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Zu wahr, um schön zu sein
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Zu wahr, um schön zu sein

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"Zu wahr, um schön zu sein" könnte eine Autobiografie sein. Ist es aber nicht. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Protagonistin rein zufällig denselben Vornamen trägt wie die Autorin. Alle im Buch vorkommenden Charaktere sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit wirklich existierenden Personen sind jedoch leicht möglich. Leider.
"Zu wahr, um schön zu sein" ist die nüchterne und dennoch amüsante Betrachtung des Alltags der erfolgreichen und gutaussehenden Schauspielerin (Hallo! Also doch eine Autobiografie?) Eva. Erfolge, Ängste, Sehnsüchte, Hoffnungen ... alles was ihre Lebensgeschichte ausmacht, wird beschrieben. So lernen wir eine Frau kennen, deren Spagat zwischen Beruf und Privatleben, zwischen Geben und Nehmen, zwischen Selbstbestimmung und Anpassung abenteuerlicher nicht sein könnte. Es ist wahr und es ist schön. Es könnte aber auch zu wahr sein, um noch schön zu sein.
LanguageDeutsch
Release dateNov 28, 2012
ISBN9783902862181
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    Zu wahr, um schön zu sein - Eva Maria Marold

    1.

    »Eva, kommst du noch ins Gino?«

    Sie hätte gerne »nein« geantwortet, aber ein einfaches »nein« ließ hier niemand gelten und zum vierten Mal in einer Woche eine glaubwürdige Ausrede zu erfinden, sprengte selbst die Grenzen ihres Erfindungsreichtums. Das hätte sie sich ja selbst nicht mehr geglaubt. Was konnte so wichtig sein, dass sie nach getaner Arbeit mit ihren Kollegen nicht noch einen Drink einnehmen könnte?

    Also antwortete sie so fröhlich und so gut gelaunt, wie es in diesem Moment eben ging: »Ja, geht schon mal vor. Ich brauch noch ein bisschen. Ich mach mich schnell etwas frisch!«

    Frisch! Ha! Ein resignatives Lachen entwischte ihr. Sie blickte in den Spiegel. Müde sah sie aus. Verschwitzt. Und alt. Da müsste schon einiges passieren, damit sie sich wieder so frisch fühlen würde, wie sie es gerne hätte. Eine Neugeburt am besten. Oder zumindest sechs bis achtundvierzig Monate Urlaub in der Südsee.

    Um einigermaßen ansehnlich im Gino erscheinen zu können, müsste sie sich komplett ab- und dann neu schminken. Das tat sie aus zwei Gründen nicht.

    Erstens, weil ihre Haut nach dem Abschminken immer gerötet und irritiert war und es somit fast unmöglich machte, sich in kurzer Zeit mit wenigen Handgriffen auf Vordermann zu bringen. Und zweitens, weil sie aus dieser schmuddeligen, alten, abgewohnten Garderobe so schnell wie möglich raus wollte.

    Alles hier kam ihr schmutzig und verdreckt vor. Das war hier schon immer so gewesen.

    Das Theater, ein Vorstadttheater mit ungefähr fünfhundert Sitzplätzen, ging gut. Das Haus war fast immer ausverkauft. Die Produktionen hatten gutes Niveau. Das Publikum manchmal auch. Die hausinterne Atmosphäre war sehr entspannt, professionell und kollegial. Genau so mochte sie es. Und deshalb spielte sie gerne hier. Wenn ihr nur nicht immer alles so schmutzig vorkommen würde.

    Eigentlich wollte sie schnell nach Hause. Ein schönes, warmes Vollbad nehmen. Zu Hause. Alleine. Ein entspannendes Lavendelölbad. Ein gutes Buch. Mehr brauchte sie zurzeit nicht, um sich wohlzufühlen. Mehr wünschte sie sich in diesem Moment nicht. Das war der Inbegriff von Luxus für sie. Zurzeit.

    Stattdessen musste sie, wie versprochen, den Anstandsbesuch im Gino absolvieren. Ihre Kollegen gingen jeden Abend nach der Vorstellung dorthin. Das Publikum, Fans, Freunde und Bekannte warteten dort schon auf die »Künstler zum Angreifen«, denn jedermann wusste, dass das Gino die inoffizielle Kantine des Theaters war. Im Gino stand man an der Theke und trank, meist kalorienreiche alkoholische Getränke, und ließ sich vom Publikum begaffen und von den Mutigen ansprechen.

    »Ist schon anstrengend, gell?«

    »Ja, schon. Man braucht eine gute Kondition.«

    »Was ich an euch Schauspielern so bewundere: Sag mal, wie merkt man sich so viel Text?«

    »Das Auswendiglernen ist reine Übungssache. Und so ist das Gehirn immer in Bewegung.«

    »Und, was spielst du (man bemerke das amikale »Du«! Der Schauspieler – dein Freund und Helfer. Ein Mensch wie du und ich) als nächstes?«

    »Darüber kann ich im Moment noch nicht reden. Es sind einige Projekte im Gespräch. Man muss abwarten, ob die Finanzierung klappt.«

    Wenn sie solche Antworten gab, musste sie immer still in sich hineinlachen.

    Ach, was war das doch für ein Kasperltheater! Die größten schauspielerischen Herausforderungen warteten immer abseits der Bühnen. Und sie antwortete stets mit genau den Worten, die man von ihr hören wollte, und gab somit ihrem Beruf und sich selbst einen geheimnisvollen, verwegenen Touch. War es ihr gelungen, das Publikum als Schauspielerin nicht zu enttäuschen, so wollte sie das keineswegs im Gino nachholen. Volksnähe und Abgehobenheit sympathisch unter einen Hut zu bringen – das war, wonach sie strebte. Beim Gedanken daran wurde das freundliche Lächeln in ihrem Gesicht zu einem durchtriebenen Grinsen. Kaum jemand bemerkte je den Unterschied.

    Sie sprach nicht gerne über ihren Beruf. Nicht mit Kollegen und schon gar nicht mit dem allgegenwärtigen Publikum. Sie hatte kein Interesse daran, »Phasen im Entstehungsprozess einer Rolle« durchzubesprechen, im krampfhaften Sich-in-die-Figur-einfühlen-Wollen als Julia mit veränderter Handschrift – Julias Handschrift – fiktive Liebesbriefe an Romeo zu verfassen, tonnenweise Sekundärliteratur zu lesen und den ganzen restlichen Kram. Ihre Überzeugung war: Wenn der Text hervorragend ist, inspirierend und man ihn gut auswendig gelernt hat, dann müssen nur noch alle Ventile offen sein. Der Rest geht ganz von alleine. Aber wie gesagt, darüber sprach sie niemals. Mit niemandem. Und das war gut so.

    Ihr wurde schnell langweilig. Bei allem, was sie tat. Bis heute war sie nicht in der Lage, zu sagen, ob sie das gut oder schlecht finden soll. Jedenfalls empfand sie beim Erproben von neuen Stücken, neuen Rollen, eigentlich nur so lange keine Langeweile, bis die Premiere vorüber war. Danach war jede Vorstellung nur noch ein »Malen nach Zahlen«, wie sie es für sich gerne bezeichnete. Die Herausforderung bei der oftmaligen Wiedergabe lag für sie darin, sauber und genau, das Erprobte, Erfühlte, Erfahrene wiederzugeben. Kunst hin oder her. Aber selbst die Gedanken über ihren Beruf begannen sie schon zu langweilen.

    Und während sie ihrem Gesprächspartner, einem etwas älteren Herrn mit ungewaschenen Haaren und schlecht sitzendem Anzug, kaum noch richtig zuhörte und ab und zu nur nickte und mit »mhm« oder »ja, eh« antwortete, was dem Mann interessanterweise vollkommen zu genügen schien, sah sie sich im Gino um und suchte Robert. Ihren Bühnenkollegen. Robert Berger, der eigentlich Rufus-Ignaz Weinbergen hieß, sich aber aus logistischen Gründen (logistisch ist nicht gleich logisch, Anmerkung vom Schicksal) einen Künstlernamen zugelegt hatte.

    Rufus meinte, Robert Berger sei ein gängiger Name, den sich das Publikum leicht merken könnte. Sie hielt das nicht für einen furchtbar klugen Schachzug, aber irgendwie passte der Name Robert wirklich besser zu ihm. Er war gutbürgerlich, was heißen soll kleinbürgerlich, was heißen soll kleinkariert. Ein selbsternannter Gutmensch. Immer lieb, nett und freundlich zu allen. Was ihn meinungslos und charakterlos erscheinen ließ. Die Freundlichkeit, die Hilfsbereitschaft, das Mitgefühl, das Robert an den Tag legte, machten ihn paradoxerweise oft unsympathisch. Aber Robert wollte nun mal gefallen und geliebt werden. Man kann’s ihm nicht verdenken.

    Rufus alias Robert war jüdischer Abstammung und aus nur ihm bekannten Gründen schien ihm diese Tatsache nicht zu behagen. Vielleicht ein nicht unwichtiger Grund mehr für seinen Namenwechsel.

    Sie persönlich fand, dass Rufus-Ignaz Weinbergen viel mehr hermachte. Rrruuuufus-Iiignazzzz Weinnnberrrgennn – das klang in ihren Ohren nach einem Schwerenöter, einem skrupellosen Wirtschaftskriminellen oder einem Tod und Unheil bringenden Psychopathen. Stattdessen erschien nur ein Robert auf der Bühne. Jedenfalls passte der Name Robert Berger wirklich besser zu seiner Banalität und seiner Mittelmäßigkeit. Wobei sie ja der Meinung war, dass Mittelmäßigkeit keinesfalls zu verachten sei. Heutzutage freute man sich schon, wenn irgendetwas oder irgendwer Mittelmäßigkeit erreichte. Mittelmäßigkeit – das ist doch schon was, in einer Zeit, in der man seine Ansprüche auf ein Mittelmaß zurückschraubte, um Enttäuschungen vorzubeugen. Sie hatte einmal gelesen: »Popularität setzt Mittelmäßigkeit voraus«. Dieser Satz ließ sie seither nicht mehr los.

    Robert war also durchaus kein schlechter Schauspieler …

    Seit einiger Zeit hatte sie so etwas Ähnliches wie eine Affäre mit ihm. Sie nannte es »Affäre«, in Ermangelung eines besseren Wortes. Sie waren noch nicht miteinander im Bett gewesen. Das nicht, aber geschmust hatten sie schon auf Teufel komm raus. Bei ihr war der Teufel immer ein bisschen weiter draußen als bei Robert. Er war verheiratet. Was sie weiter nicht störte. Ihn, den Gutmenschen, offensichtlich schon. War sie verliebt in ihn? Eher nicht. Wollte sie, dass er sich scheiden ließ, um mit ihr für den Rest des Lebens, ihres gemeinsamen Lebens, zusammen zu sein? Um Gottes willen, nein! Was war es dann? Ihre Antwort darauf fiel relativ nüchtern aus. Mit Robert war endlich wieder einmal ein Mann auf der Bildfläche erschienen, der ganz offen seine Bewunderung für sie zeigte. Er bewunderte sie als Künstlerin, als Kollegin, als Frau, als Körper. Ihr Körper konnte sich durchaus sehen lassen. Groß, schlank, durchtrainiert, üppige Brüste, langes brünettes Haar, große dunkelbraune Augen, volle sinnliche Lippen. Sie war nicht perfekt. Nein. Aber gerade das machte sie so interessant. Das wusste sie. In einem Zeitalter der Mittelmäßigkeit war sie alles andere als mittelmäßig. In jeder Hinsicht.

    Robert und sie spielten ein Liebespaar. Wenn er sie auf der Bühne umarmen und drücken musste, dann umarmte er sie immer etwas zu lange und drückte sie immer etwas zu fest. Küssen mussten sie einander auf der Bühne nicht.

    Aber wie gesagt, mehr als küssen war mit Robert abseits der Bühne noch nicht drin gewesen. Sie wusste, irgendwann würden sie schon noch im Bett landen. Das war bei ihr wie das Amen im Gebet. Denn wenn sie einen Mann so nahe an sich heranließ, dass er sie küssen durfte, dann durfte er normalerweise auch alles andere. Und das nicht erst nach dem achten Date, sondern sofort. Bisher war sie mit jedem Mann wenige Minuten nach dem ersten Kuss beim finalen Geschlechtsakt gelandet. Für sie machte es absolut keinen Unterschied. Das war bei ihr immer schon so gewesen. Es gab für sie keine Grenzen. Keine fließenden Übergänge. Sie hatte kein Problem mit Sex. Sie hatte entweder keinen oder sie hatte welchen. Aber nur so eine Schmuserei oder Petting, ohne »die Sache« zu finalisieren, das kannte sie nicht. Das machte sie allerdings noch lange nicht zur Schlampe. Sie war ein molliger, von Akne geplagter, einsamer Teenager gewesen. Was ihr heute niemand mehr glauben wollte. Wenn sie es denn doch erzählte, glaubten alle, sie kokettiere, würde nach Komplimenten fischen und zu Beschwichtigungen animieren. Naja, sollten sie doch glauben, was sie wollten. Dennoch war es die Realität. Es war als pubertierendes Mädchen ihre Realität gewesen, die diversen Partys alleine zu verlassen. Meist schon vorzeitig. Aus Langeweile. Hätte sie vielleicht mit einem der anwesenden Jungs getanzt, geschmust und Gott allein weiß was noch, dann wäre ihr unter Umständen nicht so langweilig gewesen. Aber dieser Tatsache war sie sich auch nicht immer so sicher.

    Wieder entkam ihr ein lautes Lachen und der ältere Herr (der im schlecht sitzenden Anzug) sah sie entgeistert an.

    Was soll’s: Sie war Schauspielerin, eine Künstlerin. Sie konnte sich Schrulligkeit leisten. Narrenfreiheit. Schlechtes Benehmen ging in ihren Kreisen leicht als Originalität, als künstlerischkreative Individualität durch.

    Sie räusperte sich, machte große, interessierte Augen und wandte ihren Blick wieder dem schlecht sitzenden Anzug zu. Der ließ sich von ihrem Heiterkeitsausbruch nur kurz irritieren und sprach ohne Punkt und Komma weiter.

    Nach Hilfe und Erlösung, nach Robert suchend, sah sie sich im Gino um und da! Ping, ping! Ihre Blicke trafen sich. Robert lächelte ihr zu und gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, sie solle zu ihm kommen.

    »Eva, ich möchte dir jemanden vorstellen!«

    Ach, wie sie ihn dafür liebte. Er wusste genau, wie sehr sie das Volksbad, das Bad in der Menge hasste, und war ihm unendlich dankbar, dass er sie erlöste. Höflich verabschiedete sie sich vom alten Anzug mit den fettigen Haaren und ging zu Robert, der sich mit einem neuen Anzug mit gewaschenen Haaren unterhielt.

    »Darf ich vorstellen, Eva, das ist Magister Markus Huber. Seine Firma wird mein Soloprogramm unterstützen.«

    Magister Huber war, wie sich herausstellte, PR-Chef eines großen Fruchtsaftkonzerns und machte Sponsorgelder für Roberts ersten Soloabend locker. Robert hatte für sich selbst ein Stück geschrieben. Darin ging es um einen verheirateten Mann, der – wie könnte es auch anders sein – über alle Schwierigkeiten im ehelichen Zusammenleben und die damit verbundenen Missverständnisse gegengeschlechtlicher Beziehungen klagte. Sie fand das eine ziemlich simple und unoriginelle Idee, dieses »Mann und Frau, na das kann ja nicht klappen«-Szenario.

    Sie fand es überaus langweilig, was sie aber Robert niemals sagen würde. Sie wollte ihn nicht verletzen, denn Robert war von seiner Idee begeistert. Er war geradezu enthusiastisch und überzeugt, damit einen goldenen Wurf zu landen. Wahrscheinlich gab es auch tatsächlich interessiertes Publikum für einen Abend wie diesen. Genügend Menschen, die sich mit dem verwirrten, orientierungslosen Loser auf der Bühne identifizieren konnten.

    Da konnten sie lachen. In ihren »wirklichen« Leben konnten sie über sich selbst nicht lachen. Deshalb würde Robert mit seinem kritischen Männerprogramm wahrscheinlich wirklich Erfolg haben. Bei Männern und bei Frauen, die im Theater ganz offiziell, ganz legitim über ein überhöht verzerrtes Spiegelbild ihrer Männer lachen durften. Nun gut, wenigstens hatte er einen Sponsor an der Hand, der für die Fotokopien, CD-ROMs, Requisiten und so weiter aufkommen würde. Eine Sorge weniger für Robert.

    Magister Huber überschlug sich förmlich mit Komplimenten für Eva. Er habe noch nie in seinem Leben eine so schöne und gleichzeitig so humorvolle Frau getroffen. Robert nickte zustimmend. Erwartungsvoll und neugierig, wie sie wohl auf diese vielen überschwänglichen Komplimente reagieren würde, sah er sie an. Denn er kannte sie ja schon ein bisschen besser und wusste, dass sie im Grunde ihres Herzens eine sehr schüchterne Person war, die mit so etwas nicht gut umgehen konnte. Aber sie war ja auch Schauspielerin. Eine gute Schauspielerin.

    Und so bedankte sie sich freundlich bei Magister Huber, der sich dadurch angespornt fühlte, ihr noch mehr Honig ums Maul zu schmieren. Wie alt sie denn sei, wenn er so frech fragen dürfe, denn sie sehe so unglaublich jung aus.

    Robert sah ihr direkt in die Augen – sah ihr auf eine Art und Weise in die Augen, die sie erzittern ließ. Dieses Zittern ging vom Bauchnabel aus und breitete sich wie ein Erdbeben in kleinen Wellen über ihren ganzen Körper aus. Ihr wurde heiß und kalt gleichzeitig. Irgendwann, lieber Robert, hoffentlich schon bald, wirst du deine unausgesprochenen Versprechungen wahr machen, dachte sie. Und sie hoffte in diesem Moment, dass ihr Erröten unter dem alten Make-up auf der Haut nicht zu sehen war. In wenigen Monaten feiere sie ihren siebenunddreißigsten Geburtstag, antwortete sie dem Fruchtsaft-Magister.

    Ja, es stimmte. Sie sah noch sehr jung aus. Wie alle Frauen in ihrer Familie sah sie mindestens zehn bis fünfzehn Jahre jünger aus. Alle, bis auf ihre Mutter. Aber die war tablettensüchtig. Wie lange schon, das konnte Eva nicht mit genauer Bestimmtheit sagen, aber wohl schon lange genug, denn in ihrer Erinnerung hatte ihre Mutter stets eine Lade mit den verschiedensten Pillen und Dragees gefüllt und bediente sich auch mehrmals täglich großzügig daraus. Was genau ihre Mutter da immer schluckte, hatte sie erst in den letzten Jahren zu interessieren begonnen. Neben rezeptpflichtigen Medikamenten (Blutdrucksenkern, Magentabletten, Kreislauftabletten, fiebersenkenden Mitteln) fanden sich alle nur denkbaren Nahrungsergänzungsprodukte in der Giftlade ihrer Mutter. Musste auch ganz schön was kosten, diese Lade immer wieder so toll aufzufüllen. Dass sie bei diesem chemisch-pharmazeutischen Cocktail, den sie da seit Jahrzehnten täglich verschlang, überhaupt noch lebte, zeugte von einer robusten Natur und grenzte beinahe an ein Wunder.

    Ja, und so nebenbei, als würde die Tablettensucht nicht genügen, war ihre Mutter auch noch eine starke Raucherin. Seit Evas Geburt rauchte sie täglich zwei Päckchen Marlboro. Heute waren ihre Beine vom Knie abwärts dunkelbraun.

    Dass dieser Umstand eventuell dem übermäßigen Konsum von Nikotin zuzuschreiben war, bestritt ihre Mutter aufs Heftigste. Das seien doch keine Raucherbeine! Nie und nimmer! Dann war da noch die Sache mit der Ernährung. Täglich fünfhundert Gramm Schokolade und zweihundertfünfzig Gramm Gummibärli wollte Eva nicht als gesunde Ernährung durchgehen lassen.

    Und so sah ihre Mutter, wenn schon nicht unbedingt älter, jedenfalls genau so alt aus, wie sie wirklich war. Was Eva allerdings wesentlich mehr schmerzte: Ihre Mutter sah nicht gesund aus. Um das zu erkennen, musste man nicht unbedingt Arzt sein. Man musste nicht Medizin studiert haben. Das Übergewicht, Geruch von Haut und Atem, das übermäßige Schwitzen, das schwere, schnaufende, pfeifende Ein- und Ausatmen – das alles sprach für sich und das alles machte Eva traurig. Sehr traurig.

    Und dann gab es noch die drei Schwestern ihrer Mutter und die zwei Schwestern und die zwei Brüder ihres Vaters. Die etwas jüngere Schwester ihres Vaters hatte früher als Gesellschaftskolumnistin beim Bezirksblatt gearbeitet und fühlte sich daher als Insiderin und Kennerin der Branche. Als solche gab sie ihrer Nichte zu Beginn ihrer Schauspielkarriere viele Tipps. Wie sie sich zu kleiden, zu benehmen hatte, zu welchenVeranstaltungen sie gehen sollte und dergleichen. Als Eva mehr und mehr Erfolg in ihrem Beruf hatte und sich nach einiger Zeit in der großen Stadt, nicht in der Provinz, als viel geschätzte Schauspielerin zu etablieren begann, wich die Hilfsbereitschaft der Tante dem puren Neid. Sie ignorierte den Erfolg der Nichte. Jede gute Zeitungskritik blieb unkommentiert. Über »die Branche«, »das Metier« und ihre berufliche Laufbahn als Schauspielerin wurde nicht mehr gesprochen. Evas Entwicklung wurde vollständig ignoriert. Die Nichte wurde zur Konkurrentin. Was Eva hochgradig lächerlich fand.

    Diese Veränderung störte sie aber weiter nicht. Sie konnte gut mit und sie konnte gut ohne die Aufmerksamkeit ihrer Tante leben. Denn was Eva im Laufe der Zeit gelernt hatte und die Erfahrungen, die sie als Schauspielerin gesammelt hatte, ließen sie rasch erkennen, dass das meiste, was ihre Tante ihr einzureden versucht hatte, schlicht und ergreifend Blödsinn war. Einfach nicht stimmte. Und wenn ihre Tante einmal angefangen hatte zu reden, dann hörte sie so schnell nicht wieder auf. Jedes begonnene Gespräch endete in einem Monolog der wissenden Kennerin. Und Eva wurde es schnell langweilig. So war sie nun ziemlich froh, dass sie von ihrer »Medien-Tante« nicht mehr beachtet und niedergeredet wurde, denn somit geriet sie nicht mehr in die Verlegenheit, Interesse für den vorgetragenen Unsinn heucheln zu müssen.

    Eva war ein Einzelkind gewesen. Das heißt, sie war es immer noch. Zum Glück! Nicht auszudenken, was das für ein Geschwisterchen hätte werden können, bei dem Nikotin- und Tablettenkonsum der Frau Mama. Jedenfalls hatte Eva schon sehr früh gelernt, dass sie sich auf niemanden verlassen konnte. Nur auf sich selbst. Das brachte ihr neben dem gelegentlichen Gefühl der Einsamkeit auch die frühe Selbstständigkeit ein, um die sie sehr oft beneidet wurde. Eigenständigkeit und Autonomie. Autonomie auch ihre Gefühlswelt betreffend. Woher das kam, wusste sie nicht genau. Sie hatte als Kind schon das Gefühl gehabt, sich nicht hundertprozentig auf ihre Eltern verlassen zu können. Also hatte sie immer einen Plan B parat, bei dem sie Regie führte, Protagonistin war und alles zur Zufriedenheit aller, was ihre eigene Zufriedenheit inkludierte, erledigte.

    Ihre Mutter meinte es immer gut. Aber gut gemeint ist das Gegenteil von gut. Ihre Mutter tat nie genau das, worum man sie gebeten hatte. Sie tat entweder zu viel oder zu wenig. Aus Liebe natürlich. Gut gemeint. Sie hielt sich nicht an Abmachungen, die sie mit ihrer Tochter getroffen hatte. Aus Liebe. Sie traf Entscheidungen über den Kopf ihrer Tochter hinweg. Aus Liebe. Und so enttäuschte sie ihre Tochter ständig. Aus Liebe.

    In eine hübsche Sippschaft war sie da hineingeboren worden, die kleine Eva! Sie war mittendrin, gehörte aber nicht dazu. Dieses Gefühl sollte sie ein Leben lang begleiten.

    »Was meinst du, Eva, Halb-Playback oder Pianist live auf der Bühne?«

    Eva wurde aus ihren Gedanken gerissen. Wie oft hatte ihr Robert diese Frage nun schon gestellt? Sie sah in die Gesichter der beiden Männer und vermutete, dass Robert sie das schon zum zweiten oder dritten Mal fragte, was man bei all dem Lärm im Gino absolut als akustische Wahrnehmungshemmung durchgehen lassen konnte.

    So, so, singen wollte Robert also auch in seinem selbst geschriebenen, selbst produzierten Solo-Männer-Stück.

    »Pianist, natürlich«, antwortete sie, ohne lange zu überlegen. »Das ist doch viel besser. Lebendiger, spontaner. Du kannst improvisieren, Robert. Eine deiner Stärken.«

    Sie schenkte ihm ihr verführerischstes Lächeln. »Du kannst improvisieren, und wenn du mal einen Hänger hast, dann kannst du das charmant in eine Improvisation übergleiten lassen, wenn du weißt, was ich meine. Ein Pianist auf der Bühne stellt jedoch einen zusätzlichen Kostenfaktor dar, aber ich denke, der Herr Magister Huber weiß, dass Qualität was kostet. Nicht wahr, Herr Magister? Das kann man ja bei Ihren Fruchtsäften sehen. Was heißt sehen! Schmecken!«

    Puh, hoffentlich war das nicht zu dick aufgetragen!

    Eva bestellte einen Gin Tonic und überließ die beiden Männer wieder ihrem Fach-, Vertrags- und Schleimgespräch. Sie ließ ihren Blick durch das Lokal schweifen. Das Gino hatte sich schon geleert. Nur mehr einige wenige Gäste lungerten an der Bar herum. Die würden mit großer Sicherheit zur Sperrstunde noch immer da herumstehen. Sie war auch länger geblieben, als sie eigentlich vorgehabt hatte. Sie wollte warten, bis Robert sich anschickte, das Lokal zu verlassen. Heute Abend hatte sie das Glück gehabt, ihren Wagen gleich hinter seinem zu parken. So könnten sie dann gemeinsam zu ihren Autos gehen und sich vielleicht noch mit zweideutigen, schlüpfrigen Andeutungen und einem Kuss voneinander verabschieden, um dann getrennt nach Hause zu fahren und sich vor dem Einschlafen mit ein paar eindeutigen SMS in den Schlaf zu schicken.

    Wie Robert das mit seiner Frau und der SMS-Schreiberei mitten in der Nacht hinbekam, war Eva ein Rätsel. Wahrscheinlieh lag sie schlafend neben ihm, zufrieden, dass ihr Rufus nun endlich zu Hause war. Robert, Rufus, sollte sich einige Jahre später von seiner Frau scheiden lassen, um eine herbe, uncharmante, schmallippige Schauspielkollegin zu heiraten, mit der er einen Autoverleih gründete. Einen Autoverleih! Das Schicksal: Eine Aneinanderkettung von Zufällen!

    Nun, so mittelmäßig

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