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Diakonisch Menschen bilden: Motivationen - Grundierungen - Impulse
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Diakonisch Menschen bilden: Motivationen - Grundierungen - Impulse

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Diakonisch Menschen bilden widmet sich der Frage nach anthropologischen Grundzügen diakonischer Bildung. Dabei sind Menschenbildung und Menschenbilder miteinander verwoben. Ihre diakonische Qualität gewinnt Bildung dadurch, dass Diakonie sich als der Bereich kirchlichen Lebens erweist, den Jesus als das Gebot der Nächstenliebe dem Gebot der Gottesliebe gleichgestellt hat. Diakonie lebt im Umgang mit Suchenden und Leidenden, mit Armen und Vergessenen und trägt nach Kräften zu ihrer Menschwerdung bei. Für jede Konturierung dessen, was Grundzüge diakonischer Menschenbildung ausmacht, braucht es aber eine Koppelung von theologisch oder auf andere Weise wissenschaftlich entworfenen Anthropologien einerseits mit gelebter oder auch ungelebter Anthropologie andererseits. Eine Diskussion anthropologischer Grundzüge diakonischer Bildung erfolgte bisher nur in ersten Ansätzen; zugleich spielen im menschlichen Miteinander zumindest implizite Anthropologien ihre Rolle und zeitigen Wirkungen. Im alltäglichen und erst recht im professionellen Miteinander müssen sie darum explizit zum Thema werden.
LanguageDeutsch
Release dateJul 17, 2014
ISBN9783170269460
Diakonisch Menschen bilden: Motivationen - Grundierungen - Impulse

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    Diakonisch Menschen bilden - Klaus Kießling

    Diakonisch Menschen bilden: Voraussetzungen

    Heinz Schmidt

    Die anthropologischen Grundlagen diakonischer Bildung, die in diesem Band durchgängig reflektiert werden, sind bisher an keiner Stelle vollständig erfasst und schon gar nicht systematisch geordnet und untersucht worden. Daher handelt es sich bei diesem einleitenden Text um erste Wahrnehmungen, die auf Erfahrungen rekurrieren und Motivationen eines helfenden Engagements in den Blick nehmen, zu denen einige Forschungsergebnisse herangezogen werden können.

    Von Anfang an waren mit der modernen Diakonie Bildungsanstrengungen verbunden. Im Rauhen Haus in Hamburg wollte Johann Hinrich Wichern verwahrlosten Kindern helfen, lebenstüchtige Menschen zu werden. Dazu gehörte auch die Rücksicht auf andere hilfsbedürftige Menschen und ihre liebevolle Unterstützung. Theodor Fliedner wollte junge Frauen befähigen, Kranke sachgemäß zu pflegen, Kinder zu erziehen und Bedürftigen jeder Art zu helfen. Als Lorenz Werthmann 1897 den Caritasverband für das katholische Deutschland gegründet hatte, sammelten sich unter seinem Dach Menschen, die sich um die sozialen und kulturellen Nöte ganz unterschiedlicher Gruppen kümmerten: Saisonarbeiter, Seeleute, Tippelbrüder, Trinker, Körper- und Geistigbehinderte, Geschlechtskranke. Außerdem arbeiteten bei der Caritas Engagierte in Kindergärten, in der Fürsorgeerziehung, im Mädchenschutz und in der Krankenpflege. Bei all diesen Tätigkeiten spielten auch Bildungsanstrengungen im Rahmen des jeweils Möglichen und des damaligen Wissens eine Rolle. Zumindest sollten alle, die sich in Notlagen befanden, mit ihren jeweiligen Leidensgenossen solidarisch sein. Die Erfolge dieser Bemühungen sind freilich kaum erforscht.

    Dass diakonisch-soziale Bildungsprozesse bei konkreten Hilfeleistungen immer notwendig sind und auch jenseits professioneller Ausbildung eine Rolle spielen, hängt mit grundlegenden, d.h. für die Selbstwerdung konstitutiven Bedürfnissen zusammen, die bei Hilfeleistungen so oder so befriedigt und in Lebensprozesse integriert werden. Interessanterweise entwickelt die soziale Arbeit mit Jugendlichen in schwierigen Lebenslagen ihre pädagogischen Programme schon seit einiger Zeit an individuellen Bedürfnisstrukturen. Eine bewährte und praktikable Bedürfnismatrix stammt von dem Streetworker Diethelm Damm.¹ Er unterscheidet zwischen sozialen und personalen Bedürfnissen wie folgt:

    Es kann kein Zweifel sein, dass diakonisch-soziales Lernen selbst die hier genannten Bedürfnisse befriedigen kann. Soziale Bestätigung und Anerkennung werden von hilfebedürftigen Menschen meistens vermittelt, weil sie spontan ihre Dankbarkeit zeigen wollen. Es gibt natürlich Ausnahmen, wenn Menschen aggressiv, abweisend oder widerspenstig reagieren. Auf derartige Negativerfahrungen, die in der Regel selten eintreten, sollten zum Beispiel Praktikanten vorbereitet werden. Solidarität erfahren Praktikanten dann, wenn sie von den Mitarbeitern vor Ort freundlich aufgenommen und als gleichwertige Helfer akzeptiert werden. Alle sozialen Dienstleistungen sind beziehungsrelevant und werden kooperativ erbracht. Sicherheit gewinnen Helfende schon allein durch die damit erforderliche Zusammenarbeit, in der die Professionellen den Freiwilligen auch Selbständigkeit zutrauen müssen und gleichzeitig fehlende Kenntnisse oder mangelnde Fertigkeiten vermitteln.

    Aus der Gemeinschaftlichkeit der Hilfeleistungen erwachsen unwillkürlich persönliche Sympathien, aber auch Antipathien. Da alle Helfenden im Umgang mit Personen ihre Gefühle einbringen müssen, ist die Wahrscheinlichkeit emotionaler Teilhabe höher als in den meisten anderen Engagements. Intimere Beziehungen können so leichter entstehen, weshalb auch die Distanzen zwischen Helfern und Hilfsbedürftigen gewahrt werden müssen.

    Wie den sozialen, so kann auch den personalen Bedürfnissen in diakonisch-sozialen Erfahrungsfeldern qualifiziert Rechnung getragen werden. Unterschiedlichkeit der Erfahrungen ist schon deshalb gewährleistet, weil Hilfsbedürftige ganz unterschiedlich reagieren, selbst wenn sie in ähnlichen Lebenslagen sind. Jugendliche, Menschen mit Behinderung, Obdachlose – alle sind unverwechselbare Individuen mit eigenen Fähigkeiten und Vorlieben. Wenn eine Lerngruppe – wie meist – an unterschiedlichen Praxisorten tätig ist, kann sich die Vielfalt noch durch Erzählungen und gegenseitige Besuche steigern. Ob diese Vielfalt und die damit gegebenen Herausforderungen von den Jugendlichen als abenteuerlich erfahren werden, dürfte sehr von Vorbereitung und Bedeutung abhängen. In den Berichten aus den Praktika finden sich häufig Hinweise auf völlig unerwartete Erfahrungen und Begegnungen.

    Ruhe und Entspannung sind in der Regel nicht typisch für einen diakonischen Arbeitsalltag, eher ein zu hohes Tempo und auch Stress. Dennoch wird meist intensiv und zugewandt kommuniziert, was das physische und psychische Wohlbefinden erhöht. Selbstbestimmung erfahren Helfende sowohl im Vergleich mit ihren Adressaten als auch hinsichtlich der Qualität ihres Engagements. Praktikanten können zudem an den Professionellen beobachten, dass sich mit Erfahrung und Wissen die Möglichkeiten selbstbestimmten Handelns erweitern. Die unabdingbare Forderung nach Pünktlichkeit, die für manche ihre Selbstbestimmung einzuschränken scheint, wird sich im Lauf der Zeit als nützlich erweisen. Wenn sich alle an die verabredeten Zeiten halten, wird selbstbestimmte Zeit gewonnen.

    Leistung und Erfolg genauso wie Misserfolge werden bei konkreter Hilfe ganz direkt erfahren, weil die Rückmeldungen von den Adressaten und von anderen Mitarbeitenden meist nicht lange auf sich warten lassen. Es ist natürlich die Frage, ob die Helfenden ihre ,Dienstleistungen‘ selbst als lohnende Leistungen bewerten. Das wird zum Teil auch von der Anerkennung abhängen, die ihnen zuteil wird. Darüber hinaus hängt dies auch von den eigenen Bewertungen des jeweiligen diakonischen Engagements ab, also von ihrer Einsicht in die Gründe und die Ziele des Engagements.

    Einsicht und Orientierung kommen in alltäglichen Interaktionen häufig zu kurz. Im Rahmen eines vorbereitenden und nachbereitenden schulischen Unterrichts werden die diesbezüglichen Aspekte in der Regel reflektiert. Bildung, verstanden als existenzieller Such- und Entwicklungsprozess mit dem Effekt von (mehr oder weniger) dauerhaften Selbstfestlegungen, vollzieht sich in einer pluralen Kultur- und Medienlandschaft und intendiert Persönlichkeiten, die sich entscheiden und engagieren können. Eine solche Bildung gibt nicht mehr vor, universalistisch zu sein, d.h. die Gesamtheit einer höheren Kultur in eine Person zu integrieren. Sie ist aber auch nicht partikularistisch in dem Sinne, dass sie bestimmte Lebensformen und Anschauungsmuster als die zu erwerbenden Bildungsgüter bestimmt und damit bestimmte Milieus privilegiert. Sie ist konkret existenziell-altruistisch, d.h. sie beginnt mit konkreten, auf andere bezogenen Interaktionen und erschließt die diesen Interaktionen inhärenten Wissens- und Wertbestandteile. Als diakonische Bildung beginnt sie mit helfendem Handeln, in dessen Vollzug das inhärente Know-how, das jeweils einschlägige psychologische, soziale und gegebenenfalls auch medizinische Wissen, vermittelt sowie über die diakonische Wertorientierung kommuniziert wird. Begleitende Gespräche und ergänzender Unterricht erweitern und vertiefen diese stärker kognitiven Anteile. Durch ihre durchgängige Bindung an diakonisches Handeln bleibt diese Bildung auch in ihrem weiteren Verlauf immer auf andere bezogen, d.h. mit unbekannten, unverfügbaren, mit schlechthin neuartigen Konstellationen konfrontiert. Sie muss also auch selbst immer die jeweils erfolgten Selbstfestlegungen zur Disposition stellen und bereit sein, sich neu zu formieren. Diakonisch-soziales Lernen ist ein Anfang und gleichzeitig eine Vollzugsform einer solchen konkreten existenziell-altruistischen Bildung, die auf Interaktionsverhältnissen basiert, d.h. anthropologisch und soziologisch verankert und deshalb auch persönlichkeitsbildend ist.

    Freilich können wesentliche Zugänge zu existenziell derartig grundlegenden Erfahrungen verstellt sein. Bereits in den 90er Jahren sahen sich verschiedene kirchliche Schulen zu Projekten diakonisch-sozialen Lernens veranlasst², weil sie beobachteten, dass aufgrund sich auflösender traditioneller Familienstrukturen existenzielle Grunderfahrungen fehlen: Wer ernstlich krank ist, wird ins Krankenhaus gebracht; wer behindert ist, wird in entsprechenden Einrichtungen versorgt; wer alt ist, zieht in ein Altenheim um. Menschliche Grenzsituationen – Krankheit, Leiden, Gebrechen, Alter, Tod – zu erleben, bleibt dem unmittelbaren Erfahrungsfeld Jugendlicher entzogen, denn Krisenbewältigung menschlichen Daseins findet zumeist außerhalb der Familie statt. Wenn die Schülerinnen und Schüler aufgefordert sind, über ethisch-moralische Fragen, Lebens- und Weltanschauungen, christliche Glaubenserfahrungen und anderes mehr nachzudenken und zu diskutieren, sind sie meist durchaus dazu bereit. Aber aufgrund fehlender praktischer Erfahrung erscheinen ihre Beiträge oft theoretisch, zwar gutwillig gelernt bzw. von anderen übernommen, aber wenig durch Realität gedeckt.

    Hier setzten damals die Projekte des diakonisch-sozialen Lernens an: Wenn die Jugendlichen Menschen und Orte aufsuchen, die nicht in ihrem alltäglichen Erfahrungsfeld liegen, fordern sie ihre eigene Umgebung heraus und werden selbst gefordert. Sie müssen physische wie psychische Belastungen aushalten, Stellung beziehen, neue Verhaltensweisen einüben, Verständnis und Toleranz lernen, Bestätigung suchen, können dabei erweiterte Einsichten und Selbstvertrauen gewinnen. Indem sie zunehmend den Lernort Schule mit dem Lernort Leben und Alltag verbinden, kann echtes, authentisches Leben erfahren werden, was wiederum auf die Schulwirklichkeit und ihre persönliche Lebensgestaltung positive Auswirkungen hat. Verschiedene Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung sind in einem so genannten Reli-Atlas wie folgt zusammengefasst:

    „… Untersuchungen zeigen, dass Schüler nach gelungenen diakonischen Praktika ein verändertes Sozialverhalten an den Tag legen können. Schüler greifen tatsächlich zu, um anderen Menschen – auch Mitschülern – zu helfen. Erstaunlich sind auch die Verschiebungen in der Motivation der Schüler. Schüler gehen an ,schwierige Einsatzorte‘, weil es ,Spaß‘ macht, nicht weil sie sich opfern wollen. Diese Orientierung weg von der extrinsischen (‚gute Noten‘) hin zur intrinsischen Motivation (‚helfen um seiner selbst willen‘) wird auch in anderen Untersuchungen zum sozialen Lernen bestätigt. Wenn Schüler erfahren, dass ihr konkretes Handeln die Not anderer lindert, trägt ihr Handeln die Belohnung in sich selbst. Der große Lernpsychologe des sozialen Lernens, Bandura, erklärt dieses Phänomen wie folgt: Jugendliche lernen am Modell. Wenn sie sehen, dass helfen, trösten, versorgen, etc. anderen Menschen erfolgreich hilft, beginnen sie diese Praxis selbsttätig auszuführen. Wenn soziales Handeln das gewünschte Resultat nach sich zieht, wird eine soziale Handlung in das eigene Handlungsrepertoire überführt. Eine extrinsische Motivation zum Handeln ist dann nicht notwendig. Das Erleben des Erfolges der sozialen Handlung ist eine hinreichende Motivation."³

    Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass die so genannten prosozialen Motive nicht automatisch wirken. Die konkreten Interaktionsverhältnisse können auch so geartet sein, dass sie ein spontanes Ausagieren eher verhindern. Ebenso können soziale und kulturelle Normen hinderlich sein. Nach heutiger Kenntnis können zwar Hilfemotive bei allen Menschen vorausgesetzt, d.h. es kann also von einer ,universalen‘ Hilfsmotivation⁴ ausgegangen werden, die sich immer wieder in Face-to-Face-Beziehungen zeigt; ob diese allerdings wirksam werden kann, hängt von einer Reihe anderer Bedingungen ab, von denen die wichtigsten im Folgenden noch genauer bedacht werden sollen.

    1.         Biologische Grundlagen

    Seit Darwins grundlegenden Werken „Über die Entstehung der Arten (1859) und „Die Abstammung des Menschen⁵ (1871) hat sich wissenschaftlich die Evolutionstheorie durchgesetzt, der zufolge die Entstehung und Entwicklung allen Lebens in seinen verschiedenen Arten einer Selektion zu verdanken ist, die das Überleben von umweltangepassten Arten gewährleistet. Im Krieg der Natur führt ein ständiger Kampf ums Überleben⁶ zu einer Ausmerzung der Schwächsten zu Gunsten der Tüchtigsten. Nach dieser Form der Darwin’schen Theorie wären Unterstützung und Hilfeleistung prinzipiell selbstdestruktiv, es sei denn, dass so geartete Kooperationen bzw. ein gemeinschaftliches Handeln, etwa einer Herde (mit hierarchischer Struktur) oder einer Sippe (mit patriarchaler Struktur), sich im Überlebenskampf als vorteilhaft erweisen. Einige neuere Werke der Sozialbiologie haben die zentrale These Darwins insofern weiterentwickelt, als sie nicht mehr einzelne Lebewesen, sondern die Gene einer Gruppe als die eigentlichen Subjekte im Überlebenskampf ausgemacht haben. Ein ,Egoismus der Gene‘ rechtfertigt dann Verzichte und Unterstützungsleistungen von hierarchisch untergeordneten Gruppenmitgliedern für ihre genetisch produktiveren Führungsfiguren.⁷ Im Allgemeinen wird diese Fassung der Evolutionstheorie von der biologischen Forschung nicht mehr akzeptiert. Kampf und Konkurrenz seien Konzepte aus der Ökonomie, die auf die Biologie übertragen werden. Besonders die neurobiologische Entdeckung von so genannten ,Motivationssystemen‘ führte zur Einsicht, dass soziale Resonanz und Kooperation Umweltanpassung fördern und darüber hinaus sogar Selektionsdruck mindern können. Als „Kern aller menschlichen Motivation" gilt heute

    „zwischenmenschliche Anerkennung, Wertschätzung, Zuwendung oder Zuneigung … Das Bild, das sich aus einer Reihe von neueren Beobachtungen ergibt, lässt den Menschen als ein in seinen zentralen Antrieben auf gelingende Beziehungen hin orientiertes Wesen erscheinen."

    Zuwendung von anderen und soziale Anerkennung sind die einschlägigen Leitwerte für die Aktivierung der biologischen Motivationssysteme. Abgesehen von der theoretischen Prämisse, dass diese prosozialen Motive, auch die altruistischen, genetisch dem Überlebensziel dienen und daher – zwar nicht individuell, aber ontologisch – als egoistisch betrachtet werden können, ist darauf hinzuweisen, dass die genetische Ausstattung per se keine entsprechende Entwicklung garantiert. Es sind Werkzeuge, deren Benutzung „eingespielt"⁹ werden muss. Eine entsprechende Sozialisation und gute Erfahrungen in der Kindheit müssen dazukommen: „Falls sich zu der genetischen Ausstattung eines Menschen die notwendigen Umweltbedingungen hinzugesellen, ist er ein aufgrund körpereigener Systeme in Richtung Kooperation und Menschlichkeit ausgerichtetes Wesen.¹⁰ Man achte auch hier noch auf die vorsichtige Formulierung. Die moralischen Motive oder Emotionen¹¹ garantieren weder ein entsprechendes Verhalten noch eine sozio-moralische Mentalität. Sie begründen zusammen mit positiven Erfahrungen lediglich eine altruistische Verhaltenstendenz bzw. ethisch ausgedrückt einen guten Willen. Es bleiben immer noch viele Gründe, die zu der Einsicht des Paulus führen können: „Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht (Röm 7,18), sehr wohl auch innere, denn im ,Fleisch‘ wohnt auch die Sünde, also Antriebe, die einer Verwirklichung des Guten entgegenstehen. Die biologisch-genetische Forschung führt jedenfalls zu dem Ergebnis, dass gute Voraussetzungen für helfendes Handeln bzw. sozialverantwortliches Verhalten, mithin auch für diakonisches Engagement gegeben sind. Die genetische Ausstattung ist günstig. Kooperation und Gemeinschaftlichkeit erleichtern das Überleben und reduzieren den Selektionsdruck und damit auch die Risiken konflikthafter Konkurrenz. Jedoch müssen Lernprozesse hinzukommen, wie sie aus einer altruistisch grundierten Sozialisation und einer gemeinschaftsbezogenen intentionalen Erziehung erwachsen. Dass dabei auch kognitive Prozesse impliziert sind, liegt auf der Hand.

    2.         Neuronale Repräsentationen

    Überlegungen zu kognitiven Anteilen diakonischen Engagements können an neuere Erkenntnisse neurologischer Forschungen anknüpfen, die von der Beobachtung ausgingen, dass Menschen unwillkürlich einander nachahmen. So wirkt Gähnen z.B. ansteckend. Wendet jemand im Gespräch seinen Blick ab, folgt das Gegenüber der Blickrichtung des Partners. Eine Mutter öffnet den Mund, wenn sie ihr Baby füttert. Solchen Resonanzphänomenen ist Giacomo Rizzolati nachgegangen.¹² Er stellte in Experimenten mit Affen fest, dass es für bestimmte Handlungen (beispielsweise das Greifen nach einer Nuss) genau zu lokalisierende Neuronennetzwerke gibt, die eben genau bei dieser Handlung – und nur bei dieser – ,feuern‘, also aktiv werden. Das Besondere aber an dieser Entdeckung ist, dass sie nicht nur feuern, wenn der Affe selbst die Bewegung ausführt. Auch wenn er die Bewegung nur beobachtet, werden dieselben Neuronen aktiv. Ein bestimmtes Handlungsmuster ist also – gleich ob bei eigener oder fremder Handlung – an derselben Stelle im Gehirn neuronal repräsentiert. Mehr noch, auch wenn die Handlung nur unvollständig zu sehen ist, feuern die entsprechenden Neuronen. Das bedeutet, dass auch aus einer bruchstückhaften Beobachtung die volle Handlung konstruiert wird. Mit Hilfe bildgebender Verfahren konnte das gleiche Phänomen bei Menschen beobachtet werden.

    Walter Boes setzt diese Beobachtungen in einen didaktischen Zusammenhang:

    „Besonders interessant für unseren Zusammenhang wird diese Beobachtung, wenn wir noch eine weitere Erkenntnis hinzunehmen: Die neuronalen Handlungsmuster sind aufs engste mit den neuronalen Repräsentationen von Emotionen verknüpft. Handlungen sind also immer rückgekoppelt an Gefühle, an Ziele und Werte. Es konnte nachgewiesen werden, dass aufgrund der engen Verbindung von Handlungen und Emotionen nicht nur Handlungen, sondern auch Gefühle und Emotionen entsprechend ,gespiegelt‘ werden. Spiegelneuronen sind somit der Grund unserer Intuition … Solche Intuition ist nicht bloßes Gefühl, … sie beruht auf einem (unbewussten) Wissen, das wir der Fähigkeit der Spiegelneuronen zu verdanken haben, die ohne unsere bewusste Beteiligung lernen und somit das Anlegen meist sehr zuverlässiger Strukturen im menschlichen Gehirn ermöglichen."¹³

    In der Intuition sind Emotion und Wissen bereits verbunden. Freilich erspart diese Verbindung nicht die Reflexion, also eine eigenständige kognitive Anstrengung. Diese ist sogar unabdingbar, weil Intuitionen in die Irre gehen können. Prinzipiell werden bei dieser Art von Intuition die Wahrnehmungs- und Handlungskontexte einer anderen Person samt ihrer Wissensbestände neuronal gespiegelt, die mit denen der beobachtenden Person nicht identisch sein und deren eigener Wertorientierung widersprechen können. Auf diese Weise übernommene, d.h. gelernte Denk- und Handlungsmuster können zudem in späteren Handlungskontexten zu Fehlinterpretationen führen oder gar völlig unpassend sein. Kognitive Anstrengungen sind unerlässlich, um die Angemessenheit und den Wertbezug des intuitiv (‚von Natur aus‘) nahegelegten Verhaltens zu prüfen. Der Didaktik des moralischen und des diakonischen Lernens liefert die Entdeckung der Spiegelneuronen eine Legitimation für die traditionelle Hochschätzung des Vorbildlernens (= Lernen am Modell nach Bandura), nötigt sie aber gleichzeitig zu einer sorgfältigen Analyse der Handlungskontexte der gewählten Vorbilder sowie der sie leitenden Werte.

    3.         Emotionale Voraussetzungen

    Die neuronalen Repräsentationen allein könnten ganz unterschiedliche Folgen haben (z.B. auch Flucht, Abwehr, Aggressivität), träfen sie nicht auf psychische Dispositionen, die altruistische Emotionen auslösen. Nach solchen emotionalen Zuständen hat unter der Bezeichnung „prosoziale Motive" bereits in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Martin L. Hoffman gesucht.¹⁴ Auch er beobachtete unwillkürliche Nachahmungsreaktionen wie ansteckendes Lachen oder Weinen, aber auch komplexere Formen der Teilnahme an anderen wie Mitleid, sich in andere versetzen und Identifikationen aufgrund von Betroffenheit (etwa durch filmische oder literarische Darstellungen). Während bei der spontanen Nachahmung neuronale Spiegelungen vorbewusst wirken, implizieren die komplexeren Teilnahmeformen gedankliche Repräsentationen, die aufgrund von realen oder fiktiven Vorerfahrungen bereits kognitiv bearbeitet sind. Die ontogenetische Voraussetzung solcher Prozesse ist die unvermeidbare Ablösung des Säuglings von der Mutter. Die ursprüngliche symbiotische Einheit wird durch emotionale und kognitive Repräsentationen der Nähe der Mutter ersetzt. In der so gearteten emotional-kognitiven Teilnahme sah Hoffman die erste Form von Empathie, die sich nach seinen Forschungen über vier empirisch nachweisbare ,Stufen‘ in folgender Weise entwickelt:

    1) Konditionale Empathie: Emotionale Schlüsselreize lösen konditionierte Reflexe (d.h. das unangenehme Gefühl, das früher durch eigene schmerzhafte Erfahrungen verursacht wurde, wird durch Gefühlsäußerungen einer anderen Person reaktiviert) oder motorische Nachahmungsreaktionen (‚motor mimicry responses‘) aus. Das Kind unterscheidet noch nicht zwischen sich und dem anderen (bis zum ersten Lebensjahr).

    2) Egozentrische Empathie: Das Kind kann jetzt zwischen seinem Selbst und dem anderen unterscheiden, aber noch nicht zwischen seinen eigenen inneren Befindlichkeiten und denen des anderen (das erste Lebensjahr).

    3) Rollenübernahme: Das Selbst wird immer differenzierter vom anderen unterschieden, die Schlussfolgerungen von eigenen inneren Befindlichkeiten auf die eines anderen werden vorsichtiger. Etwa mit vier Jahren kann ein Kind durch die gedankliche Rollenübernahme eines anderen empathisch erregt werden.

    4) Sympathischer Kummer (bzw. Freude): Das Selbst und die anderen werden immer mehr als Personen mit eigener Lebensgeschichte und eigener Identität begriffen. Freude und Schmerz können nicht nur in bestimmten, miterlebten Situationen mitgefühlt, sondern auch im symbolisch übermittelten oder rekonstruierten Kontext von Lebenserfahrungen nachgefühlt werden (zunehmend nach dem vierten Lebensjahr).

    Eine letzte Stufe universaler Solidarität wird von Hoffman nur hypothetisch angenommen:

    5) Solidarität: Eine Kombination von empathischem Affekt und der Wahrnehmung der unglücklichen Lage einer Gruppe könnte die entwicklungsmäßig fortgeschrittenste Form empathischen Leidens sein.

    Üblicherweise werden ,Stufen‘ während des Jugendalters durchlaufen. Spätestens ab der dritten Stufe kann sich der Einzelne durch gewollte Imagination in empathische Erregungszustände versetzen. Die Verbindung zwischen empathischem Affekt und sozial-kognitiver Komponente zeigt einen Entwicklungsprozess auf, der in zunehmend komplexere Handlungsspielräume führt. Ab der zweiten Empathieform wird ein willentliches Handeln möglich, ja durch die innere Befindlichkeit motiviert, aber keineswegs automatisch ausgelöst. Daher bezeichnet Hoffman die Empathie als einen prosozialen Affekt und nicht etwa als eine Einstellung oder Handlungsdisposition.

    Vorrangig unmittelbare Betroffenheit durch Notsituationen löst Empathie aus. Erst auf der vierten Stufe kann das Leiden Fernstehender aufgrund symbolischer Rekonstruktion nachgefühlt werden. Diese Stufe ist allerdings bereits im mittleren Kindesalter erreichbar, ein Umstand, der entsprechende diakonische Lernprozesse im Schulalter aussichtsreich erscheinen lässt. Aber auch entwickelte Empathie garantiert kein diakonisches Verhalten. Hoffman selbst hat auf egoistische Formen sympathischen Handelns hingewiesen. Dazu kommen Abwehr- oder Vermeidungsreaktionen (wie Schuldzuweisungen oder Abwertung leidender Personen), die empathische Impulse neutralisieren können. Zeitdruck, Gruppendruck, soziale Normen und Erwartungen können hinderlich sein. Negative Erfahrungen, Erfolglosigkeit, Resignation oder gefühlte Machtlosigkeit und Inkompetenz sind schließlich oft schwer überwindbare Barrieren. Empathieerlebnisse anzuregen und komplexere kognitive Verarbeitungsprozesse zu fördern sowie zum Erwerb entsprechender Kompetenzen – sowohl praktischer wie theoretischer – anzuleiten, ist mithin ein wichtiger Teil der ,prosozialen‘ Erziehung im Rahmen diakonischer Bildungsprozesse. Sie müssen aber im Kontext einer allgemeinen Erziehung zur sozialen Verantwortung stehen, die soziale und kulturelle Normierungen (einschließlich von Vorurteilen) analysiert, individuelle und kollektive Hilfemöglichkeiten bekannt macht und reflektiert und insbesondere Mut macht, gegen den Strom zu schwimmen und für andere auch etwas zu riskieren.

    Deutlich ist, dass bei der Entwicklung der Empathie-Stufen ebenso wie bei empathisch begründetem Verhalten kognitive und kulturelle Aspekte immer schon mitbeteiligt sind. Das folgende Kapitel wird auf solche Parallelen in der Konstruktion der Stufenentwicklung hinweisen. Aus ihm ergibt sich auch, dass die Stufen heute nicht mehr im Sinne einer Stufenleiter verstanden werden, bei der die jeweils höhere Stufe die darunterliegenden integriert und überwindet, sondern eher im Sinne eines Schemas oder eines Denk- und Handlungsmusters, das im Verlauf der Entwicklung erworben werden kann und dann zur Verfügung steht, während die vorher erworbenen weiter genutzt werden können. Auch dieses Ergebnis der neueren Forschung unterstreicht, wie wichtig Erziehung und kulturelle Umwelt sind.

    4.         Kognitive Entwicklung sozialer Wahrnehmungs- und Handlungsmuster

    Die Forschungen zur kognitiven Entwicklung gingen von der Frage aus, ab wann und wie Kinder andere als selbständig handelnde und empfindende Personen wahrnehmen. John H. Flavell¹⁵ untersuchte daher die „soziale Perspektivenübernahme" und fand drei Niveaus heraus:

    −  1. Niveau: Kind erkennt die Motive eines anderen, rechnet aber nicht mit der Möglichkeit, dass auch das andere Kind seine Motive erkennen kann.

    −  2. Niveau der wechselseitigen Erkenntnis der Motive: ,Ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß.‘

    −  3. Niveau: Beteiligte Kinder können (gleichzeitig) die aktuelle Zweierbeziehung von außen betrachten.

    Auf dieser Grundlage hat Robert L. Selman¹⁶ mit Hilfe der von Lawrence Kohlberg praktizierten Dilemma-Methode (s.u.) ein Modell mit fünf Niveaus in folgender Weise beschrieben:

    −  0. Niveau: Psychische Befindlichkeiten werden direkt von sichtbarem Verhalten abgeleitet, Beziehungen werden egozentrisch konzipiert. Die subjektive Perspektive gilt als objektive Realität. Perspektiven von anderen (außer räumlichen) werden nicht als solche erkannt (egozentrische Perspektivenübernahme).

    −  1. Niveau: Psychische und physische Befindlichkeiten werden unterschieden, ebenso unabsichtliches und absichtliches Verhalten. Zwischen Denken, Meinen und Fühlen wird noch nicht unterschieden, aber zwischen der eigenen Perspektive und der des anderen. Doch können die beiden Perspektiven nur aus der eigenen Position betrachtet werden. So erscheint es für das schenkende Kind selbstverständlich, dass das beschenkte Kind sich freut (differenzierte subjektive Perspektivenübernahme, ab 5 Jahre).

    −  2. Niveau: Die Kinder können „im Geiste aus sich heraustreten und eine Zweite-Person-Perspektive auf die eigenen Handlungen und Gedanken einnehmen"¹⁷. Das innere Befinden wird nunmehr als vielseitig und zusammengesetzt, nicht mehr als einlinig erkannt, wobei eine der Befindlichkeiten als vorherrschende angenommen wird. Es wird erkannt, dass Handlungen auch unabsichtlich geschehen können. Kinder sind in der Lage, sich an die Stelle eines anderen zu versetzen. Sie verstehen, dass ihr Gegenüber dies ebenso tun kann (vergleiche Flavell: Ich weiß, dass er weiß, dass ich weiß, dass er weiß.). Sie können deshalb auch durch eigenes Verhalten andere täuschen (selbstreflektive bzw. reziproke Perspektivenübernahme, ab 7 Jahre).

    −  3. Niveau: Personen werden als „Systeme über längere Zeit konsistenter Einstellungen und Werte"¹⁸ verstanden. Sie haben die Fähigkeit, im Geiste aus sich herauszutreten und eine Dritte-Person-Perspektive einzunehmen. Das bedeutet, dass sie nicht nur aus sich selbst heraustreten und auf sich blicken können, sondern auch fähig sind, aus sich selbst als System bzw. aus sich selbst in einem System herauszutreten, um auf eben jenes System zu sehen (vergleiche Flavell: 3. Niveau). Sie können damit die Perspektiven mehrerer Personen gleichzeitig in den Blick nehmen und verstehen die Notwendigkeit von Konfliktregelungen und Miteinander (gegenseitige Perspektivenübernahme und Position der Dritten Person, ab 10 Jahre).

    −  4. Niveau: „Das Individuum des Niveaus 4 entwirft die subjektiven Perspektiven von Personen aufeinander (Gegenseitigkeit) nicht mehr nur auf der Ebene gemeinsamer Erwartungen oder gegenseitigen Gewahrseins (wie auf Niveau 3), sondern als simultan auf mehreren, auch tieferen Ebenen der Kommunikation existierend."¹⁹

        Nun kann der Adoleszente von diesen vielfältig geteilten Perspektiven abstrahieren auf allgemeingültige (legale, gesellschaftliche, moralische) Perspektiven. Handlungen, Motive, Gefühle werden als psychologisch bedingt und nicht notwendigerweise als bewusst konzipiert. Die Vorstellung eines Unbewussten unterscheidet sich vom Unabsichtlichen von Niveau 2 (tiefenpsychologische und gesellschaftlich-symbolische Perspektivenübernahme, ab 12 Jahre möglich).

    Hinsichtlich der Konsequenzen für diakonische Bildungsprozesse ist prinzipiell damit zu rechnen, dass Kinder und Jugendliche mehrerer Niveaus in einer Lerngruppe anzutreffen sind. Selbst bei Erwachsenen muss mit Denkformen zwischen Niveau 1 und 4 gerechnet werden, zumal dann, wenn die Niveaus nicht als aufsteigende Stufenleiter, sondern als gleichzeitig verfügbare Schemata (s.o.) zu verstehen sind. Dazu Walter Boes:

    „Damit ergibt sich zuerst eine Wahrnehmungs- und Deutungsaufgabe für den Lehrer. Um seine Schüler in ihren Äußerungen, Fragen und in ihrem Verhalten richtig verstehen zu können, … ist es wichtig, ihre jeweilige Fähigkeit der Perspektivübernahme bzw. des sozialen Verstehens im Blick zu behalten. Von dieser Wahrnehmung ausgehend können nun in einem nächsten Schritt – je individuell – Perspektivübernahme und soziales Verstehen gefördert werden.

    Diese Förderung des sozialen Verstehens kann im Unterricht auf mehreren Ebenen geschehen. Hierfür kann die Lehrkraft den Stufenfortschritt durch den Einsatz von Dilemmageschichten fördern. Dazu eignen sich natürlich die Dilemmageschichten, die Selman selbst zur Erhebung der Stufen verwendet hat. Noch besser wäre es, die Dilemmasituationen aus dem diakonischen Themenspektrum zu gewinnen – sie zu konstruieren oder idealerweise sogar aus der konkreten Praxiserfahrung zu entnehmen. In den anschließenden Diskussionen über Wege, mit dem Dilemma umzugehen, ist es die Aufgabe der Lehrkraft, die Argumente derjenigen Schüler, deren Argumentation sich auf einem höheren Niveau befindet, hervorzuheben und zu verstärken oder selbst den Schülern Analysen und Argumentationen auf einem höheren Niveau anzubieten, um dadurch die Entwicklung der Schüler auf niedrigerem Niveau zu fördern. Der Königsweg scheint mir jedoch zu sein, konkret auftauchende Dilemmata während der Praxisphasen bzw. Praktika oder auch im theoretischen Unterricht als Lernsituationen zur Förderung des sozialen Verstehens und damit des diakonischen Sehens zu verwenden."²⁰

    5.         Kognitive Entwicklung moralischer Wahrnehmungs- und Handlungsmuster

    Die erste Fassung der bis heute viel diskutierten moralischen Entwicklungstheorie ist älter als die soeben referierten Forschungen Selmans zur sozialen Entwicklung: Selman ist Schüler Kohlbergs. Dennoch liegt sachlich das Phänomen der sozialen Perspektivenübernahme der moralischen Entwicklung zu Grunde. Deshalb wurde es hier zuerst behandelt. Die von Kohlberg mit Hilfe der Dilemma-Methode²¹ ermittelten sechs Stufen auf drei Ebenen sind allenthalben bekannt. Daher sei hier nur stichwortartig an sie erinnert:

    I.  Die präkonventionelle Ebene: Regelbefolgung aus Angst vor Bestrafung, Erwartung von Belohnung bzw. Gefälligkeiten

    –  Stufe 1: Orientierung an Strafe und Gehorsam. Gut ist, was nicht bestraft, sondern belohnt wird. Schlecht ist, was bestraft wird.

    –  Stufe 2: Instrumentell-relativistische Orientierung. Gut ist, was eigene und fremde Bedürfnisse befriedigt: Do-ut-des-Moral.

    II. Die konventionelle Ebene: Orientierung an der Bezugsgruppe

    –  Stufe 3: Orientierung an zwischenmenschlicher Übereinstimmung (‚good boy‘ – ‚nice girl‘). Entscheidend ist die Anerkennung der Gruppe (Familie, Freunde, Gang).

    –  Stufe 4: Orientierung an Ordnungen und Gesetzen (‚Law and Order‘). Die soziale Funktion der Ordnungen ist im Blick.

    III. Die postkonventionelle Ebene: Orientierung an Gründen und Werten hinter Konventionen und Gesetzen, die deshalb als relativierbar gelten

    –  Stufe 5: Orientierung am Gesellschaftsvertrag. Gesetze und Konventionen fußen auf Konsens und Vereinbarung. Sie sind daher jederzeit verhandel- und in demokratischen Verfahren veränderbar.

    –  Stufe 6: Orientierung an universalen ethischen Prinzipien, die konsistent und allgemein verpflichtend sind (Gerechtigkeit, kategorischer Imperativ, Goldene Regel).

    Das Stufenmodell von Kohlberg wurde über Jahrzehnte höchst kontrovers diskutiert. Besonders einflussreich waren die Forschungen von Carol Gilligan²² und James Rest²³. Gilligan hat die Relevanz von ,Real-Life-Dilemmata‘ (an Frauen mit ungewollter Schwangerschaft) plausibel gemacht und nachgewiesen, dass Fürsorge/Care ein ebenso wichtiger Leitwert sein kann wie Gerechtigkeit oder die Goldene Regel. Für Gilligan stehen eine beziehungsorientierte Fürsorgemoral und eine gesellschaftsorientierte Gerechtigkeitsmoral im Widerspruch zueinander, weshalb sie über ihr Drei-Stufen-Modell (Sorge für sich selbst, Sorge für die anderen und Schwächeren, Verantwortlichkeit für sich und andere) keine Äquivalente zu den drei oberen, gesellschaftsorientierten Stufen Kohlbergs konstruiert hat. Diese These hat sich genauso wenig bewährt wie die Unterscheidung zwischen weiblicher Fürsorge und männlicher Gerechtigkeitsorientierung. Hingegen scheinen sich beide Orientierungen zu ergänzen bzw. lassen sich dialektisch aufeinander beziehen.²⁴ Eine Dominanz von Fürsorge- oder Gerechtigkeitsurteilen scheint eher kontextuell bzw. situativ bedingt zu sein. Dies zeigt allerdings, dass moralische Urteile sehr viel stärker situations- und kontextbedingt sind, als Kohlberg zulassen wollte. Auch die im konkreten Fall verwendeten Urteilsstrukturen verändern sich abhängig von Beziehungen und Kontexten.

    James Rest konnte mit Hilfe eines weiterentwickelten Tests (‚Defining Issue Test‘) diese Kontextabhängigkeit aufgrund einer sehr breiten Datenbasis plausibilisieren. Dabei bestätigte er das Kohlberg’sche Modell, freilich mit erheblichen Modifikationen. Stufen sind demnach keine abgeschlossenen, strukturierten Ganzheiten, die invariant aufeinander folgen, ohne dass eine übersprungen werden könnte. Sie sind auch nicht hierarchisch geordnet, sondern können als verschiedene Orientierungsmöglichkeiten nebeneinander bestehen. Nach dem ,Neo-Kohlbergian Approach‘, von Rest selbst so benannt,²⁵ sollte von ,Schemata‘ statt von ,Stufen‘ gesprochen werden. Damit sind nicht mehr abgeschlossene Ganzheiten, sondern Konzepte gemeint, die von Einzelnen bevorzugt gewählt werden. Sie werden auch nicht plötzlich erreicht und liegen dann als die jeweils beste Urteilsstruktur fest, sondern sie werden aufgebaut und auch wieder verlassen. Sie sind in Kontexte verwoben und können auch nicht voll und ganz verstanden oder dem eigenen Bewusstsein nicht als kohärente Konzepte präsent sein. Die Stufe 6 wird in der Kohlberg’schen Form nicht mehr für wahrscheinlich gehalten. Vielmehr wird von verschiedenen Werten und Idealen ausgegangen, die in einer Gesellschaft anerkannt sind und verständlich kommuniziert werden können.

    Auch die Stufen 1–5 sind nach dem Neo-Kohlbergian Approach zu modifizieren. Anstelle der drei Ebenen mit je zwei Stufen nimmt man nur noch drei generelle Schemata an, die unterschiedlich implementiert werden: das ,personal-interest-Schema‘, das ,maintaining-norms-Schema‘ und das ,postconventional Schema‘. Demzufolge führt die Entwicklung nicht mehr aus der Perspektive eines Ego über die einer Gruppe zu etwas universal Gültigem, sondern von Konzepten, die um das persönliche Interesse kreisen, über solche normativer Affirmation zu einem postkonventionellen Schema, für das Prinzipien und Ideale einschlägig sind. Kohlbergs Stufe 3 (good boy – nice girl) wird daher nicht mehr dem konventionellen, sondern dem präkonventionellen Schema zugeordnet, wie das die folgende Tabelle von Walter Boes²⁶ zeigt:

    Pädagogische Konsequenzen dieser veränderten Sicht der kognitiven Entwicklung zeigt Walter Boes an einem Beispiel:

    „Hier sei beispielsweise auf die Arbeit mit Flüchtlingen und Asylanten bzw. die damit zusammenhängende Arbeit mit dem 2004 geänderten und sich immer wieder ändernden Zuwanderungsrecht verwiesen.²⁷ Um die Problematik und den Handlungsbedarf im Bereich der Zuwanderung unter diakonischen Gesichtspunkten umfassend ansehen und beurteilen zu können, bedarf es auch der Berücksichtigung der diese Situation betreffenden und bestimmenden Gesetze. Auf dem personal-interest-Schema können solche Gesetze begreiflicherweise nicht sinnvoll behandelt werden. Der Fokus von Schülern und Schülerinnen auf diesem Niveau wird immer auf der Einzelsituation liegen, auf der damit verbundenen Strafe (um an dieser Stelle noch Kohlbergs Stufe 1 zu Hilfe zu nehmen) oder dem damit verbundenen Nutzen für die Person selbst (Außenbild der Gruppe, Gruppenkonformität, Bedeutung der Eltern, Bewertung des Lehrers). Im Bereich des maintaining-norms-Schemas muss sich der Lehrer darüber klar sein, dass die Gefahr besteht, dass die Beurteilung von Asylverfahren sehr konventionell, unreflektiert an Normen orientiert ausfallen wird. Eine echte inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Zuwanderungsverfahren, den maßgeblichen Rechten und Gesetzen, ihren jeweiligen Schwächen, Lücken und Leistungen und ihrer Kompatibilität zu den ihnen zugrundeliegenden (diakonischen) Prinzipien wird frühestens auf Stufe 5 möglich."²⁸

    Auch dieses Beispiel macht deutlich, dass Lehrende mit unterschiedlicher Perspektivierung und Komplexität von Urteilen, Konzeptionen und Begründungsformen rechnen müssen, ganz besonders, wenn sie nicht nur fiktive oder reale Dilemmata, sondern gesellschaftliche Problemlagen und diakonische Arbeitsschwerpunkte zu Unterrichtsgegenständen machen, wie das bei Jugendlichen sinnvoll und erforderlich ist.

    6.         Diakonische Bildung und Persönlichkeitsentwicklung

    Die bisherigen Ausführungen sollten einen Überblick über den Forschungsstand zu den anthropologischen Voraussetzungen für diakonische Bildung ermöglichen. Moderne humanwissenschaftliche Forschung kann die Person nicht mehr als ganze, sondern nur unter bestimmten Aspekten untersuchen. Eine Integration dieser Aspekte zu einem Bild menschlicher Persönlichkeit kann unter theologischer, philosophischer oder auch bildungstheoretischer Perspektive versucht werden, zeichnet dann aber auch nur ein recht allgemeines Bild in einer bestimmten Hinsicht, etwa das eines gebildeten oder denkenden, eines barmherzigen oder glaubenden Menschen. Solche Idealkonstruktionen haben durchaus Orientierungswert, entbinden aber die Einzelne und den Einzelnen nicht von der Verantwortung für die eigene Persönlichkeit. Die einzelnen Fachwissenschaften beobachten verschiedene Teilsysteme, mit deren Hilfe alle Menschen leben. Im konkreten Lebensprozess wirken diese Systeme nie getrennt, sondern immer schon zusammen. Die Art des Zusammenwirkens kann im Einzelfall interdisziplinär oder medizinisch untersucht werden. Es gibt aber kein allgemeingültiges, verlässliches Modell des Zusammenwirkens, weder im Sinne einer Mechanik noch im Sinne eines Informationsprogramms. Menschen sind in dieser Sicht prinzipiell unvorhersehbare hochkomplexe Systeme.

    Freilich gibt es viele, die unverdrossen um zumindest zeitweise personenbezogene Integrationen bemüht sind wie Erzieher, Geistliche, Sozialarbeiter, auch diakonisch Engagierte. Sie wollen den einzelnen Personen helfen, zu einer stimmigen Persönlichkeit zu werden. Als Kriterium des Gelingens solcher Bemühungen diente lange der Bildungsbegriff. Ein gebildeter Mensch ist heute noch ein Äquivalent für eine integrierte Persönlichkeit, die ihre körperlichen, seelischen und geistigen Anlagen so entwickelt hat, dass sie harmonisch zusammenwirken. Aus aktueller wissenschaftlicher Sicht müsste der letzte Satz etwa lauten: Eine Persönlichkeit ist dadurch ausgezeichnet, dass ihr eine reflektierte Integration von sozialer Interaktion, biologischen, neuronalen, emotional-affektiven und symbolisch-kulturellen (kognitiven) Prozessen gelingt, die sich gleichzeitig als gesellschaftlich funktional und kreativ erweist. Wie eben erwähnt, galt (allgemeine) Bildung als zentrales Integrationsinstrument für Persönlichkeiten. Freilich hat sich in dieser Hinsicht durch die Pluralisierung Grundlegendes geändert.

    Der Bildungsbegriff ist selbst multiperspektivisch geworden, d.h. das Allgemeine der Bildung wird nicht mehr inhaltlich unter Bezug auf eine gemeinsame Kultur in einem profilierten ethischen Horizont bestimmt, sondern aus der Perspektive einer spezifischen Sinn- und Wertorientierung. Diese mithin partikulare Sinn- und

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