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Welt ohne Gott?: Eine kritische Analyse des Naturalismus
Welt ohne Gott?: Eine kritische Analyse des Naturalismus
Welt ohne Gott?: Eine kritische Analyse des Naturalismus
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Welt ohne Gott?: Eine kritische Analyse des Naturalismus

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About this ebook

Der Naturalismus gilt heute als die moderne, wissenschaftliche Weltsicht und vielerorts als Denkstandard. Ihm zufolge ließe sich das Universum aus sich selbst heraus erklären – Gott wäre überflüssig. Dazu müsste sich aber die Ordnung des Universums aus Unordnung sowie Bewusstsein und Geist aus geistlosen Prozessen ableiten lassen. In diesem Buch weist der Autor nach, dass diese Sichtweise letztlich irrational ist, da sie unterschwellig an eine gleichsam magische, fast unbegrenzte Schöpferkraft blinder, toter Materie appelliert. Zudem hat diese Weltsicht schwerwiegende Konsequenzen, weil hier eine objektive Moral, die Freiheit, Würde und Wahrheitsfähigkeit des Menschen hinfällig werden. Wahrheit und Moral werden damit letztlich zum Gegenstand politischer Deutungshoheit.
LanguageDeutsch
PublisherSCM Hänssler
Release dateApr 1, 2015
ISBN9783775172820
Welt ohne Gott?: Eine kritische Analyse des Naturalismus
Author

Markus Widenmeyer

Dr. Markus Widenmeyer ist Jahrgang 1973, hat Chemie und Philosophie in Stuttgart studiert. Er promovierte 2001 an der TU München in Anorganischer Chemie und hat einen zusätzlichen Magisterabschluss in Philosophie.

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    Book preview

    Welt ohne Gott? - Markus Widenmeyer

    Markus Widenmeyer – Welt ohne Gott? – Eine kritische Analyse – des NaturalismusSCM | Stiftung Christliche Medien

    Der SCM-Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

    ISBN 978-3-7751-7282-0 (E-Book)

    ISBN 978-3-7751-5619-6 (lieferbare Buchausgabe)

    Datenkonvertierung E-Book:

    CPI books GmbH, Leck

    2., überarbeitete Auflage 2015

    © der deutschen Ausgabe 2014

    SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen

    Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: info@scm-haenssler.de

    Herausgegeben von der

    Studiengemeinschaft Wort und Wissen e. V.

    www.wort-und-wissen.de

    Studium Integrale

    Satz: Studiengemeinschaft Wort und Wissen, Baiersbronn

    Umschlaggestaltung: Regine Tholen, www.designbytholen.de

    Titelbild: Near Space photography – 20 km above ground/real photo, © dell – Fotolia.com

    Inhalt

    Inhalt

    1.  Einleitung

    2.  Drei Formen des Naturalismus

    2.1  Der Welt- und Götterentstehungsmythos Babylons

    2.2  Die Schattenwelt in Platons Höhlengleichnis

    2.3  Der Naturalismus in seiner heutigen Form

    3.  Naturalismus und Menschenbild

    3.1  Naturalismus und Moral

    3.2  Naturalismus und Freiheit

    3.3  Naturalismus und Erkenntnisfähigkeit

    4.  Naturalismus, Politik und Gesellschaft

    4.1  Der Verlust der Moral

    4.2  Der Verlust des Menschen

    4.3  Die „machtvolle Propagandakampagne" des Naturalismus

    5.  Grenzen der Naturwissenschaft

    5.1  Prinzipielle Grenzen der Naturwissenschaft

    5.2  Die Naturwissenschaft als Kulturprodukt

    6.  Naturalismus und das Problem der Ordnung

    7.  Naturalismus und das Problem des Geistigen

    7.1  Das Geistige (Teil 1), Subjekt und Bewusstseinsinhalte

    7.2  Das Geistige (Teil 2), Intentionalität

    7.3  Können wir auf Geist verzichten?

    7.4  Die Identitätstheorie

    7.5  Ist Geist emergent?

    7.6  Alternativen zum Naturalismus

    8.  Gott oder Mythos?

    8.1  Das Scheitern des Naturalismus

    8.2  Der Theismus

    8.3  Die Flucht vor Gott

    8.4  Der Glaube an Gott

    Dank

    Verzeichnis einiger philosophischer Begriffe

    Literaturverzeichnis

    [ Zum Inhaltsverzeichnis ]

    1  Einleitung

    Das Wiederholte befestigt sich so sehr in den Köpfen, dass es schließlich als eine bewiesene Wahrheit angenommen wird.

    Gustave Le Bon, Psychologie der Massen

    Modernes Denken

    Das Wort „modern klingt für die meisten Menschen positiv. Sie sind mehr oder weniger stark bestrebt, „modern zu leben und zu denken. Eine wesentliche Bedeutung des Wortes „modern ist „der herrschenden Denk- und Lebensweise entsprechend. Wahrscheinlich waren die Menschen in diesem Sinne schon immer mehrheitlich modern. Es gibt hier aber eine recht problematische Seite: Moderne Menschen glauben mit einer gewissen Selbstverständlichkeit und Unbeirrbarkeit an die jeweils vorherrschenden Sichtweisen über die Welt und über das, was gerade als richtig und falsch gelten soll – ohne es meist wirklich geprüft zu haben. Nicht selten sind sie dabei über abweichende Sichtweisen empört, weil sie es als lächerlich, übelwollend oder gefährlich ansehen, andere als die allgemein vertretenen Meinungen zu haben oder zu äußern. Es kann so weit gehen, dass diejenigen, die die herrschenden Ansichten in Frage stellen, von ihren Zeitgenossen diffamiert, unterdrückt oder gar getötet werden. Der griechische Philosoph Sokrates wurde in der vermutlich frühesten Demokratie der Menschheitsgeschichte von einem Volksgericht zum Tod durch Vergiften verurteilt. Er hinterfragte Überzeugungen, mit denen sich seine Zeitgenossen offensichtlich stark identifizierten, während sie aber nicht willens oder in der Lage waren, sie argumentativ zu reflektieren.

    Solche typisch menschlichen Haltungen haben Ursachen, die weitgehend unabhängig von unserer Intelligenz sind und oft unbewusst wirken. Eine Ursache ist, dass wir Menschen uns gewöhnlich sehr stark nach der Sichtweise einflussreicher und angesehener Vorbilder, einem herrschenden Trend oder der (vermuteten) Mehrheitsmeinung ausrichten. Ein solches Verhalten wird oft als „Herdentrieb oder „Schwarmverhalten bezeichnet und ist zum Beispiel an den Finanzmärkten gut erforscht. Neben einer gewissen Schwarmintelligenz gibt es dabei bekanntermaßen unzählige (und teure) Fälle kollektiven Irrtums. Eine andere Ursache ist, dass wir bei dem, was wir für wahr oder falsch halten, uns oft von unseren Wünschen und Gefühlen leiten lassen. Wir halten etwas für wahr, weil es uns angenehm erscheint, oder für falsch, weil es uns unangenehm erscheint. In der Regel versuchen wir nachträglich eine Begründung für eine gern gehegte Überzeugung zu finden. Man nennt dies „Rationalisierung". Ähnlich wie bei Suchtkranken tun wir uns manchmal recht schwer, liebgewordene Denk- und Lebenskonzepte aufzugeben, selbst wenn gegen sie, objektiv betrachtet, sehr gewichtige Gründe im Raum stehen sollten. Die Philosophin Barbara Zehnpfennig formulierte dies in Bezug auf den Fall Sokrates so:¹

    „Der Widerstand, der Sokrates entgegenschlug, ist der Widerstand gegen die Aufgabe der eigenen Prämissen. Da es sich in der Regel um Prämissen handelt, auf denen Lebensgebäude errichtet sind, wird die Vehemenz des Widerstands deutlich."

    Nun ist die Ansicht, dass die Menschen zu früheren Zeiten in vielen Dingen unaufgeklärt, unvernünftig und einseitig beeinflusst gewesen seien, gerade heute fast Gemeingut. Entsprechend häufig zu hören ist die Rede vom angeblich „finsteren Mittelalter. Und von Zeitgenossen, die sich in ihrer Denk- und Lebensweise nicht dem herrschenden Zeitgeist anpassen, sagt man heute gerne, sie seien „noch nicht in der Moderne angekommen – oder gar Schlimmeres. Das sind typische Kontraindikatoren. Die Berufung auf Prädikate wie „modern oder „zeitgemäß ist eher ein Indiz dafür, dass bei der Bildung einer Überzeugung die Kraft der Argumente wohl nicht die entscheidende Rolle gespielt hat. Wir Menschen neigen schnell dazu, das als Standard anzuerkennen, was wir als die aktuell vorherrschende Meinung wahrnehmen. Und diese Meinung wird, wenn überhaupt, meistens nur intuitiv und nicht gründlich argumentativ geprüft. Der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman nannte es so, dass wir häufig zu sogenannten „kognitiven Verzerrungen" neigen. Es handelt sich um ein durch unsere Intuition geleitetes, systematisch falsches Denken. Ein weiteres Beispiel neben den bereits genannten ist die sogenannte „Verfügbarkeitsheuristik". Kahneman schrieb:²

    „So haben beispielsweise Politikwissenschaftler herausgefunden, dass die Verfügbarkeitsheuristik erklären hilft, weshalb einige Probleme in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit finden, während andere vernachlässigt werden. Menschen neigen dazu, die relative Häufigkeit von Problemen danach zu beurteilen, wie leicht sie sich aus dem Gedächtnis abrufen lassen – und diese Abrufleichtigkeit wird weitgehend von dem Ausmaß der Medienberichterstattung bestimmt. Häufig erwähnte Themen ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich, während andere aus dem Bewusstsein verschwinden."

    Die genannten Faktoren machen es verständlich, dass wir Menschen kollektiv ziemlich falsche Vorstellungen über die Welt besitzen können. Und sie machen verständlich, dass gerade heute durch Massenmedien oder staatlich koordinierte Bildungseinrichtungen sehr effektive Möglichkeiten zur Verfügung stehen, Meinungen zu machen, zu steuern und relativ einheitlich auszurichten.³ Eine Tatsache, die von denen, die „ihre" Meinung einfach nur an den Zeitgeist anpassen, erfolgreich verdrängt wird.

    Natürlich ist eine Sichtweise nicht deshalb falsch, weil sie heute modern ist oder es zu irgendeiner anderen Zeit war. Es kann aber sehr irreführend sein, etwas deshalb für wahr zu halten, weil es allgemein als selbstverständlich angesehen wird.

    Der Naturalismus

    Das Wort „Naturalismus" ist in der Öffentlichkeit nicht sehr geläufig. Dabei ist der Naturalismus der weltanschauliche Denkrahmen, der den modernen Menschen sehr stark prägt. Dieser Denkrahmen wird in diesem Buch dargestellt, analysiert und schließlich widerlegt. Warum ist es wichtig, sich damit zu beschäftigen? Die Frage nach der Wahrheit oder Falschheit unserer Weltsicht betrifft die grundlegendsten und wichtigsten Dinge, die es gibt. Eine vorherrschende Weltsicht kann nicht nur gesellschaftliche und politische Auswirkungen haben. Wenn es ein objektives Ziel, einen objektiven Sinn unseres Lebens geben sollte, wenn es, in anderen Worten, Gott gibt, wäre es vermutlich das Schlimmste, was uns passieren könnte, dass wir an diesem Ziel vorbeileben.

    Die Wirklichkeitsauffassung des Naturalismus kann grob so dargestellt werden:

    1. Der Ursprung der Welt ist nichtgeistig, materiell und nicht oder wenig geordnet.

    2. Das Höhere und Komplexere stammt vom Niederen und Einfachen ab.

    3. Die Welt und alle ihre Ausstattungsmerkmale entwickelten sich auf Grundlage blinder Naturvorgänge mit einem praktisch unbegrenzten schöpferischen Potenzial.

    4. Die hochgradige Ordnung der Welt ist eine Variante der Unordnung. Sie ist letztlich eine radikal unerklärbare Tatsache.

    5. Geist ist eine Variante des Nichtgeistigen und ebenfalls eine radikal unerklärbare Tatsache, die „einfach so" zustande gekommen ist.

    6. Der Mensch ist nichts als Materie. Er ist letztlich vollständig durch blinde, nichtgeistige Faktoren festgelegt und hat keinen freien Willen.

    7. Objektive Moral oder Ethik gibt es nicht. Moralvorstellungen sind relativ und beliebig und sie entwickeln sich. Letztlich stammen sie von nichtmoralischen Sachverhalten her und sind darauf zurückführbar.

    8. Es gibt keinen Gott, keine objektive Gerechtigkeit, keinen Sinn. Mit dem körperlichen Tod hören alle Menschen endgültig auf zu existieren. Sie müssen keine Verantwortung für ihr Leben übernehmen.

    Der moderne Naturalismus wird auch weitgehend bedeutungsgleich als „Materialismus, „Physikalismus oder „Reduktionismus bezeichnet, insofern für ihn Grundlage und Ursprung der Welt materieller und physikalischer Natur sind. „Reduktionismus bedeutet, dass alles, was es gibt, auf Materie beziehungsweise auf Physikalisches zurückgeführt (reduziert) werden kann.

    Der Naturalismus gilt heute weitgehend als die moderne, wissenschaftliche Weltsicht. Gleichzeitig werden seine weltanschaulichen Prinzipien einer Interpretation wissenschaftlicher Daten zugrundegelegt. Insbesondere wird vorausgesetzt, dass prinzipiell alle Aspekte der Wirklichkeit mittels der fortschreitenden Naturwissenschaft irgendwann erklärt werden könnten. Hier werden aber die methodischen und begrifflichen Grenzen der Naturwissenschaft in entscheidender Weise überschritten: Tatsächlich beschreiben die Naturwissenschaften lediglich die Regelmäßigkeiten unserer Naturbeobachtungen. Die Regelmäßigkeiten als solche können naturwissenschaftlich nicht erklärt werden, genauso wenig wie der menschliche Geist, der die Natur wahrnimmt, die Daten ordnet und Naturwissenschaft betreibt. Wir werden diese und ähnliche Punkte an geeigneter Stelle recht gründlich betrachten.

    Ein weiterer, bemerkenswerter Umstand ist, dass der Naturalismus wesentliche weltanschauliche Prinzipien mit pantheistischen oder polytheistischen⁴ Mythen des Altertums teilt. Zentral ist hier ein fundamentales Entwicklungs- und Fortschrittsprinzip, das letztlich im Wesen der Materie gründen soll. Nach dieser Vorstellung wird aus einem realen „Weniger (oder gar aus dem Nichts) spontan ein ebenso reales „Mehr. Dies war offenbar im Altertum genauso wie heute für viele Menschen intuitiv eingängig. Wir werden aber sehen, dass eine solche Vorstellung rational unhaltbar ist, weil die nötigen realen Voraussetzungen für das Zustandekommen dessen, was durch dieses Prinzip erklärt werden soll, systematisch ausgeblendet werden.

    Nichtsdestotrotz wird der Naturalismus heute manchmal aggressiv vertreten – auch mit Unterstützung der Medien und der Politik. Die häufige pauschale Gleichsetzung von „naturalistisch mit „wissenschaftlich ist aber nicht nur sachlich unhaltbar, sie kann schnell auch totalitäre Züge annehmen: Denn ihr Umkehrschluss ist, dass nicht-naturalistische Sichtweisen generell rückständig, unvernünftig und wissenschaftsfeindlich seien und man sie gegebenenfalls bekämpfen müsse. Es ist, wie wir sehen werden, kein Zufall, dass die großen totalitären Systeme der Zeitgeschichte, der Nationalsozialismus und der Marxismus mit seinen Spielarten, beide eine naturalistische Grundlage haben. Bezeichnend ist ihr jeweiliges Selbstverständnis als „wissenschaftliche Weltsicht. Beliebte Attribute für die ungeliebten Kritiker des Naturalismus und ihre Positionen sind heute „obskur, „mystisch, „wissenschaftsfeindlich, „rückständig, „mittelalterlich, „fundamentalistisch, „extremistisch und ähnliche. Das bekannteste Beispiel eines aggressiv auftretenden und einflussreichen Naturalisten ist wohl Richard Dawkins. Seine Bücher wurden in Dutzende Sprachen übersetzt und mehrere Millionen Mal gedruckt. Dawkins bezeichnete insbesondere Vertreter nicht-naturalistischer Konzepte in der Biologie sinngemäß als hoffnungslos rückständig, dumm, verrückt oder gar böswillig.⁵ Letztlich ist eine solche pauschale Diskreditierung des Gegners ein Schachzug, um eine sachbezogene, begrifflich klare argumentative Auseinandersetzung zu vermeiden.

    Solche Kampagnen sind in ihrem Sinne erfolgreich, da durch sie der Naturalismus heute in vielen Bereichen als Standard gilt. Tatsächlich ist er aber eine weltanschauliche Position mit weitreichenden, oftmals bizarren und rational unannehmbaren Konsequenzen. Einen Zwischenstand zog der Philosoph John Searle, der eigentlich selbst dem Naturalismus (oder Materialismus) zugeneigt ist:

    „In einem gewissen Sinne ist der Materialismus die Religion unserer Zeit. [Es] wird der Materialismus akzeptiert, ohne ihn zu hinterfragen."

    Auch der Philosoph Thomas Nagel, ebenfalls selbst (gemäßigter) Naturalist, kritisierte die heute übliche naturalistische Deutungshoheit in den institutionalisierten Wissenschaften:

    „[F]ast jeder in unserer säkularen Kultur wurde unter Druck gesetzt, damit er das reduktionistische Forschungsprogramm als unantastbar anerkennt."

    Dass es zu dieser Deutungshoheit eines orthodoxen Naturalismus überhaupt kommen konnte, bezeichnete Nagel als einen „Triumpf einer Ideologie über den gesunden Menschenverstand".

    Es ist wichtig zu sehen, dass der Naturalismus in praktisch allen weltanschaulichen Fragen in einem radikalen Gegensatz zur christlich-abendländischen Weltsicht steht, die bislang unser westliches Denken geprägt hat: Ihr zufolge stammen die Welt und ihre Ausstattungsmerkmale wie ihre enorme strukturelle Ordnung, Leben, Bewusstsein, Geist, Moralität und so weiter nicht einfach nur aus Dingen, die in Qualität und Grad prinzipiell weniger als sie sind. Denn sonst wäre die Welt radikal unerklärbar und intellektuell absurd. Stattdessen haben alle diese Dinge einen rationalen, verstehbaren Grund. Sie haben ihren Grund in einer fundamentalen Rationalität und damit in einer in jeder Hinsicht höheren Instanz, nämlich in Gott. Dadurch haben sie – und insbesondere auch der Mensch – einen Sinn. Der Philosoph Aristoteles kritisierte bereits wesentliche Aspekte des Naturalismus:

    „Denn dass sich im Sein und Werden das Gute und Schöne findet, davon kann doch billigerweise nicht das Feuer oder die Erde oder sonst etwas dieser Art die Ursache sein, […] aber ebenso wenig ging es wohl an, eine so große Sache dem Zufall und dem Ungefähr zuzuschreiben. Als nun jemand erklärte, dass Vernunft wie in den lebenden Wesen so auch in der Natur die Ursache aller Schönheit und aller Ordnung sei, da erschien er gegen die Früheren wie ein Nüchterner gegen Irreredende."

    Es gibt damit zwei ganz grundlegende Weltsichten, die Menschen einnehmen können und die klar voneinander abgrenzbar sind: Im einen Fall beruht die Welt letztlich auf Vernunft oder, in anderen Worten, auf Geist. Im anderen Fall beruht sie auf Vernunftlosem und Geistlosem. Der Naturalismus stellt diesen zweiten Fall dar.

    Vernünftiges Denken

    Wie gesagt ist die Frage nach der Wahrheit oder Falschheit des Naturalismus von größter Wichtigkeit, da an ihr die zentralen Fragen unserer Existenz hängen. Um eine derart wichtige Frage zu beantworten, ist es keinesfalls ratsam, einfach dem zu folgen, was die Medien, angesehene Vorbilder oder die Menschen um einen herum behaupten und für wahr halten. Die Gefahr ist viel zu groß, dass persönliche weltanschauliche Haltungen, liebgewordene Lebenskonzepte, ideologische Beeinflussungen, ein gegenseitiges Nachplappern und andere Quellen kollektiven Irrtums den Ausschlag geben. Genauso wenig ist es vernünftig, wie es heute viele tun, sich zur Rechtfertigung seiner Meinung auf „die Wissenschaft, „die Vernunft, „die Aufklärung oder „die Mehrheit zu berufen, aber tatsächlich keine guten und klaren Argumente zu haben. Vernünftig ist es hingegen, den Indizien und den daraus reflektiert und korrekt gezogenen Schlüssen zu folgen – egal wo sie dann schließlich hinführen. Wollen wir den Behauptungen anderer nicht letztlich blind vertrauen, müssen wir die Argumente und Schlussfolgerungen selbst nachvollziehen und durchdenken. Dazu ist es nötig, das klare und verständliche Argument einer unklaren und unverständlichen Darstellung vorzuziehen, auch wenn letztere noch so gelehrt, rhetorisch geschliffen und beeindruckend klingen mag oder von anerkannten Persönlichkeiten vorgetragen wird. Gedankengänge, die an wesentlichen Stellen gedankliche Sprünge, ungedeckte Voraussetzungen, unklare Begrifflichkeiten oder gar Widersprüche enthalten, sind inakzeptabel. Auch Argumente, die wesentlich an unsere Intuition und Vorstellungskraft appellieren, sind verdächtig. Jede Argumentationskette ist höchstens so stark wie ihr schwächstes Glied.

    Immanuel Kant hat in seiner Schrift Was ist Aufklärung richtig dargelegt, dass der Mensch in Bezug auf das, was er für wahr und richtig hält, eine persönliche Verantwortung trägt:¹⁰

    „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. […] Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen […] dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein."

    Ziel dieses Buches ist eine klare und nachvollziehbare argumentative Beantwortung der Frage, ob der Naturalismus wahr oder falsch ist: Erscheint die Welt so, dass sie auf blinde, nichtrationale und geistlose Faktoren zurückzuführen ist? Oder erscheint sie so, dass sie ihr Dasein einer äußerst rationalen, geistigen Instanz zu verdanken hat? Diese beiden Auffassungen sind so radikal verschieden, dass eine klare und sichere Antwort durchaus zu erwarten ist. Die heute häufig gehegte Meinung, dass es eine Frage des persönlichen Geschmacks sei, was wir glauben wollen, erscheint dagegen recht unvernünftig.

    Die Argumentation wird zeitweilig etwas Konzentration erfordern. Für das Verständnis der wesentlichen Punkte sind aber keine tieferen naturwissenschaftlichen oder philosophischen Kenntnisse nötig. (Einige philosophische Begriffe werden am Ende des Buches erläutert.) Ich hoffe, dass die Abwägung zwischen argumentativer Gründlichkeit, allgemeiner Verständlichkeit und einer jeweils gebotenen Kürze wenigstens in den meisten Fällen gelungen ist. Das Resultat wird sein, dass der Naturalismus, der sich heute meist mit Seriosität, nüchterner Wissenschaftlichkeit und intellektueller Überheblichkeit kleidet, einer argumentativen Prüfung nicht standhält. Seine zentralen Grundsätze stellen sich als unhaltbar heraus, sobald sie sauber analysiert und konsequent weiterentwickelt werden. Die Welt ist völlig anders, als der Naturalismus es sagt.

    [ Zum Inhaltsverzeichnis ]

    2  Drei Formen des Naturalismus

    Das mythische Denken trennt nicht Materie und Bewusstsein, Leib und Seele.

    Carl Friedrich von Weizsäcker

    Der Naturalismus ist kein neues Phänomen. Es gab ihn in verschiedenen Formen bereits im frühen Altertum. Da wir heute wieder mehr oder weniger stark vom Naturalismus geprägt sind, ist es hilfreich, das naturalistische Denken zuerst aus der Distanz zu betrachten. In den beiden folgenden Abschnitten werden dazu zwei recht unterschiedliche Darstellungsformen des Naturalismus vorgestellt, die beide aus der Antike stammen.¹¹ Danach betrachten wir den Naturalismus in seiner heutigen Form.

    2.1 Der Welt- und Götterentstehungsmythos Babylons

    Welt- und Götterentstehungsmythen

    Die erste Form des Naturalismus finden wir in den großen Welt- und Götterentstehungsmythen, die im alten Babylon, in Griechenland, Mittel- und Nordeuropa und andernorts weit verbreitet waren. Welche Funktion haben solche Mythen? Das ursprünglich griechische Wort „Mythos heißt in etwa „Erzählung. Solche Erzählungen sollen das Bedürfnis der Menschen nach einer Erklärung der Welt und der Dinge in ihr befriedigen. Sie gingen durchaus mit einem Anspruch auf Wahrheit und Erklärung dessen, worüber sie sprachen, einher und vermutlich schenkte ein Großteil der Menschen ihnen Glauben. Dies war nicht zuletzt deshalb so, weil gerade auch die jeweilige intellektuelle und gesellschaftliche Elite diese Mythen hochhielt. Weiterhin bildete ein solcher Mythos den Rahmen des Lebenskonzepts der Menschen, die an ihn glaubten. Nur so können wir zum Beispiel die in vielen Kulturen üblichen Menschenopfer, manchmal sogar die der eigenen Kinder, verstehen. Und wie Platon berichtete, wurde Sokrates von den Athenern nicht zuletzt deshalb getötet, weil er eine solche mythische Weltsicht in Frage gestellt hatte.

    Was ist der Inhalt dieser Mythen? Sie erzählen, wie sich die spätere Welt und die Götter aus einem innerweltlichen, materiellen und chaotischen Urzustand gemäß einer blinden Naturnotwendigkeit entwickelt haben. Der Religionswissenschaftler Aloys Kirchner nannte die Weltsicht, die hier zum Ausdruck kommt, „pantheistischer Naturalismus".¹² Der Materie werden hier mehr oder weniger unterschwellig gleichsam göttliche und schöpferische Kräfte zugeschrieben. Dass es pantheistische oder polytheistische Versionen des Naturalismus gibt, mag für uns auf den ersten Blick erstaunlich wirken, da sich der zeitgenössische Naturalismus betont wissenschaftlich und nüchtern gibt. Aber gerade an den alten Mythen werden wesentliche Merkmale des Naturalismus sichtbar: Zum Beispiel das Immanenzprinzip (es gibt nur eine innerweltliche Wirklichkeit), der Entwicklungsgedanke und damit auch der Glaube an eine besondere Schöpferkraft der Materie. Es ist weiterhin wichtig zu sehen, dass die naturalistischen Mythen sich fundamental vom Theismus unterscheiden, also der Auffassung, dass es einen transzendenten, ewigen und vollkommenen Gott gibt:¹³ Die Götter dieser Mythen sind im Kontrast dazu aus einem chaotischen Urzustand entstanden, existieren innerhalb der raumzeitlichen, materiellen Welt und sind, wie wir sehen werden, auch nicht sehr moralisch. Sie haben viel mehr Ähnlichkeit mit Menschen als mit dem Gott des Juden- oder Christentums.

    Der babylonische Mythos Enuma Elisch ist ein Beispiel eines solchen Welt- und Götterentstehungsmythos. Von Interesse für uns sind seine weltanschaulichen Grundprinzipien: Von welcher Art ist der Ursprung der Welt? Wie kommen die Dinge ins Dasein? Welche Ordnung oder welche Prinzipien stehen dahinter? Kann damit tatsächlich das erklärt werden, was durch den Mythos erklärt werden soll? Welche Sichtweise von Moral liegt dem Mythos zugrunde?

    Die Erzählung des Enuma Elisch

    Der Enuma Elisch beschreibt den Ursprung der Welt so:¹⁴

    „Als oben der Himmel noch nicht existierte und unten die Erde noch nicht entstanden war, gab es Apsu, den ersten, ihren Erzeuger, und Schöpferin Tiamat, die sie alle gebar. Sie hatten ihre Wasser miteinander vermischt, ehe sich Weideland verband und Röhricht zu finden war, als noch keiner der Götter geformt oder entstanden war, die Schicksale nicht bestimmt waren, da wurden die Götter in ihnen geschaffen, Lachmu und Lachamu wurden geformt und entstanden."

    Was kennzeichnet diesen Weltanfang? Am Anfang gibt es noch keinen Himmel, keine Erde, keine Götter. Es existieren nur die weitgehend passiven, dumpfen und stofflichen Ursubstanzen Apsu und Tiamat, die gemeinhin zwei Urgewässer darstellen: Apsu einen Süßwasserozean, Tiamat einen Salzwasserozean.¹⁵ In dieser Situation gibt es keine geistigen, planvoll handelnden Instanzen und entsprechend waren die „Schicksale nicht bestimmt. Wenn der Mythos dann sagt, dass die ersten Götter „in ihnen geschaffen wurden, meint er, entgegen unserem normalen Sprachgebrauch, keine aktive, zielgerichtete Handlung eines denkenden Wesens, sondern einen passiven, blinden Vorgang. Die erste Göttergeneration tritt durch das Vermischen der Gewässer ins Dasein – und zwar „einfach so".

    Der erstmaligen Götterentstehung schließt sich dann eine Höherentwicklung an, die ebenfalls einer solchen blinden Naturnotwendigkeit folgt:

    „Lachmu und Lachamu wurden geformt und entstanden. Während sie wuchsen und an Gestalt zunahmen, wurden Anschar und Kischar, die sie übertrafen, geschaffen. […] Anu, der Sohn […] zeugte Nudimmud. Nudimmud war der Meister seiner Väter: von tiefer Wahrnehmung, weise, von großer Kraft; viel stärker als der Erzeuger seines Vaters."

    Diese Entwicklung gipfelt in der Entstehung des Gottes Bel (auch „Marduk" genannt):

    „[Es] wurde der weiseste der Weisen, der klügste der Götter, Bel gezeugt […] Hervorgehoben unter den Göttern und übergroß war seine Gestalt, seine Gliedmaßen waren unvergleichlich, sein Wesen war übergroß […]."

    Dies überlagert sich mit einem tödlichen Kampf der Generationen. Dieser Kampf beginnt so, dass die jungen Götter zunehmend die Ruhe und den Schlaf der Ureltern, Apsu und Tiamat, stören. Apsu fasst daraufhin den Plan, dieses Treiben zu beenden:

    „[Sein] Antlitz strahlte, weil er Böses ausgeheckt hatte gegen seine göttlichen Söhne […]."

    Auffallend ist, dass Apsu und Tiamat hier plötzlich als handelnde Personen auftreten, die Bedürfnisse besitzen und Pläne fassen. In einer solchen mythischen Vorstellung wird ein und dieselbe Sache aus wechselnden Perspektiven betrachtet, die letztlich nicht zur Deckung gebracht werden können: Einmal als passives Material, das andere Mal als ein aktives Bewusstsein – ein Motiv, das auch beim heutigen Naturalismus wieder auftritt.

    Seine Nachfahren kommen Apsu zuvor. Sie sind dem schlummernden und trägen Urvater weit überlegen. Er wird vom Gott Ea betäubt, gebunden und erschlagen. Tiamat will später ihren Gatten rächen und schart einige Götter der ersten Generationen um sich. Aber sie wird auf dramatische Weise durch den höher entwickelten Gott Bel vernichtet – und, ähnlich wie zuvor auch Apsu, wiederverwertet:

    „Er teilte sie wie einen Stockfisch in zwei Teile: eine Hälfte davon stellte er hin, breitete sie als Himmelsdach aus."

    Aus Sicht des Mythos sind es interessanterweise die Alten, die gegen die Jungen revoltieren. Die jungen, siegreichen und fortschrittlichen Götter gelten hingegen als moralisch gut und verehrenswert.

    Aus Blut will Bel nun die Menschen erschaffen, damit diese den Göttern dienen sollen:

    „Ich will Blut zusammenbringen und Knochen formen, ich will ein Wesen ins Leben rufen, dessen Name ‚Mensch‘ sein soll. Ich will den Menschen erschaffen, auf den die Mühsal der Götter gelegt sein soll, damit diese Ruhe haben."

    Für diesen Zweck soll ein Gott aus ihrer Mitte getötet werden. Die Wahl fällt auf einen Gott, der auf der Seite des Alten stand. Dieser wird getötet und aus seinem Blut werden die Menschen geschaffen.

    „Sie legten ihm die Strafe auf und schnitten seine Blutgefäße durch. Aus seinem Blut erschuf er die Menschheit, legte ihr den Dienst für die Götter auf und befreite die Götter."

    Das Ursprungsprinzip des Mythos

    Woher kommen die Welt und die Dinge in ihr? In Bezug auf den Ursprung des Menschen knüpft der Mythos an eine nachvollziehbare und alltägliche Erfahrung an: Viele Dinge werden sichtbar handwerklich gefertigt. Dementsprechend waren es mächtige Handwerker, nämlich Götter, die die Menschen geschaffen haben. In solchen Mythen waren die Götter den Menschen sehr ähnlich, nur mächtiger, klüger und, wenn sie nicht von Ihresgleichen getötet wurden, unsterblich. Insbesondere waren sie innerweltliche und endliche Wesen. Sie hatten einen zeitlichen Anfang und verdanken ihre Existenz etwas anderem. Folglich mussten diese Götter von etwas herstammen, das grundlegender und damit auch ganz andersartig ist als sie, und zwar letztlich von einer Instanz, die Ursprung ist, aber selbst keinen Ursprung hat.

    Grundmerkmale des Enuma Elisch:

    •Materialistisches Prinzip. Ursache der Welt ist materiell, nicht geistig oder geistig dumpf.

    •Immanenzprinzip: Alles, was es gibt, ist Teil der natürlichen Welt.

    •Entwicklungsprinzip: Die Welt entwickelt sich aus einem einfachen, materiellen Urzustand mittels blinder Naturprozesse.

    Entscheidend ist, dass der Mythos ein materialistisches Prinzip wählt: Der Ursprung (Apsu und Tiamat) ist für ihn Teil der natürlichen Welt, er ist, in anderen Worten, immanent. Er steht als Urmaterial in einer stofflichen und raumzeitlichen Kontinuität zu dem, was sich dann aus ihm heraus entwickelt. Und er ist niedriger, weniger mächtig, weniger geordnet und weniger intelligent als das Neue, das aus ihm dann spontan hervortritt. Dieses Urmaterial, so erzählt es der Mythos, bringt schlechthin hervor, was neuartig ist. Das Neue wird in ihm „geschaffen", im Sinne einer blinden, rein passiven, nicht weiter erklärbaren Naturnotwendigkeit.

    Der Mythos lehnt sich auch hier an eine vermeintliche Alltagserfahrung an: Entstehen nicht aus Dingen, die wenig komplex und unbelebt erscheinen, lebendige und komplizierte Dinge? Beispiele sind kleine Samenkörner, die keine besondere innere Struktur zu haben scheinen, aus denen heraus aber so etwas Kompliziertes wie ein Baum wächst. Und geht nicht ein Huhn aus einem einfachen Ei hervor? Aus dieser Beobachtung wurde oft ein Prinzip abgeleitet: Seit Jahrtausenden glaubten viele Menschen an die „Urzeugung", nämlich dass etwas wie Schlamm und Unrat spontan Würmer, Mäuse und anderes Getier hervorbringt. Das Urzeugungsprinzip liegt auch dieser alten medizinischen Beschwörungsformel Babyloniens zugrunde:¹⁶

    „Nachdem […] die Erde die Flüsse erschaffen hat, die Flüsse die Kanäle erschaffen hatten, die Kanäle den Morast erschaffen hatten, der Morast den Wurm erschaffen hatte […]."

    Kern der Welterklärung des Mythos ist ein Entwicklungsprinzip, wonach aus dem ursprünglichen, weitgehend ungeformten Material qualitativ neuartige, kompliziertere und das Alte übertreffende Dinge sich spontan herausbilden. Heute nennt man dieses Prinzip oft „Emergenz". Mittels dieses scheinbar aus der Alltagserfahrung stammenden Prinzips erzeugt der Mythos für viele Menschen eine intuitive Befriedigung ihres Bedürfnisses nach einer Erklärung der Welt und der Dinge: Warum gibt es Würmer oder Mäuse? Weil sie aus Schlamm und Unrat heraus entstehen! Warum gibt es Götter? Weil sie entstanden sind, als die Urgewässer sich vermischt haben!

    Für eine wirklich rationale Herangehensweise an die Frage nach dem Ursprung eines Gegenstands muss der Gegenstand zuerst genau untersucht werden. Dann muss nach der Gesamtheit der Bedingungen gefragt werden, unter denen das Entstehen des Gegenstands mit allen seinen Merkmalen tatsächlich möglich ist.

    Tatsächlich ist die Erklärung des Mythos auf Grundlage dieses Entwicklungsprinzips aber nur eine scheinbare: Sie befriedigt ausschließlich die Ebene einer rein intuitiven, gefühlsmäßigen Anschauung. Sie erzeugt eine oberflächliche Plausibilität, angelehnt an eine nicht weiter reflektierte Alltagserfahrung und gestützt durch Wiederholung und Gewöhnung. Rational gesehen ist dieser Erklärungsansatz völlig unzureichend. Rational wäre stattdessen, die Dinge genau zu untersuchen und daraufhin versuchen herauszufinden, worin sie und jedes Merkmal an ihnen tatsächlich ihren Ursprung haben. Dazu ist es nötig, beharrlich nach den Bedingungen zu fragen, unter denen das Entstehen oder die Existenz eines jeweiligen Gegenstands überhaupt möglich sind: Woher genau kommt das, was am Neuen tatsächlich neu ist? Was konkret ist es, das diese Neuerungen bewirkt? Was ist die Gesamtheit der Bedingungen dafür, dass ein solcher Fortschritt überhaupt möglich ist? Seit einigen Jahrzehnten wissen wir zum Beispiel, welche ungeheure Komplexität in einem Samenkorn oder einem Hühnerei steckt, damit sich daraus neues Leben entfalten kann. Wir wissen von der unvorstellbaren, hochspezifischen Ordnung des physikalischen Universums und seiner mathematisch formulierbaren Struktur. Hingegen lebt die oberflächliche Plausibilität einer solchen mythischen Erzählung davon, dass sie an den entscheidenden Stellen nicht befragt und reflektiert wird – und manchmal auch nicht befragt werden darf.

    Die mythische Vorstellung weist an dieser Stelle letztlich eine unauflösbare Spannung auf: Es ist der Versuch, ein reales Mehr aus einem Weniger ableiten zu wollen. Darin liegt eine wichtige Sollbruchstelle des Naturalismus und zwar in einer sehr grundlegenden Hinsicht. Wir werden dies in den Kapiteln 5 bis 7 noch wesentlich genauer betrachten.

    Das Moralprinzip des Mythos

    Der Enuma Elisch enthält Bewertungen, die eine gewisse Verbindlichkeit beanspruchen und somit einen moralischen Aspekt haben. So wird das Verhalten der Ursprungsmächte Apsu und Tiamat als ungerecht bewertet, während die Taten der Jungen und ihre Herrschaft als rechtmäßig dargestellt werden. Die zentrale Frage ist hier, auf welcher Grundlage eine wirklich rechtmäßige Bewertung überhaupt gemacht werden kann. Nehmen wir an, dass zwei moralische Behauptungen im Raum stehen, die sich widersprechen. Offensichtlich braucht man hier einen Maßstab, anhand dessen entschieden werden kann, welche moralische Behauptung richtig und welche falsch ist. Aber auch ein solcher Maßstab kann wieder in Frage gestellt werden. Dies würde dann immer so weitergehen. Das Problem kann nur gelöst werden, wenn irgendwo ein absoluter Maßstab vorhanden ist, der ohne Bezug auf etwas anderes, allein aus sich selbst heraus eine unanfechtbare moralische Autorität hat.

    Für den Mythos muss letztlich das, was (scheinbar) „moralisch" ist, auf die Durchsetzungskraft dessen zurückgeführt werden, der sich – ausschließlich durch sein Machtmonopol – zum alleinigen Maßstab macht und nach eigener Interessenslage festlegt, was als gut und böse zu gelten hat.

    Das Problem ist nun, dass in einer Welt, wie sie der Mythos beschreibt, nichts in Sicht ist, was diese Rolle eines absoluten moralischen Maßstabs übernehmen könnte. Die Ursprungsmächte, Apsu und Tiamat kommen nicht in Frage: Sie scheinen in verschiedenen Hinsichten sehr beschränkte Wesen zu sein, weshalb der Mythos ihnen auch keine moralische Autorität zubilligt. Aber auch die jungen Götter können nicht die Rolle einer solchen absoluten moralischen Autorität einnehmen. Sie sind das, was sie sind, nicht aus sich selbst heraus, sondern sie sind entstandene, endliche und relative Wesen. Unterschwellig leitet der Mythos jedoch eine vordergründige moralische Integrität und Autorität aus der Tatsache ab, dass die jungen Götter durchsetzungsstärker, mächtiger und fortschrittlicher sind als die Ursprungsmächte. Für den Mythos muss letztlich das, was (scheinbar) „moralisch" ist, auf die Durchsetzungskraft dessen zurückgeführt werden, der sich – ausschließlich durch sein Machtmonopol – zum alleinigen Maßstab macht und nach eigener Interessenslage festlegt, was als gut und böse zu gelten hat. Diese unterschwellig amoralische Weltsicht des Mythos spiegelt sich darin wider, dass das Alte letztlich nur Mittel und Material für den Fortschritt ist. Und auch der Mensch ist hier nur Mittel für die Zwecke derer, die mächtiger sind als er.

    Diese moraltheoretische Problematik betrifft jede naturalistische Weltsicht und sie kann schwerwiegende politisch-gesellschaftliche Konsequenzen haben. Sie wird in den Kapiteln

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