbewegung. Der sozialdemokratische Schuldvorwurf bezog sich in erster Linie auf das monarchische Staatssystem und die beiden Kaiserhäuser der Mittelmächte, deren vermeintlich imperialistischer Expansionsdrang als Kontinuitätsgeschichte eines lange bestehenden, im Juli 1914 lediglich eskalierenden aggressiven monarchischen Staats-Militarismus gedeutet wurde.⁵⁶ In dieser Lesart war „der Tod jenes Mannes, der in Sarajewo verblutete [. . .] nur der Vorwand, den man eben gut gebrauchen konnte.⁵⁷ „Bewußt und berechnend habe man „auf den Krieg hingearbeitet.⁵⁸ Im Rahmen der sozialdemokratischen Schuldzuweisung an das dynastische Establishment wird eine aus politisch-strategischen Notwendigkeiten resultierende verschiedenartige Gewichtung der Schuld erkennbar, die primär darum bemüht war, den Habsburgern eine Hauptschuld am Kriegsausbruch zu überantworten. „Die deutsche Regierung und ihr Kaiser sind an dem Kriege mitschuldig, schreibt die Volkszeitung im Dezember 1918, „die eigentlichen Schuldigen sind aber die österreichische Dynastie, die österreichisch-ungarischen Regierungen, mit ihnen zugleich aber auch die volksverräterischen Parteien, die in jenen verhängnisvollen Wochen nach dem Attentate von Sarajewo mit vollen Backen in das Horn bließen [. . .].⁵⁹ Aus dieser Perspektive wurde „das Deutsche Reich [. . .] so recht eigentlich durch die Initiative der österreichisch-ungarischen Diplomatie in den Krieg hineingezogen.⁶⁰ In Ergänzung zu den Angriffen gegen die Habsburger richteten sich die Schuldvorwürfe also auch gegen die als ausführende politisch-diplomatische Kaste wahrgenommenen bürgerlichen Parteien als verantwortliche Regierungspolitik, gegen klassische sozialdemokratische Feindbilder wie die Kirche und das Militär sowie gegen die insgesamt als „Kriegshetzer und „Kriegsgewinnler bezeichneten Repräsentanten der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaftsordnung.⁶¹

    Mit Bezug auf die innerhalb der weiter oben ausgeführten themenbezogenen Dimension der Kriegsschulddebatte getroffenen Differenzierung⁶² erstreckten sich die Anklagen der Sozialdemokratie nicht nur auf den originären Kriegsschuldvorwurf als Kriegsausbruchsschuld, sondern – und hier spielten die Sozialdemokraten wiederum den aktiven, anklagenden Part – auch auf die Schuld an der langen Dauer des Krieges. Letztere wurde auf sozialdemokratischer Seite vornehmlich in den Reihen der bürgerlichen Politik verortet. Die Politik des konservativen und nationalen Parteienspektrums hatte nicht nur den Ausbruch des Krieges verschuldet, sondern in ihrer kompromisslosen Propagierung des „Schwertfriedens auch einen dem Volk zum Vorteil gereichenden, milderen „Vernunftfrieden, der einen völligen Zusammenbruch vermeiden hätte können, verhindert.⁶³ Die sich infolge des Zusammenbruchs und aufgrund der harten Friedensbedingungen drückend gestaltende Nachkriegsrealität sei von den bürgerlichen Parteien aus egoistischen, materiellen und profitorientierten Gründen bewusst in Kauf genommen worden – entgegen dem Willen der breiten Masse der Bevölkerung nach einem „Verständigungsfrieden".⁶⁴ Die Reaktionen der bürgerlichen Parteien auf die sozialdemokratischen Vorwürfe im Rahmen der Verlängerungsschulddebatte sind bereits Teil der Dolchstoßdebatten rund um die Frage nach der Schuld an der Niederlage. Die Sozialdemokratie habe durch ihre Agitation für einen schnellstmöglichen Frieden die Front gewissermaßen ‚von hinten‘ zersetzt, argumentierte man, und dadurch letztlich einen Sieg der Mittelmächte verhindert. Nicht zuletzt deshalb wären die Sozialdemokraten auch Schuld an der gegenwärtigen Misere.

    2.2 Schuld und Unschuld II: Regionale Dolchstoßdebatten

    Die angesprochene Kontroverse rund um einen willkürlich verhinderten ‚Verständigungsfrieden‘ bzw. um die ‚Siegfriedens‘-Vorwürfe bildete eine von mehreren Auseinandersetzungen innerhalb der sich bereits gegen Ende des Krieges Bahn brechenden Tiroler Dolchstoßdebatten.⁶⁵ Es entspricht deshalb wohl kaum den Tatsachen, wie Ernst Hanisch meint, dass „sich in Österreich [. . .] keine ‚Dolchstoßlegende‘

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