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Sei ein Frosch!: oder die Kunst, im Leben den richtigen Moment zu erwischen
Sei ein Frosch!: oder die Kunst, im Leben den richtigen Moment zu erwischen
Sei ein Frosch!: oder die Kunst, im Leben den richtigen Moment zu erwischen
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Sei ein Frosch!: oder die Kunst, im Leben den richtigen Moment zu erwischen

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About this ebook

Von einem Termin zum nächsten hetzen, nebenbei noch die Mails checken und das Geschenk für die Schwiegermutter besorgen. Oft sind wir so beschäftigt, dass wir vergessen, was wir eigentlich wollen. Nam Nguyen kennt das aus eigener Erfahrung. Für seine Karriere vernachlässigt er seine Familie und alles, was ihm wichtig ist. Er schlittert in eine Krise und überlebt nur knapp einen Suizidversuch. Es ist die schlimmste Zeit seines Lebens, aber auch ein Wendepunkt. Als er auf einem Spaziergang einen Frosch sieht, fällt ihm die Lösung ein: Sei ein Frosch! Ruhe gelassen in dir und sei gleichzeitig wach und aufmerksam. Ergreife deine Chancen, ohne ihnen nachzujagen. Wie ein Frosch, der am Teichrand sitzt - bis eine Mücke vorbeifliegt.
In diesem sehr berührenden Buch beschreibt Nam Nguyen, wie er die Weisheit des Frosches in sein Leben integriert hat. Und er gibt Tipps, wie wir alle das Frosch-Prinzip für uns entdecken können.
LanguageDeutsch
PublisherPatmos Verlag
Release dateSep 5, 2013
ISBN9783843604291
Sei ein Frosch!: oder die Kunst, im Leben den richtigen Moment zu erwischen

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    Book preview

    Sei ein Frosch! - Nam Nguyen

    NAVIGATION

    Buch lesen

    Cover

    Haupttitel

    Inhalt

    Über den Autor

    Über das Buch

    Impressum

    Hinweise des Verlags

    Nam Nguyen

    Sei ein Frosch

    oder die Kunst, im Leben den

    richtigen Moment zu erwischen

    Patmos Verlag

    Meiner Mutter und Frau Gisela L. gewidmet.

    Sie sind meine Fixsterne,

    zugleich meine Leitsterne,

    die immerwährend leuchten,

    aus einer anderen Welt im Universum, tief im Fernen.

    INHALT

    Vorwort: Tiefes Grau

    Westwind

    Verweht

    Böen

    Leergefegt

    Im Auge des Sturms

    Windgepeitscht

    Entwurzelt

    Ostwind

    Aufgefrischt

    Passat

    Herbstluft

    Nachwort: Hohes Blau

    Danksagung

    Vorwort: Tiefes Grau

    Er sitzt in der ersten Reihe des Seminarraumes, ganz links. Seinen Stuhl hat er ein wenig weiter nach links gerückt – ein Signal, dass er sich abkapselt. Dies fällt mir auf, ebenso seine Sitzhaltung: gekrümmt, unbehaglich. Seine Schultern zucken unkontrolliert mal links, mal rechts hoch. Das Gesicht ist grau, fast grünlich. Er dürfte Mitte dreißig sein – so schätze ich.

    Während meines Vortrags macht er sich viele Notizen. Er beobachtet mich aufmerksam, aber wenn sich unsere Blicke treffen, schaut er schnell weg.

    In diesem Herbst 2009 halte ich ein »Frühstücksseminar« für leitende Angestellte. Das Thema: »Abfindung – und dann?« Es ist gut besucht, trotz des ungemütlichen Wetters: grauer Himmel, windig, nasskalt.

    Nach dem Seminar steht er noch eine Weile am Rand des Raums. Ich packe meine Unterlagen und Hilfsmittel ein; als ich das nächste Mal aufschaue, ist er gegangen. Ist halt so, denke ich mir. Was genau ihn plagt, werde ich wohl nie erfahren. Aber dass ihn etwas plagt, war nicht zu übersehen.

    Inzwischen hat sich der Raum komplett geleert. Ich schalte das Licht aus und will die Tür hinter mir zuziehen, da steht plötzlich jemand neben mir und schaut mich an. Es ist der Mann, der mich während des Seminars so gemustert hatte. Jetzt kann ich sein Namensschild lesen: Dr. Piet Janßens.

    »Hätten Sie ein wenig Zeit für mich? In Ihrem Vortrag haben Sie den Zuhörern erlaubt, einen Hauch Ihres privaten Lebens kennenzulernen. Ich habe ein persönliches Problem und habe den Eindruck gewonnen, dass Sie dieses Problem kennen. Ich würde gerne mit Ihnen darüber reden.«

    Auf einmal ist von der anfänglichen Zurückhaltung nichts mehr zu spüren. Dr. Piet Janßens erzählt in allen Einzelheiten seine Geschichte. Seine Firma wollte den Bereich, den er leitete, mit einem anderen zusammenlegen. Man hat ihm eine Abfindung angeboten, wenn er einen Aufhebungsvertrag unterschreibt. Er weigerte sich. Daraufhin hat ihn die Firma kaltgestellt. Jeden Tag kommt er ins Büro und sitzt ohne jegliche Aufgabe bis abends am Schreibtisch. Er versucht, die Situation auszusitzen. Von meinem Seminar erhofft er sich Hinweise, wie er beruflich »überleben« kann – das ist sein Wort.

    Während Dr. Janßens erzählt, zieht er unkontrolliert die Schultern mal links, mal rechts hoch – genau wie vorhin beim Vortrag. Immer wieder reckt er den Kopf, wie um seinen verspannten Nacken zu entlasten.

    Seine perspektivlose berufliche Situation ist nur eins seiner Probleme. Er hatte sich an der Börse verspekuliert und fast sein ganzes Geld verloren. Mit dem Rest seines Vermögens will er nun seine Finanzen »erhalten und aufbessern« – so drückt er sich aus. Sein Scheidungsprozess läuft. Er wohnt jetzt wieder zur Miete in einer kleinen Wohnung. In seinem Haus lebt seine Noch-Frau mit ihrem neuen Lebenspartner und seinen zwei halbwüchsigen Kindern.

    Am Ende sagt er:

    »Ich fühle mich wie in einem Sturm, einem gewaltigen. Er hat alles ruiniert: den Beruf, meine Familie, das Vermögen und mein Leben. Ich sehe keine Chance zu entkommen. Vielleicht können Sie mir mit Ihren Erlebnissen helfen.«

    Ja, ich kann.

    Aus seiner Erzählung habe ich erkannt: Dr. Piet Janßens hat vergeblich nach einer Lösung für seine Probleme gesucht. Ähnlich wie die meisten Patienten in einer Arztpraxis, die nur eine Linderung ihrer Symptome wollen. Heilung ist jedoch erst möglich, wenn die Ursachen gefunden sind. Diese kann nur der Betroffene bei sich selbst entdecken und seinen individuellen Weg zur Lösung seiner Probleme beschreiten.

    Dies heißt, mit allen Sinnen und mit Einsatz der Vernunft die Chancen im Alltag zu erkennen und zuzugreifen – im richtigen Moment. Es heißt auch, den eigenen Zielen nicht kopflos hinterherzurennen. Genauso wenig bedeutet es, Probleme mutlos auszusitzen und zuzusehen, wie die Chancen an einem vorbeiziehen. Ein guter Weg kann sein, besonnen und gelassen auf die passende Gelegenheit zu warten. Und sie dann auch zu erkennen und vor allem zu handeln. Wie ein Frosch, der am Teichrand sitzt und erst dann zuschnappt, wenn die Fliege in Reichweite ist.

    In diesem Buch erzähle ich, wie ich meinen Weg mithilfe der Haltung des Frosches gefunden habe. Ich erzähle von dem Ungleichgewicht, das es in meinem Leben gab, von dem Sturm, der mich schüttelte, und davon, wie ich den guten Weg aus dem Sturm fand. Und ich hoffe, dass mein Weg auch für Sie Entdeckungen bereithält, dass Sie in diesem Buch Anregungen finden, Ihre persönlichen Chancen zu erkennen und mithilfe des Frosch-Prinzips Ihre eigenen Lösungen zu finden.

    An dieser Stelle möchte ich sagen: Alles, wovon ich erzähle, hat sich zugetragen. Aber es hat sich nicht alles ganz genau so zugetragen, wie ich es hier erzähle. Manches habe ich bewusst übertrieben. Zum Beispiel habe ich eine Entwicklung, die einige Zeit dauerte, in ein Ereignis zusammengefasst. Das habe ich getan, um auf den Punkt zu kommen. Ebenso habe ich die Geschichten verfremdet und manche Namen verändert, um meine Bekannten, meine Freunde, meine Familie und: ja, auch mich selbst zu schützen. Ihnen ist dieses Buch gewidmet.

    Ich bin für die Begegnungen mit diesen Menschen und für ihre Begleitung bis hierhin tief dankbar.

    Westwind

    Verweht

    Helles Licht liegt auf mir. Ich stehe am Rednerpult. Der Rest des Kongresssaals ist halb dunkel. Nur in den ersten zwei Reihen kann ich die Zuhörer erkennen. Es ist Winter im Jahr 1980. Ich halte zum ersten Mal einen Vortrag vor so großem Publikum. Es geht um die physikalischen Folgen einer Rissbildung in einer Betonwand. Die Herren in Anzügen hören mir aufmerksam zu. Als ich fertig bin, applaudieren sie laut. Der Geschäftsführer meiner Firma tritt nach vorne neben mich.

    »Vielen Dank für diese hervorragenden Ausführungen. Meine Damen und Herren, ich bitte Sie nochmals um Applaus für Herrn Nam Nguyen. Nicht nur für seinen Vortrag: Herr Nguyen ist heute Morgen auch Vater geworden!«

    Prasselnder Beifall brandet auf. Als die Welle vorüber ist, gehe ich zurück zu meinem Platz. Mein Blick geht zur Fensterreihe. Sie ist von hellblauen Vorhängen verdeckt. Jemand spricht. Der nächste Redner. Ich weiß aber nicht, worüber er spricht. Ich höre nur ein Rauschen. Zerfetzte Worte. Die Zuhörer neben mir sitzen so verschwommen, so stumpfsinnig da. Meine Gedanken schweifen ab.

    Meine Frau Agnes liegt jetzt im Krankenhaus. Ist unser kleiner Sohn bei ihr oder ganz allein in einem eigenen Zimmer? Oder gar in einem Brutkasten? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht einmal, wie wir ihn nennen werden. Ich habe meinen Sohn noch gar nicht gesehen. Als er vor drei Stunden geboren wurde, war ich schon hier auf dem Kongress. Die Rezeption des Hotels hat mir die Nachricht aus dem Krankenhaus, in dem meine Frau liegt, überbracht. Einige Minuten, bevor ich mit meiner Rede drangekommen bin.

    Plötzlich spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Der Vertriebsleiter steht neben mir. In seiner Hand eine Champagnerflasche. Er zieht mich aus meiner krummen Sitzhaltung hoch und sagt:

    »Gratuliere! Komm bitte mit mir. Ein Kunde wartet auf uns im Foyer und will gleich mit uns reden. Du hast eine tolle Chance: Du kannst demnächst ein großes Projekt in den USA leiten.«

    Wie Herbstlaub fallen Gedanken durch meinen Kopf. Und keinen davon kann ich festhalten. Nach außen hin bleibe ich aber ruhig und sage nur: »Geh schon mal vor, ich komme gleich nach.«

    Zum Glück fragt der Vertriebsleiter nicht nach und geht vor ins Foyer. Es ist gerade Pause zwischen den Vorträgen. Mein Blick geht durch die Menschenmassen zur Tür. Wenn ich hindurchgehe und noch durch zwei andere Türen, komme ich zum Hotelparkplatz und zu meinem Auto. Ich könnte mich ganz unauffällig hinausschleichen und wegfahren ...

    Die Menschen im Foyer gehen nach und nach zum Büfett hinüber. Mit Canapés und Sektgläsern ausgestattet, reichen sie einander die Hände, unterhalten sich, bringen sich ins Gespräch. Einer von ihnen hat sich vor die Tür gestellt und versperrt mir den Blick auf den Ausgang.

    Ich stehe auf und bleibe einen kurzen Moment lang stehen. Dann glätte ich meine Krawatte – und folge dem Vertriebsleiter ins Foyer.

    ***

    In dieser Situation war alles perfekt. Ich wusste, ich hatte einen tollen Vortrag gehalten. Zur Vorbereitung hatte ich vor dem Spiegel geübt – die Gestik, die Aussprache. Ich übte auch im Wald. Die Bäume waren meine Zuhörer. Nun bin ich aus der Masse der Projektleiter in meinem Unternehmen deutlich herausgestochen. Mein Vorgesetzter hat mich öffentlich gelobt, das Publikum hörte nicht mehr auf zu applaudieren. Ohne Zweifel war es der bislang höchste Gipfel meines beruflichen Erfolgs. Dazu kam die Aussicht auf noch mehr Erfolg. Und ich war erst dreiunddreißig Jahre alt.

    Auch privat war ich vom Leben beschenkt. Ich hatte eine wunderbare Frau. Ich hatte einen gesunden kleinen Sohn. Ich hatte alles, was Lebensglück ausmacht. Und trotzdem: War ich glücklich? Was heißt Glück eigentlich?

    Statt mich zu freuen, fühlte ich mich leer. Statt stolz zu sein, hatte ich Angst. Angst, ob ich es schaffen würde. All das, was ich mir vorgenommen hatte.

    Seit ich zum Studium aus Vietnam nach Deutschland gekommen war, schwebte vor meinem inneren Auge ein Bild von meiner ersehnten Zukunft: Ich, ein strahlender Mann, stehe stolz in der Mitte von Ehefrau und nett angekleideten Kindern. Daneben ein Wagen mit Stern auf der Kühlerhaube, dahinter ein frei stehendes Haus im Grünen. Meine Familie und ich werden abgesichert sein. Verwandte und Freunde werden mich bewundern für alles, was ich vollbracht habe.

    Das war mein Ziel: Karriere zu machen, ein guter Vater und Ehemann zu sein. Dafür arbeitete ich viele Stunden am Tag. Erst im Studium, dann bei meiner Firma. Ich besuchte Kongresse, engagierte mich als Projektleiter, ging pünktlich zu Meetings und lieferte meinen Beitrag ab. Meine Vorträge bereitete ich mit großer Sorgfalt vor. Kurz: Ich tat alles, was nötig war, um meinen Erfolg zu sichern. Und trotzdem fühlte ich mich nach allem Erfolg nicht erfolgreich.

    Im Kongresssaal schoben sich mir Zweifel ins Bewusstsein – nicht zum ersten Mal. Obwohl ich mich selbst entschieden hatte, Karriere zu machen, fühlte ich mich nun wie ein Getriebener. Ja, das ist es. Es waren nicht nur Leere und Angst in mir. Da war auch das Gefühl, ein Gehetzter zu sein. Ich war in diesem Kongresssaal nicht dort, wo ich sein wollte. Wo wollte ich sein? Bei Agnes und dem Baby! Was wollte ich in diesem Moment tun? Ihre Hand halten und mein Baby liebevoll in die Arme nehmen! Wie wollte ich mich fühlen? Glücklich, stolz, voller Freude! – Ich war in diesem Moment nicht der, der ich sein wollte. Ich bestimmte nicht selbst über mich.

    Nur: Wer bestimmte dann über mich?

    War es mein Vorgesetzter? Er hatte zwar den Wunsch geäußert, dass ich am Kongress teilnehme. Aber ich hätte auch Nein sagen können. Auch der Vertriebsleiter und der amerikanische Kunde hatten mich zwar gebeten, die Projektleiterrolle zu übernehmen. Aber Ja gesagt hatte ich selbst. Die Frage ist nur: Warum? Was hat mich dazu gezwungen? Wollte ich ihnen gefallen? Habe ich mich nicht getraut zu sagen, dass es mir zu viel wird? Nein, das war’s nicht. Ich weiß, was es war: Ich fühlte mich verpflichtet. Meinem zukünftigen Erfolg verpflichtet.

    Ja, es war das Pflichtgefühl. Der Termin für den Kongress stand seit Monaten fest. Datum und Uhrzeit waren in meinen Kalender eingetragen. Und ich hatte längst gelernt: Wer im Westen Erfolg haben will, muss nicht nur gute Arbeit leisten, sondern zuallererst einmal seine Termine zuverlässig einhalten. Das ausgetüftelte Konzept, die beste Idee nützen im Westen gar nichts, wenn sie nicht zum verabredeten Zeitpunkt vorliegen. Niemals zu spät kommen, das habe ich in Deutschland gelernt. Niemals einen vereinbarten Termin absagen! Nicht einmal für die Geburt eines Kindes!

    Inzwischen weiß ich: Es war kein »Wer«, der damals über mich bestimmte. Es war ein Ding: mein Terminkalender. Gut, ein Terminkalender ist natürlich kein echter Verursacher. Aber er ist auf jeden Fall ein echtes Anzeichen. Ein Symbol für eine bestimmte Lebensweise.

    Diese Lebensweise habe ich heute, nach vielen Jahren des Ringens, des Leidens und des Suchens, überwunden. Aber es ist eine Lebensweise, die ich trotzdem jeden Tag beobachte. Manchmal auch noch bei mir selbst, aber vor allem bei Freunden, Geschäftspartnern und auch bei Unbekannten. Diese Art zu leben regiert unsere ganze Gesellschaft. Das Leben, von dem ich spreche, ist: Planleben.

    Das, was die Menschen in Europa und Nordamerika aus meiner Sicht am stärksten gemeinsam haben, ist die Tatsache, dass ihr ganzes Leben praktisch aus Verpflichtungen besteht. Wie sonst sollte man die Abfolge an Terminen verstehen, die den Alltag jedes Managers, aber auch jeder Hausfrau und jedes Schulkindes ausmachen? Eine Verpflichtung folgt auf die andere. Wie die Steine einer Mauer grenzen sie aneinander, fugenlos und unverrückbar. So ein Leben wäre in Vietnam undenkbar.

    Dass die Deutschen mit der Zeit anders umgehen als die Vietnamesen, spürte ich, sobald ich mit neunzehn Jahren in Köln aus dem Flugzeug gestiegen war. Damals hatte ich noch keine genauen Worte dafür. Aber eins fiel mir sofort auf: Die Menschen hier laufen anders durch die Stadt, als ich es aus meiner Heimat gewohnt war. In Vietnam schlendern die Passanten auf der Straße entlang; manche gehen auch rasch, jeder in seinem eigenen Tempo. Die, die flott unterwegs sind, laufen schnell, aber nicht gehetzt.

    Hier nicht. Die Flugpassagiere, die in Köln mit mir ausgestiegen waren, strebten eilig und mit entschlossener Miene der Gepäckausgabe zu. Nicht nur die Geschäftsleute, sondern auch junge Paare mit Kindern. Sie gingen so zielgerichtet, ihre Schultern unbewusst hochgezogen, den Körper mechanisch nach vorne gebeugt, als ob die Zukunft ihrer Familie davon abhängen würde, dass sie möglichst rasch ihre Koffer ergattern und in den Shuttlebus einsteigen. Dabei herrschte in diesen Bussen nicht einmal Platzmangel ...

    Die Zielgerichtetheit der Deutschen war aber nur der Anfang einer ganzen Reihe merkwürdiger Beobachtungen. Genauso verblüffend fand ich, dass die Menschen hier ganz genau wissen, was sie in der nächsten Stunde, am nächsten Tag, in der nächsten Woche tun werden. Ja, sie wissen sogar, was sie am 12. März nächsten Jahres machen. Und genau das tun sie auch am 12. März des folgenden Jahres!

    Außerdem haben sie für alle möglichen Tätigkeiten ihre ganz persönlichen »Zeiten«. Eine »Mahl-Zeit«, eine »Arbeits-Zeit«, eine »Aufsteh-Zeit«, »Frei-Zeit«, ebenso wie ihre »Zubettgeh-Zeit«: Die Menschen im Westen haben einen festgelegten Tagesrhythmus, und der ist immer abhängig von der Uhr. Interessanterweise wird dieser Tagesrhythmus auch dann beibehalten, wenn er gar nicht mehr passend ist. Alte Menschen, die ihr Leben lang um sechs Uhr aufgestanden sind, um zur Arbeit zu gehen, sind so sehr von dieser Gewohnheit beherrscht, dass sie selbst im Ruhestand jeden Tag um sechs Uhr aufstehen. Um sieben, nachdem sie gefrühstückt haben, wissen sie dann nicht mehr, was sie mit ihrer Zeit überhaupt anfangen sollen.

    Die Krönung dieser Uhrfixierung des Westens ist für mich die Zeitumstellung. Da wird einfach beschlossen: Ab heute wird die Uhr eine Stunde vorgestellt. Die Sonne geht nicht um sechs Uhr auf, sondern um sieben Uhr. Und abends geht sie nicht kurz nach sechs Uhr unter, sondern kurz nach sieben. Dadurch müssen wir erst eine Uhrzeit-Stunde später die Lichter anschalten. Wir sparen Strom. Diese Denkweise ignoriert den natürlichen Tagesrhythmus und versteht die Zeit nur als eine künstliche, von Menschen gemachte Einteilung.

    Zeit ist in dieser Denkweise kontrollierbar und muss kontrolliert werden. Zahllose Zeitmanagement-Methoden erlauben es, die Termine minutengenau zu takten. Methoden, die ich über Jahre und Jahrzehnte auch

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