Glaubensverlust: Warum sich das Christentum neu erfinden muss
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Den Schlüssel findet Halbfas beim historischen Jesus selbst, der in den Glaubensbekenntnissen der christlichen Kirchen nicht vorkommt bzw. durch theologische Formeln ersetzt ist. Denn er hat eine Lebensweise angeboten, die sich im Alltag bewähren muss, aber keine Lehre, damit sie sich argumentativ bewahrheite. Halbfas unternimmt nicht weniger als eine Neuvermessung des Glaubens. Er zeichnet ein Programm, das die Kirchen unter Umständen mehr verändern würde, als diese sich zu ändern bereit sind.
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Glaubensverlust - Hubertus Halbfas
NAVIGATION
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COVER
HAUPTTITEL
INHALT
ANMERKUNGEN
ÜBER DEN AUTOR
ÜBER DAS BUCH
IMPRESSUM
HINWEISE DES VERLAGS
Hubertus Halbfas
Glaubensverlust
Warum sich das Christentum
neu erfinden muss
Patmos Verlag
INHALT
Vorwort
I Vorspiel: »Wir können nix machen«
II Absturz ins Bodenlose – die Glaubenssprache ist unverständlich geworden
II IDie Wahrheit des Evangeliums Jesu ist etwas anderes als die Wahrheit einer Glaubenslehre
IV Die Sprache des Glaubens verhindert Glauben
V Unerkannter Austausch
VI Jesus starb, wie er lebte, wie er lehrte – nicht um die Menschen zu erlösen, sondern um zu zeigen, wie man zu leben hat
VII Die Gottesbotschaft Jesu ist egalitär. Sie sprengt alle Trennungen und führt in die Völkerwelt
VIII Theologie ist Anthropologie. »Gott« verstehen wir nur soweit, als wir uns selbst in der von uns begriffenen Welt verstehen
IX Das neuzeitliche Denken kennt »keine Fakten, die zwar in der Geschichte stehen, aber nicht aus der Geschichte stammen«
X Wahrheit verlangt Wahrhaftigkeit
XI Reformunwillig und reformunfähig?
XII Wege aus der Sackgasse
Vorwort
»Wenn aber das Salz fade wird, womit soll man dann salzen? Man wirft es weg, und die Leute zertreten es« (Mt 5,13).
Diese Schrift erlaubt sich die offene Rede angesichts eines christlichen Traditionsabbruchs, der ohne geschichtliche Parallele ist und ohne Perspektive, wie ihm begegnet werden kann. Zwar greift Krisenbewusstsein allmählich um sich, konzentriert sich jedoch auf Strukturprobleme der katholischen Kirche. So forderten führende CDU-Politiker, die Kirche möge Männer, die sich als Gläubige besonders bewährt haben, zu Priestern weihen, ohne dass sie das Zölibatsversprechen ablegen. Umfassender verlangte das »Memorandum Freiheit« deutscher Theologen neue Formen der Beteiligung auf allen Feldern des kirchlichen Lebens: Respekt vor dem individuellen Gewissen der Menschen; Gemeinden, die nicht fortwährend der schwindenden Priesterzahl angepasst werden; ein Ende des praktizierten moralischen Rigorismus; die Erneuerung der kirchlichen Rechtskultur und eine Liturgie, die frei von zentralistischer Vereinheitlichung bleibt.
Daneben haben sich prominente Autoren mit Büchern zur Kirchenkrise gemeldet, die schärfer als je zuvor deutlich machen, dass die Hierarchie sich ein neues Volk suchen müsse, wenn nicht bald etwas geschehe. Soziologisch werden auch hier hinter den aktuellen Konflikten gravierende Struktur- und Wahrnehmungsprobleme ausgemacht. Dogmatisch wird das päpstliche Interpretationsmonopol kritisiert und der Reformunwilligkeit der Kirchenleitung die historische Wahrheit der christlichen Ursprünge gegenübergestellt, die zu mehr Freiheit anregen, als theologisch zugestanden wird. Darüber steht die Frage: »Ist die Kirche noch zu retten?«
Alle Kritiker konzentrieren sich auf das römische System. Was sie nicht in den Blick nehmen, ist die fundamentale Glaubenskrise, die sämtliche Mängel und Missstände des Katholizismus übersteigt, denn diese Krise durchzieht auch die reformatorischen Kirchen und Gemeinschaften. Überall schmilzt die Substanz der Tradition dahin. In beiden Konfessionen leeren sich die Kirchen, erscheinen überflüssig, werden umgenutzt und sogar verkauft. Die Kirchenaustritte nehmen weiter zu. Dabei übertreffen die evangelischen Austritte die katholischen Zahlen erheblich. Sie zeigen an, dass die Krise anders ist und tiefer greift, als die katholischen Kritiker annehmen. Selbst wenn der von allen beklagte römische Zentralismus überwunden würde, das Papsttum sein Macht- und Wahrheitsmonopol aufgäbe, die klerikale Hierarchie sich mit synodalen Strukturen verbände …, hätte der tradierte Glaube die heutige Krise immer noch ungelöst vor sich.
Das Verdunsten des christlichen Glaubens, wie es in Europa vor sich geht, entzieht sich bis heute der angemessenen Reflexion. Innerhalb der Gesellschaft herrscht mehr Unbetroffenheit als Auseinandersetzung. Angesichts des Kirchenpersonals, bei Theologen, Pfarrern und Religionslehrern, ist man versucht, mit Jesaja zu klagen: »Die Wächter des Volkes sind blind, sie nehmen nichts wahr. Es sind lauter stumme Hunde, sie können nicht bellen. … So sind die Hirten: Sie verstehen nicht aufzumerken« (Jes 56,10 f.)
Es geht um Herausforderungen, die sich mit Substanz und Selbstverständnis des Christentums verbinden. Eine Neuinterpretation des Glaubens kann nicht mehr umgangen werden. Die vorliegende Schrift skizziert freilich nur das Problem. Mein Buch »Der Glaube. Erschlossen und kommentiert«, im Oktober 2010 erschienen im Patmos Verlag, entfaltet es breit. Es geht davon aus, dass die Zukunft nicht mehr mit Einzelkorrekturen, sondern nur mit einer alles umfassenden Neubesinnung gewonnen werden kann.
In beiden Büchern stehen folglich nicht Faktoren gesellschaftlicher Entwicklung im Vordergrund, sondern Fragen nach dem, was der christliche Glaube selbst zu seiner Krise beigetragen hat und wie es um seine Erneuerungsressourcen bestellt ist. Um diese Glaubensproblematik in ihren Ausmaßen deutlich zu machen und Lösungen zu erörtern, sind dabei Grenzüberschreitungen unumgänglich. Der Ernst der Situation erlaubt es nicht, noch länger zu schweigen. Schon viel zu lange verweilt die Breite der Theologenschaft bei ihren akademischen Themen.
Sofern es noch etwas prophetische Unabhängigkeit gibt, die sich wecken lässt, sei ein Wort in Erinnerung gerufen, das Joseph Ratzinger geschrieben hat, als er Professor in Tübingen war: »Selbstgemachter und so schuldhafter Skandal ist es, wenn unter dem Vorwand, die Unabänderlichkeit des Glaubens zu schützen, nur die eigene Gestrigkeit verteidigt wird … Selbstgemachter und so schuldhafter Skandal ist es auch, wenn unter dem Vorwand, die Ganzheit der Wahrheit zu sichern, Schulmeinungen verewigt werden, die sich einer Zeit als selbstverständlich aufgedrängt haben, aber längst der Revision und der neuen Rückfrage auf die eigentliche Forderung des Ursprünglichen bedürfen. Wer die Geschichte der Kirche durchgeht, wird viele solcher sekundären Skandale finden – nicht jedes tapfer festgehaltene Non possumus (»wir können nicht«) war ein Leiden für die unabänderlichen Grenzen der Wahrheit, so manches davon war nur Verranntheit in den Eigenwillen, der sich gerade dem Anruf Gottes widersetzte, der aus den Händen schlug, was man ohne seinen Willen in die Hand genommen hatte.«¹
Hubertus Halbfas
I
Vorspiel: Wir können nix machen
Januar 1636. Es herrscht Religionskrieg: Kaiserliche Truppen bedrohen die evangelische Stadt Halle. Nachts stoßen Kundschafter auf einen Bauernhof im Weichbild der Stadt. Halle soll im Schlaf überfallen werden. Bei den Bauersleuten befindet sich die stumme Kattrin, die niemand für gescheit hält.
»Bet, armes Tier, bet!«, sagt die Bäuerin zu Kattrin. »Wir können nix machen gegen das Blutvergießen. Wenn du schon nicht reden kannst, kannst doch beten. Er hört dich, wenn dich keiner hört. Ich helf dir.«
Alle knien nieder. Die Bäuerin betet: »Lass die Stadt nicht umkommen mit alle, wo drinnen sind und ahnen nix … und mach, dass der Wächter nicht schläft, sondern aufwacht, sonst ist es zu spät …«
Das geht so dahin, doch während die Bauersleute weiterbeten, hat sich Kattrin fort geschlichen und ist aufs Dach geklettert. Die Leiter hat sie nachgezogen und beginnt nun, eine Trommel vom Marketenderwagen zu schlagen, um die schlafende Stadt zu wecken.
Die Bäuerin: »Hör auf der Stell auf mit Schlagen, du Krüppel!«
Der Bauer: »Sie hat den Verstand verloren.«
Die Soldaten fluchen und drohen, sie vom Dach zu schießen. Kattrin trommelt weiter. »Zum allerletzten Mal«, droht der Offizier: »Hör auf mit Schlagen!« Kattrin trommelt weinend so laut sie kann. Da schießen die Soldaten, Kattrin wird getroffen und sinkt zusammen. Aber ihre letzten Schläge werden von den Sturmglocken der Stadt abgelöst. Die Menschen sind gewarnt, und in den Aufbruch der Stadt fällt der Schlusssatz der Szene. »Sie hat’s geschafft«, sagt ein Soldat, hinreichend deutlich, um an das johanneische »Es ist vollbracht!« zu erinnern.²
»Wir können nix machen …« Weil der Priesternachwuchs wegbleibt und alle paar Jahre die »pastoralen Räume« dem verbleibenden Bestand angepasst werden müssen, empfiehlt der Papst, für neue Priester zu beten – aber den Ursachen nachzugehen und selbst neue Bedingungen zu schaffen, unterbleibt. Da soll wohl auch der liebe Gott nix machen können.
»Wir können nix machen …« Dass der traditionelle Glaube nur noch einen Bodensatz bei Kirchenmitgliedern und Geistlichen beider Konfessionen ausmacht, hat eine repräsentative Befragung aufgedeckt³ – aber über die Zeiten hin stört es keinen Glaubenswächter, dass das Apostolische Glaubensbekenntnis, wie es alle christlichen Kirchen sprechen, den historischen Jesus mit seinem Reich-Gottes-Programm ausklammert. Wenn man auf diese Weise das Evangelium Jesu durch das Evangelium des Paulus ersetzt, wird auch im christlichen Bewusstsein das Profil unklar und die eigene Rede schwammig.
»Wir können nix machen …« Eine neue »Evangelisierung« Europas