Nord & Süd 2013: Leben, Arbeit, Wirtschaft in Südtirol
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Book preview
Nord & Süd 2013 - Edition Raetia
Bundestag.
Unternehmen
Vorgestürmt: Südtirol ist Europas Primus bei der grünen Energieversorgung 13 Angekommen: Warum es deutsche Unternehmen nach Südtirol zieht 17 Lustvoll: Nie fanden junge Südtiroler mehr Spaß am Gründen 21 Magisch: Die innovativen Lichtsysteme des Mittelständlers Ewo sind weltweit gefragt 23 Innovativ: Forscher und Kreative gehen eine produktive Allianz ein 27 Improvisieren: Auch ohne exakten Plan boomen in Italien Windkraft, Sonnenstrom und Biomasse 29 Nachgefragt: Leoluca Orlando, Bürgermeister von Palermo, über die Chancen im deutsch-italienischen Verhältnis 38 Eingefangen: Die Kraft des Wassers in Bildern 40
Judith Innerhofer
Die Welle aus den Bergen
Fotografie — Ivo Corrà
So kann man sich täuschen! Alle Welt hält Deutschland für den globalen Ökoprimus. Doch weit gefehlt: Südtirol, die nördlichste Provinz Italiens, ist mit dem grünen Umbau der Energieversorgung längst weiter – und will seine Spitzenposition nicht nur halten, sondern noch ausbauen. Wie haben die Provinzler das nur geschafft? Ein Ortsbesuch klärt auf.
Es gibt nur wenige deutsche Wörter, die den Sprung ins Englische, die Lingua franca unseres Jahrhunderts, geschafft haben. „Kindergarten war eines, „Angst
ein anderes. Jetzt ist „Energiewende" hinzugekommen. Seit die deutsche Bundesregierung im Juni 2011 nach der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima den Ausstieg aus der Atomenergie verkündet hat, blicken viele Menschen neugierig auf das Land im Herzen Europas und warten auf den Ausgang eines der größten Experimente des Industriezeitalters: die Umstellung der Energieversorgung von Stahlwerken, Autofabriken und Millionenstädten auf grüne Quellen wie Sonne, Wind und Biomasse. Wenn die Deutschen mit ihrer Ingenieurkunst das hinbekommen, so die Überzeugung, dann funktioniert es überall auf der Welt.
Seither subventionieren die deutschen Stromzahler mit Extraabgaben den massenhaften Aufbau von Solardächern und Windrädern. Auf weit mehr als 100 Milliarden Euro türmen sich die Zahlungsverpflichtungen bereits auf. Das Murren über die wachsenden Lasten schwillt unüberhörbar an – grünes Gewissen hin oder her. Aber immerhin: Auf 23 Prozent ist der Anteil des Ökostroms 2012 schon gestiegen.
Was nach Rekord klingt, wird in Südtirol locker überboten. Hier stammen 99 Prozent der verbrauchten Elektrizität aus erneuerbaren Quellen, vor allem der Wasserkraft. Beim Wärmebedarf sind es immerhin weit mehr als 25 Prozent. Damit ist nicht Deutschland, sondern Südtirol die grüne Vorzeigeregion Europas. Wie es dazu kam, wer die wichtigsten Innovatoren sind und mit welchen Technologien Südtirols grüne Pioniere Trends für die Zukunft setzen, zeigt ein Energiestreifzug durchs Land.
Wenn der Wind sich weiter dreht
Es ist friedlich, verdächtig friedlich für einen Ort, an dem die grüne Revolution in vollem Gang sein soll. Und wie ein Radikaler sieht der Mann auch nicht aus, der da in schmal geschneidertem Jackett, blauer Jeans und roter Armbanduhr zur Tür hereineilt. Espressogeruch hängt zwischen Grünpflanzen, einer vollgeschriebenen Weißwandtafel und großformatigen Bildern von Eis- und Wüstenlandschaften, aus denen eigentümliche Masten aufragen. Das Fenster gibt den Blick auf frisch eingeschneite Alpengipfel frei, hinter Werkhallen und Bürokomplexen öffnet sich ein weites, grünes Talbecken. Es war nicht einfach, diesen Ort einer friedlichen Revolution zu finden. Nicht ein einziges Hinweisschild in diesem Bozner Gewerbegebiet weist den Weg. Erst ein vergilbtes Klingelschild mit der Aufschrift „Ropatec" am Eingang eines unscheinbaren Gebäudes verriet: Ziel erreicht.
Robert Niederkofler, Gründer und Geschäftsführer des Unternehmens, holt erst einmal eine der neuen Windrad-Broschüren für den brasilianischen Markt aus dem Karton. Das ist also der Mann, den der US-Starökonom Jeremy Rifkin in seine Liste der Revolutionäre aufgenommen hat: Akteure aus der Privatwirtschaft, die seiner Meinung nach beispielhaft die Wirtschaft der Zukunft vorwegnehmen.
Grüne Vorzeigeregion: Blick auf das Südtiroler Überetsch beim Kalterer See
Rifkin nennt seine Vision „Die dritte industrielle Revolution": eine zukunftsfähige Form der Marktwirtschaft, die auf neue Informationstechnologien und den Umstieg auf ein grünes, demokratisches Energiesystem baut. Und mit Strom aus erneuerbaren Quellen kennt sich Robert Niederkofler aus. Das brachte ihm Rifkins Ritterschlag ein.
Es war Mitte der 1990er-Jahre, als Niederkofler auf die Idee kam, eine kleine Windanlage zu bauen, deren Flügel sich parallel zum Erdboden drehen statt wie üblich horizontal. Der Vorteil dieser Konstruktion: Das Windrad rotiert fast lautlos, die Anlage braucht kaum Wartung und „sie produziert bei orkanartigen Sturmböen genauso Strom wie bei niedriger Windstärke oder bei wechselnder Windrichtung", erläutert ihr Erfinder.
Der ambitionierte Plan: Schon in knapp vier Jahrzehnten sollen 90 Prozent des gesamten Energieverbrauchs in Südtirol aus regenerativen Quellen gespeist werden.
Südtirol setzt italienweit Standards im Bereich des energieeffizienten Bauens
So viele Vorzüge überzeugen. Inzwischen liefern die in Südtirol entwickelten und produzierten Kleinwindräder in 24 Ländern der Erde Strom. Derzeit setzt der Unternehmer und gefragte Regierungsberater in Sachen Kleinwindkraft vor allem auf Wachstumsmärkte wie Brasilien. In den westlichen Industrienationen hingegen läuft der Ausbau der Kleinwindkraft insgesamt noch schleppend voran, was Branchenstudien zufolge vor allem an oft noch fehlenden staatlichen Anreizen liegt. Aber Niederkoflers Innovationsgeist tut das keinen Abbruch. Der einstige Quereinsteiger arbeitet weiter daran, die Leistungsfähigkeit seiner Produkte zu verbessern, um so neue Maßstäbe zu setzen. Jüngst hat er etwa eine Hybridversion als Energiecontainer entwickelt, bei der Wind- und Solarkraft, Wasserbehandlung mit Pumpsystem und eine Energiespeicherung mit Fernmonitoring integriert sind – eine Weltneuheit. Eine andere Variante nutzt seine auffälligen Windanlagen zugleich als Werbefläche.
Die große Kraft der Südtiroler Windräder steht exemplarisch für den weltweiten Aufbruch in eine neue Ära der Energiewirtschaft. Bis vor einigen Jahren kam der Strom für die meisten Menschen einfach aus der Steckdose. Ob er sauber oder dreckig war, gefährlich oder risikolos produziert wurde, interessierte kaum jemanden. Das hat sich spätestens seit der Kernschmelze in Fukushima grundlegend geändert. Öko und Nachhaltigkeit sind seither in aller Munde. Grün und erneuerbar soll die Energie auch in den Augen der Politik werden. Kaum eine zweite Branche erlebte in den vergangenen Jahren einen vergleichbaren Aufschwung. Doch mit Wirtschaftskrise und Billigkonkurrenz wird das Geschäft härter. Wer im globalen Wettbewerb bestehen will, tut daher gut daran, auf noch effizientere Technologien zu setzen. Denn ausgeschöpft sind die sauberen Quellen noch lange nicht, viele Zukunftssysteme stecken erst in den Kinderschuhen.
Schwitzen in der Klimakammer
Sie müssen daher erst einmal gründlich auf ihre Zuverlässigkeit und Wirksamkeit geprüft werden. Gute Voraussetzungen dafür finden Südtirols grüne Pioniere im Bozner Institut für Erneuerbare Energien vor, das an der Europäischen Akademie (Eurac) angesiedelt ist. Sein Leiter Wolfram Sparber setzt alles daran, die Neuerer zu unterstützen und den ökologischen Wandel voranzutreiben. „Technische Innovationen sind das A und O, wenn wir eine postfossile Zukunft wollen, die auch wirtschaftlich erfolgreich ist", sagt er.
Sparbers jüngste Anschaffung ist eine Klimakammer. In ihr können Unternehmen testen, ob neue Solarmodule, Elektronikkomponenten oder Wanddämmsysteme Kälte, Hitze und Nässe trotzen und die erhoffte Leistung erreichen. Die Forscher – 40 an der Zahl, die aus allen Teilen der Welt stammen – können in der schwarz schimmernden Kammer, die an einen gigantischen Hightech-Kühlschrank erinnert, Temperaturen von minus 50 bis plus 90 Grad erzeugen und die Luftfeuchtigkeit variieren. Derart ausgefeilte Technik gibt es nicht oft auf der Welt. Das hat sich schnell herumgesprochen. Inzwischen erproben nicht nur Südtiroler, sondern auch internationale Unternehmen ihre Produkte in der Klimakammer. Sie ist Teil des jüngst eröffneten Labors für Fotovoltaiktechnologien und Gebäudekomponenten, das wiederum zur Eurac gehört. Physiker Sparber, noch keine 40 Jahre alt und ein Mann mit ausgeprägtem Hang zur Praxis, muss selbst manchmal über das rasende Tempo des Fortschritts bei neuen Formen der Energiegewinnung staunen. Derzeit, so erzählt er, sei das Kühlen mit Sonnenenergie ein solches Thema, das stark im Kommen sei: „Der Markt dafür ist eindeutig da, aber noch steckt die Technologie in den Anfängen."
Klimakammer der Denkfabrik Eurac
Auf dem Flughafenareal in Bozen werden Fotovoltaikmodule verschiedener Hersteller auf Herz und Nieren geprüft
Was ihn besonders stolz macht: Nicht wenige Unternehmen aus Italiens nördlichster Provinz mischen beim Green-Tech-Boom kräftig mit. Seit 1990 hat sich die Zahl der Akteure mehr als vervierfacht. Schon knapp 500 Unternehmen sind im weiten Feld der sauberen Energie tätig. Darunter auch Stadtwerke und lokale Genossenschaften wie das Biomasse-Fernheizwerk Ritten, das dort anfallende Reste aus der Holzverarbeitung verbrennt und mit der Wärme zwei umliegende Ortschaften beheizt. Viele der Mittelständler gehen Kooperationen mit Partnern aus ganz Europa ein, um ihre Technologien voranzutreiben und lukrative Nischen zu besetzen. Grüne Gründer ziehen nach und verblüffen die Welt mit innovativen Lösungen: etwa einem Wasserstoffantrieb für die Bus-Boote, die Touristen in die Lagunenstadt Venedig übersetzen.
Die vielen Aktivitäten haben Südtirol den ersten Platz im Green-Economy-Index 2012 unter allen italienischen Regionen eingebracht. Energie aus erneuerbaren Ressourcen deckt schon heute 56 Prozent des Strom- und Heizkraftbedarfs der 510.000 Südtiroler. Doch die Landesregierung will mehr: Schon in knapp vier Jahrzehnten sollen 90 Prozent des gesamten Energieverbrauchs aus regenerativen Quellen gespeist werden, so der ambitionierte Plan. Nicht alle Vorhaben stoßen auf ungeteilte Begeisterung. Besonders bei Windrädern ist die Sorge groß, sie könnten die Berglandschaft verschandeln. Schon gar nicht möchte man sie vor der Haustür stehen haben.
Einmal ans Meer und wieder zurück
Josef Gostner verfolgt solche Diskussionen eher am Rande. Sein Revier umfasst längst alle Kontinente. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass der größte grüne Player der Region zum vereinbarten Termin weder im Öko-Flitzer angerauscht kommt noch auf dem Fahrrad. Er landet mit seinem Privatjet auf dem kleinen Bozner Flughafen und steuert die Maschine zielsicher in den Hangar. Aus dem Cockpit klettert ein hochgewachsener Mann in den Fünfzigern, stilsicherer Anzug, dezent gemusterte Krawatte. Beim Anflug, erzählt der Vollblutmanager wohlgelaunt, habe er wieder einmal beobachten können, wie dicht die Täler und Berghänge seiner Heimat inzwischen mit Solarmodulen bestückt sind: Auf je 1.000 Einwohner kommen 410 Quadratmeter Sonnenkollektoren für die Warmwasserbereitung – das sind gut sieben Mal so viele wie im europäischen Durchschnitt und gar fünfzehn Mal mehr als in Italien. Ähnlich weit vorn liegt Südtirol bei der installierten Fotovoltaikleistung.
Mehr noch galt seine Aufmerksamkeit allerdings den fast tausend Wasserkraftwerken im Land. Denn mit der Wasserkraft begann vor fast 20 Jahren der kometenhafte Aufstieg Josef Gostners und seiner Brüder Thomas und Ernst als Energieproduzenten und -verkäufer. Heute umfasst ihre Fri-El-Gruppe über 80 Unternehmen. Ihre Kerngeschäfte sind inzwischen Windparks, Biogas- und Biomasse-Anlagen. Er komme gerade von der südlichsten Spitze des italienischen Stiefels zurück, berichtet Gostner, während er eiligen Schritts zum Auto stürmt. Dort unten baut die Gruppe einen 24 Megawatt starken Windpark mit der neuesten Turbinentechnologie des dänischen Marktführers Vestas. „Wir setzen dort die größten Windräder ein, die für italienische Verhältnisse geeignet sind, sagt Gostner sichtlich stolz. „Schließlich gibt es hier weniger Wind als etwa an der Nordsee.
Vom Flughafen geht es vorbei an einer fußballfeldgroßen Versuchsanlage. Hier prüft das Forschungsinstitut Eurac mit einem Partner aus der Wirtschaft Fotovoltaikmodule verschiedener Hersteller auf Herz und Nieren. Das Bürogebäude der Gostner-Brüder versteckt sich zwischen verwinkelten Gassen mitten im historischen Ortskern von Bozen: ein mittelalterliches Eckhaus mit dicken Mauerbögen und dunklen Holzstreben. Das Innere mit seinem edlen Mix aus Glas, Holz und Stahl würde sich gut als Titelbild einer Architekturzeitschrift machen. Warum residiert das Unternehmen, das in Italien zu den Marktführern gehört, ausgerechnet hier in Südtirol, wo es nicht eine einzige Anlage betreibt? „Ist doch ganz klar, sagt Josef Gostner und rückt die schmale Brille zurecht. „Unsere Industriepartner setzen auf Südtirol als Scharnier in den italienischen Markt. Und dort wiederum hilft uns das Image Südtirols als führende Ökoregion des Landes.
Ein Blick auf die Fakten unterfüttert die Einschätzung des Fri-El-Geschäftsführers. Gerade Wirtschaftsakteure sprechen Südtirol in Studien die Rolle eines grünen Zugpferdes zu; in Sachen energieeffiziente Bauweisen hat die Provinz mit ihrem KlimaHaus-Standard den Maßstab für ganz Italien gesetzt. Ein neuer Technologiepark in der Landeshauptstadt soll die Vorreiterrolle stärken und den Know-how-Transfer von der Theorie in die Praxis