Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Der Rikschamann: Hamburg-Thriller
Der Rikschamann: Hamburg-Thriller
Der Rikschamann: Hamburg-Thriller
Ebook310 pages4 hours

Der Rikschamann: Hamburg-Thriller

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Max Harder ist ein junger Student - aber eigentlich findet sein Leben auf den Straßen Hamburgs statt: Mit seinem alten Kumpel Oleg teilt er nicht nur die Wohnung, sondern auch das "Gelbe Ungetüm", eine quietschgelbe Fahrradrikscha, mit der sie ihren Lebensunterhalt einfahren. Max weiß alles über Oleg, denkt er. Doch dann sitzt ein bildhübsches Mädchen in der Rikscha, von dem Oleg nie etwas erzählt hat. Nur Stunden später ist sie tot und Oleg verschwunden. Max gerät zwischen allen Fronten, unter Mordverdacht, wird von Gangstern gejagt und weiß längst nicht mehr, wer in diesem Spiel gut oder böse ist: Pieter Westheim alias Pete West, Hitproduzent mit Hang zu Geheimnissen? Elena Westheim, Gattin mit Versorgungsproblem, Hamid, ein Mechaniker mit diskretem Nebenerwerb? Trotz teils unfreiwilliger Schützenhilfe der übergewichtigen Elke und ihrer Kontrahentin Bronstein - einer Kripobeamtin mit scharfem Verstand, scharfer Figur und langer Nase - übersteht Max das Verwirrspiel nicht ohne Blessuren. Und auch das "Gelbe Ungetüm" kriegt Einiges ab... Der erfolgreiche Drehbuchautor Jan Schröter liefert einen packenden Hamburg-Thriller, den man nicht mehr aus der Hand legen kann. Eine großartige Mischung aus Nervenkitzel und Humor, eine emotionale Achterbahnfahrt mit viel Tempo und Witz.
LanguageDeutsch
Release dateJun 18, 2013
ISBN9783837880045
Der Rikschamann: Hamburg-Thriller

Read more from Jan Schröter

Related to Der Rikschamann

Related ebooks

Crime Thriller For You

View More

Related articles

Related categories

Reviews for Der Rikschamann

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Der Rikschamann - Jan Schröter

    Jan Schröter

    Der Rikschamann

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Titelgestaltung:

    Natalie Eichhorst-Ens

    © Edition Temmen 2013

    Hohenlohestraße 21

    28209 Bremen

    Tel. 0421-34843-0

    Fax 0421-348094

    info@edition-temmen.de

    www.edition-temmen.de

    Alle Rechte vorbehalten

    Gesamtherstellung: Edition Temmen

    E-Book ISBN 978-3-8378-8004-5

    ISBN der Printausgabe 978-3-86108-989-6

    1.

    »Guck dir die Schweißnaht an. Totaler Schrott!« Kulis Finger strich missbilligend über die Metallwucherung zwischen Rahmen und Fahrgastbank. Mo ließ vergnügt die weißen Zähne blitzen, drückte seine Übergrößenpranke aufs Pedal und testete das Tretlager. Es knackte vernehmlich.

    »Flossen weg!«

    Mo hob entschuldigend die Hände und trat feixend einen Schritt zurück. »Auf dem quietschgelben Teil siehst du aus wie die Christel von der Post!«

    Insgeheim gab Max Harder ihm Recht. Er hatte seinen Freund und Wohngenossen Oleg selbst für verrückt erklärt, als der plötzlich mit diesem Bastard von Fahrradrikscha vor der Tür stand – ein aus China importiertes Gebrauchtbilligteil mit barocken Proportionen, fossiler Technik und vermutlich mehr Vorbesitzern als ein Wanderpokal, erstanden zum Alles-muss-raus-Tarif über ein obskures Internetportal. Alles in allem ein typisches Oleg-Geschäft: Volldampf voraus in die Marktlücke, die er erst als Multimillionär verlassen würde! Leider entpuppten sich diese Marktlücken stets als Lücken, die der Markt eben deshalb offen gelassen hatte, weil sich keine Sau dafür interessierte. Max kannte Oleg seit dem Kindergarten und hatte sich längst daran gewöhnt. Die Rikscha allerdings war schon eine echte Glanzleistung.

    »Ist doch mal was anderes als dieses langweilige High-TechZeug.« Max deutete auf die beiden tropfenförmigen Designer-Fahrrad­rikschas, die wie eineiige Zwillinge einträchtig nebeneinander vor dem Entree des Hanseviertels parkten. »Ihr seid bloß neidisch, weil wir jetzt auf eigene Faust verdienen und nicht mehr als Pedalsklaven für City-Cycle schuften!«

    Kulis skeptisches Grinsen schlug mehr Falten als eine Boxerschnauze. »Man wird ja sehen, wo die Leute lieber einsteigen – bei uns oder in diesen Chinaböller!«

    Max nahm die Herausforderung lässig an. »Kaffee und eine Runde Hotdogs?«

    »Hart, härter – Harder!« feixte Mo und reckte aufreizend seine massige Zwei-Meter-Athletengestalt, was ihm prompt Schmachtblicke flanierender Hanseatinnen eintrug. »Welch unerschütterlicher Optimismus! Was hast du nur, was wir nicht haben?«

    Max Harder ließ sich entspannt auf die Rückbank seiner Rikscha sinken.

    »Spaß?«

    Hamburg im April ist ein feuchtes Versprechen auf den Frühling, der bald kommt. Vielleicht. Oder auch nicht. Die vier minderjährigen Grazien, die eben ihre Designerlabel-Beutetüten aus der noblen Einkaufspassage schleppten, trugen jedenfalls unerschrocken Bauchfrei. Nur die Fünfte im Bunde präsentierte sich in züchtiger Schlabberbluse – ausgerechnet ihr Bauch drängte derart durchs Bündchen, dass er förmlich nach Freiheit schrie. Sie trottete still hinter den anderen her, die schrill und atemlos ihren Konsumrausch ausschwitzten.

    »…Schlitz bis hier, aber in 36 gab’s das nicht…«

    »…trägerlos, total süüüß…«

    »…solche Absätze, einfach geil…«

    Das erste Mädchen trat jetzt aus dem Schutz des Vordaches, machte einen Schritt zurück und starrte angewidert gen Himmel. »Scheiße! Hat jemand einen Schirm?«

    Kollektives Kopfschütteln.

    »Ich hab einen«, meldete sich Schlabberbluse zaghaft zu Wort.

    »Bei dir passt keiner mit drunter!« schmetterte sie die andere mit einem gnadenlos abschätzenden Blick aus barbieblauen Augen ab.

    »Da stehen Fahrradrikschas!« Eines der Mädchen wies unternehmungslustig auf die parkenden City-Cycles und Max Harders Gelbes Ungetüm.

    »Wollen wir?«

    »Kundschaft!« verkündete Kuli mit Blick auf die hektisch winkende Girliegang. Max hatte das Grüppchen schon bemerkt und entfaltete die kapuzenartige Markise über der Rikschabank. Mo grinste breit herüber. »Genug für alle! Da müssen wir unsere Wette wohl vertagen…«

    »Hast eben noch mal Glück gehabt!«

    Zu dritt schlenderten sie auf die Mädchen zu, die im Entree des Hanseviertels die Ankunft der Rikschamänner hysterisch gackernd abwarteten. Vier Kichererbsen beim Geldverschleudern, taxierte Max. Flirrender Cheerleadersexappeal, maßlose Ansprüche und den Spiegel als beste Freundin. Die Fünfte wirkte neben ihnen wie ein Fremdkörper. Ein unübersehbar großer Fremdkörper. Eingehüllt in ein groteskes, schlabbriges Oberteiltextil mit ferkelfarbenen Karos verriet ihre Miene nur Resignation über das, was jetzt unausweichlich kommen würde.

    »Wohin des Wegs, meine Damen?« Mo hatte einfach alles im Repertoire, vom Ghetto-Kid bis Gentleman.

    Miss Barbies Röntgenblick wanderte entzückt über seinen afrikanischen Alabasterkörper. »Wir müssen zu den Landungsbrücken! Brücke Vier! Unser bescheuerter Lehrer wartet auf uns mit einer langweiligen Hafenrundfahrt!«

    »Dabei ist eine Rikschafahrt doch viiiel aufregender«, gurrte Mo, eine Oktave unter Normalnull. Bei dem weiß man nie, ob er es ernst meint oder nicht, dachte Max. Aber Barbie trübten vermutlich prinzipiell keine Selbstzweifel. Und deshalb kam sie auch gar nicht erst auf die Idee, dass Mo sie vielleicht auf die Rolle nahm. Sie schob kess ihr Becken vor und ließ unschuldig die Lider flattern.

    »Jaaa? Würd’ ich gerne mal antesten.«

    »Was kostet das denn?« schaltete sich Elfe Nummer Zwei wagemutig ein.

    »Zehn Euro! Pro Rikscha!« legte Kuli energisch fest. »Immer zwei von Euch nebeneinander, ist bloß ein schlapper Fünfer für jede!«

    »Okay!« gab Barbie das Startsignal, und die Grazien trollten sich aufgekratzt kichernd hinaus in den Regen, hinüber zu den Rikschas. Leichte Fuhre, schätzte Max. Die Mädels wiegen garantiert weniger als ihre Einkaufstüten. Bis auf eine: Schlabberbluse schlich gesenkten Hauptes hinter ihren Kameradinnen her, als ginge es zum Schafott. Max sinnierte nicht länger darüber, denn etwas Anderes zog seine Aufmerksamkeit auf sich: In seiner Rikscha saß bereits jemand! Die obere Körperhälfte verdeckt durch das heruntergeklappte Regendach, ragte nur ein schlankes Beinpaar sichtbar hervor. Max trat vor sein quietschgelbes Mobil und peilte unter den Baldachin.

    »Guten Tag, was kann ich für Sie tun?«

    »Oh, hallo – ist das Ihre Rikscha?« Das »ist« kam eine Spur langgezogen als »iiest«, das Rikscha-»R« rollte wie der Donner über die Taiga, und sie wirkte offensichtlich irritiert. Apart. Dunkler, seelenvoller Blick, volle Lippen, hohe Wangenknochen. Dezentes Make-up stand im frechen Kontrast zu aufreizenden Klamotten. Auf den zweiten Blick erahnte Max hinter der glamourösen Fassade Kindergrübchen auf den rosigen Wangen und einen winzigsüßen Restansatz Babyspeck. Taiga-Lilli, keine Sechzehn, schoss es ihm durch den Sinn. Der Tag der aufgebrezelten Teenage-Vamps.

    »Ja. Ist meine. Und eigentlich bin ich schon gebucht…«

    »Bleiben Sie ruhig sitzen!« funkte Schlabberbluse in einem Anfall von Entschlossenheit dazwischen. »Ich nehme gern ein Taxi!«

    »Nein, nein!« wehrte die Taiga-Lilli ab. »Ich wollte nicht fahren! Wollte mich nur bei jemand bedanken. Ist Verwechslung, sorry.«

    Sie kletterte schon eilig vom Bock. Einen Augenblick später hatte die Menge der Passanten ihre zierliche Gestalt geschluckt. Max blieb zum Wundern keine Zeit, denn jetzt klatschte Mo vernehmlich in die Hände:

    »Meine Damen: Bitte Platz zu nehmen!«

    Kindergeburtstag. Reise nach Jerusalem. Blitzartig flitzte je ein Grazienduo in die stromlinienförmigen City-Cycles. Übrig blieben Schlabberbluse und der quietschgelbe Anachronismus auf Rädern. Das dicke Mädchen spannte einen viel zu kleinen Schirm auf.

    »Ich gehe zu Fuß.«

    Die Faust um den Knauf ihres lächerlichen Schirms gepresst, verschwamm ihre Stimme in mühsam unterdrückten Tränen. Max Harder sah ihr zum ersten Mal direkt in die Augen – zwei tiefgrüne Seen über einer zierlichen Nase, die so gar nicht zu ihrer XXL-Figur zu passen schien. Ihr Doppelkinn zitterte vor Scham und Verletztheit. Doch als aus den City-Cycle-Rikschas jetzt das nur schlecht verhohlene, hämische Gekicher der Mitschülerinnen herüber scholl, las Max in ihren Augen nicht bloß pure Depression, sondern auch eine Fassungslosigkeit über diese Gemeinheit, die ihn zutiefst rührte.

    »Kommt nicht in Frage«, schüttelte er den Kopf. »Ich habe eben gerade eine Kundin weggeschickt, weil Sie mein Passagier sind. Willkommen an Bord!«

    Sie ließ sich widerstandslos von Max den Schirm aus der Hand nehmen und unter den Baldachin auf die Fahrgastbank lotsen, die normalerweise zwei Leuten Platz bot. Schlabberbluse füllte die Bank alleine. Die Federung ächzte vernehmlich.

    »Eigentlich wären damit wohl Kaffee und Hotdogs fällig«, feixte Mo.

    »Sehe ich auch so!« stieß Kuli ins selbe Horn.

    Max schob seine schwer beladene Rikscha heran und musterte seine Kollegen kalt. »Ihr zahlt den Kaffee, die Hotdogs und außerdem einen Fuffi für mein Abendessen. Weil ich nämlich vor Euch Schwachmaten an den Landungsbrücken bin.«

    »Bitte nicht!« vernahm Max den ebenso leisen wie verzweifelten Protest von der Rückbank seiner Rikscha, aber das kam zu spät. Mo und Kuli wanden sich vor Lachen, und ihre Fahrgäste kriegten sich kaum noch ein. Kuli wischte sich die Tränen aus der Faltenfresse und ermahnte sich zu gespieltem Ernst.

    »Na ja – immerhin haben wir die doppelte Anzahl Passagiere…«

    »Und die haben auch noch jede Menge Gepäck«, gab Mo mühsam beherrscht zu bedenken. »Stimmt’s, Mädels?«

    »Und ob!« juchzte Barbie, zog ein hauchdünnes Nichts aus zarter Spitze aus einer Tüte und schwenkte das Teil über dem Kopf. Kuli simulierte prompt einen Spontanzusammenbruch, Mo klammerte sich übertrieben am Lenker fest und ließ hysterisch die Augen rollen. »Jaa, Baby, zeig es mir! Binde es an einen Stock und halte es mir vor die Augen – dann breche ich alle Geschwindigkeitsrekorde!«

    »Dann donnerst du höchstens gegen einen Laternenpfahl.« kommentierte Max das wilde Treiben trocken. »Geht’s jetzt endlich los oder gebt ihr schon vorher auf?«

    »Bitte«, jappte Mo nach Luft und winkte generös, »zieh Leine! Wir sehen uns spätestens nach einer Minute – bevor du uns dann aus den Augen verlierst.«

    »Lass es«, kam es schwach von hinten, aber Max saß schon im Sattel und legte sich mächtig in die Pedale. Die gelbe Rikscha setzte sich in Bewegung und bog ein paar Augenblicke später um die Ecke.

    Max legte knackend auf der hakeligen, weil nachträglich installierten Gangschaltung eine höhere Übersetzung ein und trieb sein Gefährt wuchtig über die Große Bleichen voran. Er fand schnell seinen Rhythmus und spürte, wie sich seine Muskeln gegen die Last stemmten, wie die Lunge gierig regenfrische Luft inhalierte und der Kreislauf auf Touren kam. Die reine Wonne. Noch vor zwei Jahren, als zwanzigjähriger Erstsemesterstudent an der Hamburger Uni, hätte er bei derartiger Anstrengung nach spätestens hundert Metern kollabiert. 90 Kilo, verteilt auf 180 Zentimeter Körpergröße. Sport nur im Fernsehen und fataler Hang zu Fast Food. Dann kam Oleg auf die Idee, statt des Zimmers im Studentenwohnheim eine eigene Wohnung zu mieten. Wie man die finanzieren sollte, wusste der umtriebige Freund natürlich auch: Wenn beide jobbten, müsste es klappen! Und zufällig kannte Oleg auch zwei freie Stellen: Als Rikschafahrer bei City-Cycle.

    Max hatte sich von Oleg bequatschen lassen. Ausnahmsweise nicht zu seinem Schaden, gestand er sich ein, während er jetzt am Ohnsorg-Theater vorbeiflog und sich mit einem kurzen Blick in den Rückspiegel davon überzeugte, dass Mo und Kuli immer noch nicht hinter ihm auftauchten. Vier Semester und zwei lange City-Cycle-Sommer später brachte er drahtige 75 Kilo auf die Waage und fühlte sich energiegeladener als ein Duracell-Häschen. Nun allerdings radelte er nicht mehr für City-Cycle, sondern auf eigene Rechnung. Auf einem Stahlrohrkoloss mit nicht minder kolossaler Zuladung. Aber die Erfahrungen der beiden letzten Jahre hatten Max gelehrt, Herausforderungen anzunehmen.

    Die beiden City-Cycle-Rikschas erschienen als weiße Punkte im Rückspiegel. Mo und Kuli pflügten unwiderstehlich heran. Bei der Ampel vor dem Bleichenhof hatte Max noch Glück, vor der großen Kreuzung am Axel-Springer-Platz musste er passen – Ampel auf rot und zuviel Verkehr für einen kleinen Regelverstoß.

    »Ich steig aus!« kam es von hinten, kaum dass die Räder still standen. Max wandte sich im Sattel um. In ihren grünen Augen stand jetzt mehr Trotz als Verzweiflung. »Es reicht ja wohl, dass ich mich lächerlich mache.«

    »Wenn hier jemand lächerlich ist, dann diese dummen Hühner, die nicht mal so tun, als wären sie mit dir befreundet! Außerdem habe ich gewettet – nicht du!«

    »Dann ist es ja nicht mein Problem.«

    Sie machte Anstalten, von der Bank zu rutschen – Max hielt sie zurück.

    »Wenn sich jeder nur um sein Problem kümmerte, stündest du immer noch vorm Hanseviertel.«

    »Okay – ich bin ein Problem. Auf dein Mitleid kann ich verzichten.«

    »Von Mitleid kann keine Rede sein.«

    »Sondern?«

    »Ich bin sauer auf die verdammten Arschlöcher da hinten!« brüllte Max so laut los, dass sich Schlabberbluse unwillkürlich rücklings in die Rückenlehne presste. »Du etwa nicht?«

    »Doch«, kam es zurück. Darin lag fast so etwas wie ein leises Lachen. Max blieb kaum Zeit für ein aufmunterndes Augenzwinkern – da schaltete die Ampel auf Grün. Bevor er sein behäbiges Gefährt halbwegs in Fahrt zu bringen vermochte, rauschten links und rechts die schneeweißen Designerrikschas vorbei. Das schrille, triumphierende Gejohle der Barbie-Bagage übertönte sogar den lebhaften Stadtverkehr. Max nahm Tempo auf und setzte ihnen nach. Die Wexstraße war in Richtung Großneumarkt Einbahnstraße. Wenigstens kein Ärger mit Gegenverkehr, aber dafür eine langgezogene Steigung über Kopfsteinpflaster! Kein wesentliches Problem für die High-End-Shimano-Schaltungen der City-Cycles. Für die nachgerüstete Billigschaltung und das ausgeleierte Tretlager des gelben Monsters allerdings schon eine Bergprüfung gehobener Kategorie. Max war zwar glänzend in Form, aber für seine Gegner galt das Gleiche. Mo, wie Max im vollen Saft seiner 22 Lebensjahre stehend, war wahrscheinlich schon als Sportskanone auf die Welt gekommen. Er hatte zeitgleich mit Max und Oleg bei den City-Cycles angeheuert. Und während sich vor allem der übergewichtige Max in den ersten Wochen bei fast jeder Tour extrem quälen musste, pedalte Mo von Anfang an die dicksten Touristen in aufreizender Lässigkeit durch die Stadt. Kuli, den Methusalem aller Hamburger Rikschafahrer, durfte man ebenfalls nie unterschätzen. Er war bei City-Cycles ein Mann der ersten Stunde, von Anfang an dabei und mit allen Wassern der Straße gewaschen. Mit seinen weit über vierzig Jahren, den zusammengekniffenen Augen, die stets verschmitzt zu blinzeln schienen, und mit der ledrigen Zähigkeit seiner hageren Gestalt ähnelte er von allen Fahrern am ehesten dem Klischee eines ausgemergelten chinesischen Rikscha-Kulis – was ihm fast zwangsläufig seinen Spitznamen eingetragen hatte. Niemand kam auf die Idee, Kuli anders zu nennen als eben Kuli. Wie er eigentlich richtig hieß, wusste vermutlich nur noch Kuli selbst. Vielleicht.

    Zwischen zwei zurückschreckenden Passanten drückte Max seinen Chinabolzen über den Zebrastreifen am Großneumarkt. Bloß nicht anhalten! Bis er die Kiste wieder in Gang bekäme, wären Mo und Kuli außer Sicht! Zwischen ihnen und Max lag schon fast die ganze Fläche des Marktplatzes. Max gab alles, aber der Abstand zu den Führenden vergrößerte sich mit jeder Pedaldrehung. Wenigstens war die Steigung geschafft, und sie fegten wieder über glatten Asphalt. Max’ Hintern brannte noch vom Ritt übers Kopfsteinpflaster. Wie so manches am gelben Ungetüm ließ auch die Sattelfederung stark zu wünschen übrig. Das galt noch mehr für die Federung der Fahrgastbank, aber Max hatte jetzt keine Zeit, sich großartig um die Befindlichkeit seines Passagiers zu kümmern – jeder Blick nach hinten hätte ihn weiter zurück geworfen. Außerdem, überlegte sich Max, war die Kleine von Natur aus gut gepolstert. Es kamen keine Beschwerden. Er hätte sie allerdings auch kaum gehört, denn allmählich übertönte der klopfende Puls in seinem Inneren jedes andere Geräusch…

    Neuer Steinweg, neue Kulisse: Statt gemütlicher Altbauten moderne Fassaden und dann der Riesenbüroklotz einer Versicherung, die Neanderstraße überbrückend. Max riss sein Gefährt rasant in die Linkskurve. Schlabberbluse behielt ihre Massen offenbar einigermaßen unter Kontrolle, sonst hätte es sie spätestens jetzt aus der Bahn gehauen. An der Ludwig-Erhardt-Straße kamen sie dem Michel ganz nah, dessen regennasses Kupferdach in einem unverhofften Sonnenstrahl aufglänzte. Ein Blick nach rechts belehrte Max, dass selbst himmlischer Beistand ihn kaum die Wettfahrt gewinnen lassen würde: Mo und Kuli hatten schon die nächste Kreuzung erreicht und rasten gerade noch bei Grün über den Holstenwall! Hinter ihnen sprang die Ampel auf Rot. Max ließ entnervt die Beine im Leerlauf baumeln und wandte sich um. Das Mädchen saß kerzengerade da, beide Hände um die Seitenlehnen gekrampft. Ihre grünen Augen musterten Max unergründlich.

    »Was ist?«

    Max jappte nach Luft. »Schaff’ es nicht…«

    Sie stemmt sich hoch. »Geht nicht.«

    »Sag’ ich ja…« keuchte Max.

    Sie beugte sich weit vor, die grünen Augen funkelten plötzlich zornig nur eine Handbreit vor Max’ Gesicht. »Wir sind sauer auf die verdammten Arschlöcher! Fahr los!«

    Stieß sie ihn tatsächlich zurück in den Sattel? Max fand sich plötzlich in Fahrtrichtung wieder, die Hände am Lenker und die Füße auf den Pedalen. Irgendjemand hatte einen Gang eingelegt, die Rikscha machte einen Satz nach vorn. Plötzlich war die Luft wieder frisch und der Verstand wieder klar. Trotzdem würde er Mo und Kuli nicht einholen – wenn man ihnen auf dem gleichen Weg folgte, den sie eingeschlagen hatten! Max brauchte nur eine Sekunde und einen kurzen Blick in den Rückspiegel: Schon schoss das gelbe Ungetüm quer über alle Spuren der Ludwig-Erhardt-Straße, direkt in den Linksabbieger zum Zeughausmarkt! Hupen gellten empört, Reifen quietschten, aber Max fand die Lücke und teilte den Verkehr wie Moses das Rote Meer, bis die Rikscha fulminant über den Bordstein rumpelte und das gelobte Land erreichte. Die wilde Jagd trieb ungebremst voran. Ein kleines Stück voraus überwanden Mo und Kuli gerade die letzte der Ampeln am Millerntorplatz, die sich Max durch sein gewagtes Manöver allesamt erspart hatte. Die City-Cycles fädelten sich bergab in den Verkehr auf der Helgoländer Allee ein, aber Max lag nun nur knapp dahinter. Es ging den Geestrücken hinab zum Elbufer, und da gerieten das schwerere Fahrzeug und das größere Kampfgewicht seiner Passagierin zum Vorteil. Zentimeter für Zentimeter arbeiteten sie sich an die Cycles heran. Max sah, wie sich Mo kurz zu ihm umblickte, Kuli etwas zurief und sich verschärft ins Zeug legte. Nur noch drei, vier Meter – es knallte, Max spürte, wie unter seinen Füßen plötzlich etwas wegbrach!

    Die Kette…

    Mit unverminderter Geschwindigkeit raste die gelbe Rikscha auf die scharfe Rechtskurve unter der Kersten-Miles-Brücke zu. Aus, vorbei, schoss es Max durch den Sinn – ich muss bremsen, und ohne Kette komme ich nicht mehr in Schwung! Druckvoll zog er die Handbremse. Prompt verabschiedeten sich die Reste der schmalen Bremsbelege, blankes Metall rutschte wirkungslos über regenglatte Felgen. Oleg, der krumme Hund! Gestern sein vollmundiges Versprechen, endlich die maroden Belege zu erneuern! Max trat instinktiv rückwärts – sinnlos, ohne Kette keine Rücktrittbremse, und jetzt kam die Kurve…!

    Die gelbe Rikscha zog mit den weißen City-Cycles gleich, für einen Moment rasten alle im Parallelflug auf die Brückendurchfahrt zu. Das schrille Gejohle der Barbie-Truppe zeugte jetzt eher von leichter Panik als von Amüsement. Mo riskierte einen Blick hinüber zum Kontrahenten, begriff, dass da etwas nicht stimmte und reagierte sofort: Er drosselte sein Tempo, lenkte nach innen und ermöglichte es Max damit, die scharfe Kurve anzuschneiden, ohne in den Gegenverkehr zu geraten. Kuli klappte die Kinnlade herunter, als das gelbe Ungetüm an ihm vorbei schoss, sich in der Kurve auf das Außenrad kantete, das Innenrad ohne Bodenkontakt glatt einen halben Meter aufgebäumt. Max zog es im Sattel alle Eingeweide zusammen – ein Kahn vorm Kentern, bis sich für einen magischen Moment lang das perfekte Gleichgewicht einstellte, eine glückselige Sekunde jenseits der Schwerkraft. Dann knallte das Rad wieder herunter. Die Rikscha bockte scheppernd und raste ungebremst weiter. Max erstickte einen wilden Triumphschrei, denn nun blieben ihm keine fünfzig Meter mehr bis zur großen Kreuzung vor den Landungsbrücken.

    Und die Ampel stand auf Rot.

    Reisebusse, Stadtrundfahrten, Taxis. Ein nahtloses Band Blech. Ebenso instinktiv wie hilflos quetschte sich Max’ Faust um den Gummiballon der albernen Dreiklangtröte, die als Klingelersatz die Lenkstange der Rikscha zierte. Das heisere Hupen reichte kaum weiter als an seine eigenen Ohren. Was wäre besser – sich seitlich gegen eine Karosserie zu nageln oder sich beim Versuch, die Lücke im Verkehr zu finden, frontal umnieten zu lassen? Max entschied sich für Attacke und durch…

    Einen Meter vor der Kreuzung sprang die Ampel auf Gelb. Die Rikscha huschte vor der Kühlerhaube eines Nachzüglers auf die Kreuzung, stanzte mit dem rechten Lenkergriff einen neuen Zierstreifen in die Rückfront eines verbeulten Lieferwagens und raste in die Zufahrt der Landungsbrücken. Die mächtige Quaderfront des langgezogenen Bauwerks stand vor Max wie ein unüberwindliches Hochgebirge. Nach rechts knickte die Zufahrt zum Alten Elbtunnel fast rechtwinklig ab – keine Chance, erwog Max im Sekundenbruchteil! Die Rikscha würde sich unweigerlich überschlagen, an der Mauer zerschellen… Er sah nur einen Ausweg: Direkt vor ihm klaffte die Einfahrt zur Brücke Vier – ein breiter, hölzerner Steg, der die Landungsbrücken mit den vorgelagerten Schwimmpontons verband.

    Max lupfte den Lenker im richtigen Moment an, die Rikscha sprang über den Kantstein. Passanten spritzten beiseite, als der gelbe Blitz im Torweg einschlug und dahinter auf den überdachten Steg ratterte. Verdammt! Ebbe, durchfuhr es Max: Die schwimmenden Anleger hoben und senkten sich mit den Gezeiten, und dementsprechend war das Gefälle auf den Verbindungsstegen. Ebbe! Es ging steil bergab, die Rikscha bekam mehr Fahrt, als Max je für möglich gehalten hätte. Die Treppe am Ende des Stegs nahmen sie wie den Sprungtisch einer Skifliegerschanze. Knapp vor der Pontonkante knallte die Rikscha hart auf, hielt sich wundersam auf allen Rädern und raste unwiderstehlich auf das im schäumenden Kielwasser einer eben ablegenden Barkasse gefährlich aufbrodelnde Hafenwasser zu. Nur noch ein kurzer Eisenpoller zwischen Max und dem nassen Absturz! Und vom Poller verlief eine Haltetrosse straff hinüber zum Bug einer festgemachten Barkasse…

    Gedankenschnell riss Max das Vorderrad hoch. Wie ein bockender Gaul schob sich die Rikscha auf den Poller, während Max geistesgegenwärtig die Haltetrosse zwischen Gabel und Rahmen einklemmte. Mit durchschlagendem Effekt: Max flog auf der gewaltsam vollgebremsten Rikscha aus dem Sattel und knallte mit den kurzen Rippen voll auf den Lenker. Er kam ins Rutschen, würde unweigerlich fallen… Da knallte etwas Schweres, Weiches auf seinen Rücken.

    Das Mädchen.

    Ihr Gewicht presste ihn auf den Lenker und hielt seinen Blick nach unten fixiert. Dort gurgelte trübe die Elbe.

    »Tschuldigung«, hörte er sie murmeln. Immerhin lebte sie also. Bei sich selbst war Max da nicht so

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1