Jenseits der Dünen: Nordsee Krimi
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Jenseits der Dünen - Klara G. Mini
180.
Prolog
Kraftvoll trat er in die Pedale. Ein sehr ansehnlicher Mann, groß, durchtrainiert, blond mit offenem, freundlichem Gesicht. Er trug keinen Helm. So oder ähnlich hätten Zeugen ihn wohl beschrieben, wären sie ihm auf ihrem Weg begegnet.
Ein Lächeln umspielte seinen Mund, als er das Rad abstellte. Der Wind fuhr ihm durch die Haare, und er fand, dass dies ein Tag war wie geschaffen zum Kiten. Der leichte Regen schreckte vielleicht andere ab. Ihn nicht. Die Brise war perfekt. Er würde es genießen, sich den Naturgewalten entgegenzustellen und über das Meer zu fliegen. Doch erst hatte er hier noch etwas zu erledigen.
»Hallo, wo bist du?«, rief er.
Die Person, die ihm gegenübertrat war nicht die, auf die er gehofft hatte.
»Entschuldigung, ich gehe wohl besser.«
»Nein, nein. Ich habe es mir überlegt. Vielleicht können wir da doch ins Geschäft kommen.«
Damit hatte er kaum mehr gerechnet. Ein triumphierendes Grinsen glitt über sein Gesicht. Das würde ein guter Deal. Er konnte nicht ahnen, dass er diesen Handel nicht mehr erleben würde.
Pfingstsonntag
Xenia
»Wie, hier sollen wir jetzt Urlaub machen?« Anklagend wies meine Schwester Luise auf das alte Gemäuer mit dem weit herunterhängenden Reetdach, das umgeben von ein paar Bäumen geduckt in der platten Landschaft lag.
»Und pass auf, dass du mein Auto nicht aufsetzt!«, nörgelte sie übergangslos auf dem Beifahrersitz weiter. »Wäre ich doch nur selbst das letzte Stück gefahren. Da! Schon wieder!«
Ein leichtes Rumpeln am Unterboden.
»Ist es etwa meine Schuld, dass die Piste hier geschottert ist?« Um meinen guten Willen zu zeigen, betätigte ich aber brav die Bremse. Der Straßenbelag war eigentlich das kleinere Problem, das größere waren die Fahrrinnen, wahrscheinlich von einem Trecker. »Du könntest ja aussteigen«, schlug ich vor, »vielleicht noch deinen Koffer mitnehmen, dann ist der Wagen leichter.«
Ein Schnauben war die Antwort. Im Schritttempo näherten wir uns unserem Ferienquartier. Fing ja wirklich gut an, der Urlaub. Erst der Mega-Stau auf der Autobahn, der unsere Fahrt bis in den frühen Abend verlängert hatte, und nun die Quengelei meiner Schwester, die bei jedem dezenten Fahrgeräusch schmerzhaft das Gesicht verzog. Wahrscheinlich würde sie gleich unter den Corsa kriechen, um festzustellen, ob ein Loch im Bodenblech war oder die Bremsleitung angerissen.
Der Wischer entfernte einmal mehr die Tropfen von der Scheibe. Ein feiner Nieselregen, wie ihn die Landwirte lieben. Allmählich konnten wir sehen, dass sich das Haus in einem recht beklagenswerten Zustand befand. Das Reetdach war an einigen Ecken ausgefranst, der früher wahrscheinlich einmal helle Anstrich zu einem dreckigen Grau verblichen.
Da waren wir also. Ich stellte den Motor ab und lächelte Luise aufmunternd zu. Deren strenge Miene hellte sich auch nicht auf, als sich die Haustür öffnete. Licht flutete heraus, ein kleiner, vielleicht fünfjähriger blonder Junge rannte trotz der fortgeschrittenen Zeit auf uns zu, gefolgt von einer hübschen und ebenso blonden Frau.
»Schön, dass ihr da seid. Leon, du bist ja in Pantoffeln rausgeflitzt. Ab ins Haus!« Der Kleine scherte sich nicht um die Ermahnungen, sondern hüpfte von einem Bein aufs andere.
»Hattet ihr eine gute Fahrt? Ich bin übrigens Marie.«
So viel echter Herzlichkeit konnte sich selbst Luise nicht entziehen. Sie ergriff die dargebotene Hand und lächelte. »Luise Wiese.« Für meine Schwester erstaunlich nahe am Duzen.
»Xenia«, stellte ich mich ebenfalls vor und spürte, wie Maries Blick von einer zur anderen wanderte. Tja, Luise ist fünfzehn Minuten älter als ich, und viele Leute verwechseln uns. Wenn Luise etwas Make-up auflegen und nicht ständig nur diesen braven geflochtenen Zopf tragen würde, wäre die Ähnlichkeit noch größer. Aber das lässt ihr Job nicht zu. Als jüngste Kriminalhauptkommissarin in Kassel. Da muss man ordentlich herumlaufen. Außerdem sind Frauen mit Lippenstift und Lidschatten eher ein wenig doof. Denkt meine Schwester.
Marie setzte sich mit Luises Koffer in Bewegung. »Ich zeig euch erst mal euer Zimmer.« Leon sprang voran. Wir folgten und gelangten in eine mit abgetretenen Fliesen ausgelegte Diele. Unsere Gastgeberin strebte auf die dunkle Holztür an deren Ende zu.
Vor uns öffnete sich ein Raum von wahrhaft imposanten Ausmaßen. Freier Blick bis hinauf ins Dach in sechzehn oder achtzehn Meter Höhe und getragen von vier Ständern aus enorm dicken Eichenbalken, die noch die Wucht von Bäumen hatten und mit ebenfalls starken Querbalken verbunden waren. Die kleinen, halbrunden Fenster in den Gauben ließen tagsüber bestimmt etwas mehr Licht hinein. Jetzt gab es verschiedene Lampen, die nicht alles vollständig ausleuchten konnten. Nach oben zu wurde es dämmeriger, aber ich konnte noch das Reet zwischen den Dachsparren erahnen und mindestens vier Zwischenebenen, die mit Geländern und einer rot-weißen Absperrkette gesichert waren. Ich fragte mich, wie man sie erreichen könnte, denn eine Treppe führte nicht hinauf.
»Das Haus ist von 1788«, erläuterte Marie. »Ein alter Haubarg eben. In der Mitte zwischen den vier Ständern haben die Bewohner früher Heu und Stroh gestapelt, auf den Emporen Getreidesäcke. Das hier ist übrigens der Frühstücks- und Aufenthaltsraum.« Sie wies auf den großen Holztisch, der mitsamt den dazugehörigen Stühlen so ganz den Eindruck machte, aus der Gründerzeit des Bauwerks zu stammen. Ein farbenfroher Flickenteppich und ein dicker Frühsommerblumenstrauß sorgten für bunte Akzente.
Marie öffnete eine Tür zu einem kleinen Appartement. Dunkle Holzbalken verliefen an den weiß gekalkten Wänden und sorgten für Behaglichkeit. Ein handbemalter, dezent wurmlöchriger Bauernschrank von – stand dran – 1808, ein massiver Eichentisch mit ebensolchen Stühlen, ein dazu passendes Doppelbett, ein modernes braunes Ledersofa, das sich gut in das historische Ambiente einfügte. Darüber hing ein stimmungsvolles Meeresaquarell, offenbar ein Original.
»Wie gemütlich.«
Marie freute sich offensichtlich über meine Begeisterung. »Sicher wollt ihr erst mal ankommen. Habt ihr Hunger? Hier in der Nähe gibt es kein Restaurant. Wenn ihr jetzt nicht mehr rauswollt, könnt ihr gern ein paar Brote bekommen.«
»Prima«, meldete sich Luise zu Wort. Kein Wunder. Sie ist ein sparsamer Mensch. Die Rechnung an der Tankstelle auf der Autobahn hatte ihr schon Tränen in die Augen getrieben. Mir war es ehrlich gesagt auch lieber. Draußen regnete es wie verrückt und wurde immer dunkler.
Luise
Ich bereute die Reise, kaum dass ich sie angetreten hatte. Kein Wunder, ich war mehr oder weniger dazu gezwungen worden. Beim letzten Polizeiball, zu dem mein Chef Möllkamp die gesamte Mordkommission alljährlich nötigt, hatte ich den Tombola-Hauptgewinn gezogen. Gestiftet vom Polizeipräsidenten Abel. Eine Woche in einem historischen Haubarg in St. Peter-Ording für zwei Personen. Natürlich war es undenkbar, dieses Geschenk auszuschlagen. Das hätte mich beim Polizeipräsidenten, der mich zu schätzen scheint und sich riesig freute, dass ausgerechnet ich den Preis gewonnen hatte, in ein denkbar schlechtes Licht gerückt. Als Xenia davon gehört hatte, war sie gleich Feuer und Flamme gewesen. »Wenn du nicht deinen hochverehrten Drogenbullen Ferdi mitnehmen willst, der bestimmt liebend gern zu dir ins Doppelbett schlüpfen würde, könnte ich eine Woche Urlaub gut vertragen.« Dass sie immer Ferdi ins Spiel bringen musste. Der ist doch nur ein sehr, sehr netter Kollege.
Eine Woche Urlaub? Xenia tat gerade so, als wäre das etwas Besonderes für sie, dabei hat die den doch dauernd. Wenn ich morgens in der Früh meinen Dienst antrete, dreht sich meine Schwester noch mal im Bett herum. Sie will Krimiautorin werden, hat aber bisher noch nicht einmal eine Kurzgeschichte veröffentlicht, geschweige denn einen ganzen Roman. Da Oma Xenia ihr einiges vererbt hat, unter anderem ein top renoviertes Mehrfamilienhaus im Jugendstil, kann sie es sich leisten, ihre Zeit mit süßem Müßiggang zu verbringen, was ich absolut nicht gutheiße. Jeder sollte mit seinem Leben etwas Sinnvolles anfangen und es nicht in einem literarischen Wolkenkuckucksheim verbringen.
Als ich mich für eine Woche (außerhalb der Hochsaison natürlich, im Sommer kriegen immer nur die anderen frei) hier angemeldet hatte, steckte mir ein Kollege, dass der Abel mit der Tombola-Aktion seine Tochter unterstützen wollte, die in dem Haubarg eine Pension aufzuziehen beabsichtige. Das brachte mich natürlich in eine unangenehme Position. Sicher wurde erwartet, dass ich nach der Rückkehr in den höchsten Tönen Urlaubslieder sang, damit das gesamte Revier sich in der Folge um die Zimmer riss. Das würde mir, nach dem ersten Eindruck zu urteilen, eher schwerfallen.
Meine Laune besserte sich erst, als wir zum Abendessen gingen. Vollkornbrot, Butter in einem Steinguttopf, verschiedene Sorten Käse. Äußerst delikat.
»Alles selbst gemacht«, erzählte Marie stolz, als sie unsere Lobeshymnen entgegennahm. »Wir haben fünf Kühe und auch ein paar Ziegen. Außerdem einige Schafe, die auf der Deichgemeinschaftsweide grasen. Die Milch verarbeiten Herta und ich. Sie ist die Oma meines Lebensgefährten. Eigentlich war sie auch neugierig auf unsere ersten Gäste, aber sie lässt sich entschuldigen. Ist halt eine alte Dame und heute Abend ziemlich kaputt.«
»Kann man hier irgendwo Fahrräder ausleihen?«, fragte ich zwischen zwei Bissen. Beim letzten Gesundheitscheck war ich zu schnell aus der Puste gekommen. Und obwohl ich Sport im Prinzip hasse, ist es in meinem Job einfach unerlässlich, eine gewisse Grundfitness zu erhalten. Ich gedachte, den Urlaub dafür zu nutzen.
»Wir haben eine Menge Räder im Schuppen. Peer, mein Freund, repariert und verkauft die. Da könnt ihr euch bestimmt was aussuchen für die Zeit, die ihr hier seid. Der Schuppen ist immer auf.«
»Nein, könnt ihr nicht!« Die Stimme des dunkelhaarigen, etwa 40-jährigen, wettergegerbten Mannes, der soeben den Raum betrat, war ziemlich scharf.
»Hallo Schatz.« Marie runzelte leicht die Stirn. »Wieso denn nicht? Wir haben doch Unmengen.«
»Ich meine, ich suche die aus.« Mit seinen dunklen, fast schwarzen Augen musterte er Xenia und mich abweisend. Als sein Blick zu Marie wanderte, wurde er weicher.
Sie nutzte das Nachlassen der Anspannung und stellte ihn vor: »Mein Lebensgefährte, Peer Tüsken.«
Ich wollte schon zu einem höflichen »Angenehm« ansetzen, aber er unterbrach mich.
»Ich stell die Räder vor die Tür«, sagte er im Rausgehen.
Ob der immer so schlecht drauf war? Einen Moment herrschte betretene Stille, bis Leon im Schlafanzug und mit Teddybär hereintaperte. »Kann nicht schlafen!«
Seine Mutter zog ihn auf den Schoß und küsste ihn auf den blonden Schopf. »Hat Oma Herta dir so eine wüste Nis-Puk-Gutenachtgeschichte erzählt?«
»Nein, gar keine«, beklagte sich Leon und gähnte kräftig.
»Oma ist heute sehr müde. Kennst du schon die Geschichte von Nis Puk und den Schafen?«, fragte Marie sanft.
»Nein.«
»Also, Nis Puk konnte nicht einschlafen. Auch kleinen Kobolden passiert das von Zeit zu Zeit. Der Mond schien hell, es war Sommer und die Grillen zirpten. Plötzlich dachte er an die Herde seines Herrn. Wie viele Schäfchen gab es da eigentlich? Er hatte sie nie gezählt. Das war ein Versäumnis. Er musste es nachholen. Er beschloss, sie einzeln durch die Lücke zwischen zwei Büschen zu treiben. Los, los, scheuchte er sie. Mäh machten die Schafe. Eins, zwei, drei, vier … Mäh!«
Bei dreiundzwanzig war Leon in Maries Armen eingeschlummert. Ich erinnerte mich mit etwas Wehmut an die Zeit, in der Xenia und ich in einem Bett aneinandergekuschelt Geschichten erfunden hatten. Manchmal ist es doch ziemlich schön, eine Zwillingsschwester zu haben.
»Wer ist denn Nis Puk?«, fragte Xenia, bevor Marie ihren Sohn hinaustrug.
»Ein Wicht, auch das kleine Nichts genannt, der Haus und Hof bewacht. Zumindest in Schleswig Holstein«, lachte Marie. »Nis Puk sorgt dafür, dass es den Menschen in ihrem Zuhause gut geht, aber nur, wenn er sie mag und sie ihn schätzen, ihm täglich eine Schüssel mit Grütze und einem Klumpen Butter darin hinstellen und auch die Tiere im Stall gut behandeln. Sonst wird er ein arger Quälgeist. Niemand ist vor seinen Streichen sicher, und die können ganz schön heftig werden. Sogar brutal. Oder tödlich. Vorzugsweise nachts.«
Pfingstmontag
Xenia
Was für eine Nacht! Mir war es leider nicht vergönnt, schneller als meine Schwester einzuschlafen. Und während Luise so vor sich hin schnarchelte, wurde ich immer munterer. Es nutzte auch nicht viel, sie zu schubsen. Kurze Pause, dann ging’s weiter. Na prima. Ob ich das eine ganze