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Die Weltenwandlerin
Die Weltenwandlerin
Die Weltenwandlerin
Ebook467 pages6 hours

Die Weltenwandlerin

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About this ebook

Für Grace wird ihre Kindheit zu einem Wunderland, als sie den Gestaltenwandler Eweligo kennenlernt. Mit einem magischen Ring bringt er sie nach Tybay. Dort findet sie neue Freunde und verbringt viel Zeit in dieser Welt voller Magie und Legenden. Als sie dann aber die Liebe ihres Lebens in ihrer Welt kennenlernt, muß sie Tybay hinter sich lassen und wird gezwungen, diese Teile ihrer Kindheit zu vergessen. Viele Jahre später schicken sich die dunklen Mächte an, die Macht in Tybay an sich zu reißen. Ohne es zu wissen, wird Grace zum Angelpunkt dieser Auseinandersetzung und gerät in einen Strudel aus längst vergessenen Erinnerungen und dem Kampf um die Freiheit von Tybay. Sie fühlt sich hin und her gerissen zwischen ihrer neuen Liebe und ihrer Bestimmung. Ob sie es schafft, die Hoffnungen zu erfüllen, die eine ganze Welt in sie setzt?
LanguageDeutsch
Release dateMar 25, 2014
ISBN9783945230022
Die Weltenwandlerin

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    Die Weltenwandlerin - Tanja Kummer

    Tanja Kummer

    Die Weltenwandlerin

    Roman

    Leseratten Verlag

    Tanja Kummer

    Die Weltenwandlerin

    ISBN 978-3-945230-02-2

    1. Auflage, Backnang

    © Alle Rechte vorbehalten

    Leseratten Verlag, Marc Hamacher,

    71522 Backnang

    www.leserattenverlag.de

    Für Marc, in Liebe

    Für meine Lieben,

    die immer daran geglaubt haben, daß ein Huhn fliegen kann.

    Herzlichen Dank an meine Eltern, die mir ihre guten Eigenschaften mit auf den Weg gegeben haben. Auch an meine Schwestern, die immer meine ersten Opfer waren.

    Besonderer Dank geht an meine beiden bärtigen Käuze, die mir unermüdlich dabei halfen, aus einer Geschichte eine unvergeßliche Reise zu machen. Und an meine Freundin in Berlin, die auch für die dümmsten Fragen immer ein offenes Ohr hatte.

    Vielen Dank an Jamie und Del, die stets dafür sorgten, daß ich eine Pause machen mußte, wenn ich sie nicht wollte.

    König Balinor

    Die Nacht war finster. Dicke Wolkenwände verschleierten den Mond und die Sterne. Es roch nach Feuchtigkeit, und der erste Nebel stieg aus dem Laub und Wurzelwerk der dicht gewachsenen Bäume. Noch immer fielen schwere Tropfen aus den wirren Ästen der alten Eichen, obwohl es schon Stunden her war, daß der Regen aufgehört hatte. Doch das Wasser fand erst jetzt mit der Schwere des Nebels über das Blattwerk den Weg zur Erde.

    Der Waldboden war fast völlig trocken. Nur vereinzelt waren die gefallenen Blätter feucht und glitschig. Hauptsächlich dort, wo das Blattwerk nicht so dicht wuchs, an Lichtungen und über dem Weg, dem Pferd und Reiter folgten. Im waghalsigen Galopp, daß die Hufe des Hengstes donnernde Schläge verursachten, ritten sie den kaum sichtbaren Weg entlang.

    Sie waren nicht allein. Mehrere andere Pferde folgten ihnen dichtauf. Wäre da nicht sein Reiter gewesen, der ihn unbarmherzig antrieb, der Hengst wäre in einen leichten Trab zurückgefallen, um seine Artgenossen zu erwarten. Aber wieder spürte der Hengst die Hacken seines Reiters in seinen Flanken.

    Der Reiter fühlte sehr wohl das erschöpfte Zittern seines Pferdes und gewahr mit Schrecken, daß es immer öfter aus dem Tritt kam. Ihr Vorsprung verkleinerte sich zusehends.

    Sie waren viel zu schnell, bedachte man dem Umstand, daß man kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Aber das dämmrige Licht würde Roß und Reiter ausreichen müssen, genügend Anhaltspunkte zu erspähen, um die Strecke in dieser Schnelligkeit bewältigen zu können. Sie hatten keine andere Wahl, wollten sie ihren Verfolgern entkommen.

    Der Kopf mit dem einst schwarzen, jetzt ergrauten vollen Haar ruckte herum und erhaschte einen Blick über die Schulter. Aber es war zu dunkel, um seine Verfolger auszumachen. Er wandte den Blick wieder dem kaum erkennbaren Weg zu, dem das Streitroß folgte, und gewahr erst im letzten Moment das Hindernis, das auf dem Waldweg lag. Seiner Kehle entfuhr ein überraschter Schrei, und hastig ließ er den Hengst über den umgestürzten Baumstamm setzen. Auf der anderen Seite des Baumes strauchelte das Pferd und verlor auf dem feuchten Erdreich das Gleichgewicht. Im letzten Moment fing es sich wieder und entging nur knapp dem endgültigen Ende ihres Rittes. Wieder riss der Reiter unsanft an den Zügeln und setzte seinen halsbrecherischen Ritt fort.

    Neben Reiter und Pferd stürzte ein Falke aus der Nacht heraus und schrie schrill auf.

    »Ich weiß, mein Freund! Sie folgen uns dicht auf«, erwiderte der Mann. »Doch sprich! Meine Sorge gilt allein dem Thronerben des Landes. Hat Quinfee es geschafft, meinen Sohn und meine Gemahlin in Sicherheit zu bringen?«

    Der blutrote Umhang bauschte sich im Wind des Rittes auf und entblößte einen schwarzen Harnisch, verbeult und blutverschmiert. Aber es war nicht das Blut des Reiters, denn das zusätzliche Kettenhemd darunter hatte ihn zu schützen vermocht. Der Reiter und das Pferd waren in der Finsternis nicht mehr als ein schwarzer Schatten. Ein Vorteil für sie, aber der König wußte, daß seine Verfolger ihn trotzdem finden würden.

    »Ja, Mylord. Prinz Necom ist in Sicherheit. Quinfee hat sein eigenes Leben und das seiner Männer riskiert, um ihn in Sicherheit zu bringen«, erwiderte der Falke mit sanfter Stimme.

    »Was ist mit meiner Königin, Eweligo?« Die Stimme des Königs wankte vor Sorge. Er ahnte, daß etwas Furchtbares geschehen war. Der Reiter warf dem Falken einen kurzen, besorgten Blick zu. Aber da war nicht mehr der Falke, sondern eine andere, menschliche Gestalt. Der Gestaltenwandler glich in seiner natürlichen Statur einem Menschen, ließ man außer Acht, daß er wenig größer als eine Elle war und ihm zwei große seidendünne Flügel aus dem Rücken wuchsen. Jetzt waren sie klar und durchscheinend. Doch wenn sich das Licht in den länglichen, libellenartigen Flügeln verfing, brach sich dieses darauf und erstrahlte in den Farben eines Regenbogens. Im Verhältnis zu seinem Körper waren seine Hände und Füße sehr groß und seine Zehen endeten in Saugnäpfen wie bei einem Frosch.

    In den großen, grünen Augen stand echte, tief empfundene Trauer, als er in das von Sorge gezeichnete Gesicht seines Königs blickte. Mit einer Hand wischte er sich eine nasse Strähne des roten Haares aus der Stirn. Der König war ein Mann in den besten Jahren. Nicht mehr der Hitzkopf seiner Jugendzeit, sondern bereits mit erlesener Weisheit, aber noch nicht vom Alter gebeugt. Doch in jener finsteren Nacht glich sein Gesicht mehr dem eines alten Mannes. Eweligo hatte seinen Herrn noch nie so erschöpft gesehen, und das Elementarwesen wußte, daß es auch sein Herr wußte.

    »Sie starb mit der ersten Morgenröte des gestrigen Tages, um Euren Sohn zu beschützen, mein König. Ein Stoßtrupp, knapp zwei Dutzend von König Kalidors besten Schergen, überfiel ihr Lager in der Dämmerung. Unsere Königin nahm ihr Schwert zur Hand und focht gut, aber einer derartigen Übermacht an geübten und kampferfahrenen Soldaten war die Gruppe nicht gewachsen. Sie gab Euren Sohn in Quinfees Obhut, damit er fliehen konnte. Sie selbst und die Soldaten hielten die feigen Mörder so lange auf, wie sie konnten.«

    Der Wald brach vor ihnen auf und sie sprengten auf eine Lichtung und in den Nebel. Die Tränen auf den Wangen des Königs vermischten sich ungesehen mit der Feuchtigkeit des Nebels. Der Hengst begann zu tänzeln, als seine Hufe tief in den Morast einsanken. Wenige Augenblicke später erreichten sie die andere Seite der Lichtung und drangen wieder in den Wald ein.

    Die Morgenröte stieg auf und der König wurde sich der Ironie gewahr, daß ihn die Nachricht um das Schicksal der Königin zur selben Zeit, jedoch einen Tag später erreichte, als es sie ereilt hatte.

    Erneut warf er einen gehetzten Blick hinter sich, doch auch jetzt war noch nichts von seinen Verfolgern zu sehen. Der Ritt ging weiter und schließlich erreichten sie den Rand des Waldes. Vor ihnen erstreckte sich die Weite eines Tals. Endlich auf freier Fläche trieb der König sein Pferd noch schneller an. Seinen Schild, den Speer und all die anderen jetzt unnützen Dinge, die nur Ballast für das Tier gewesen waren, hatte er bereits vor Stunden in den Wald geschleudert. Dennoch würde er das Streitroß zuschanden reiten, wenn er es in diesem Tempo weiter hetzte. Doch selbst dieses Opfer war dem König nicht zu hoch, wenn das Gelingen seiner letzten Aufgabe davon abhing. Er mußte beenden, wozu er aufgebrochen war, wollte er sein Volk vor dem Feind retten. Danach konnte er sich seinen Herausforderern und seinem Geschick stellen.

    Nun erblickte der König seine Verfolger, die ebenfalls aus dem Wald sprengten. Eine Masse dunkler Schatten auf noch schwärzeren Pferden. Obwohl die Pferde seiner Verfolger ebenso erschöpft sein mußten wie seines, glaubte er zu sehen, wie sie langsam und stetig aufholten. Eisiges Entsetzen ergriff von seiner Seele Besitz. Er erschauerte und das Zittern übertrug sich auf das Roß, das die Furcht seines Reiters spürte und energischer ausgriff.

    König Balinor fürchtete nicht die Gefahr hinter sich, sondern das, was der Morgen bringen würde, falls er versagte. Vermutlich würde die Sonne gar nicht mehr aufsteigen, sondern ewige Dunkelheit fortan das Los seines treu ergebenen Volkes sein.

    Es grenzte an ein Wunder, als sich der letzte Hügel vor ihm erhob. Hinter dieser Bergkuppe erwartete ihn der schönste Anblick, den zu sehen er schon nicht mehr zu hoffen gewagt hatte: den seines Schlosses. Lywell lag am jenseitigen Ende des nächsten Tals und für einen Moment wollte er hoffen, noch gewinnen zu können.

    Ein kleiner Schatten, kaum weniger schwarz als die Nacht, schnellte an ihm vorbei und verschwand wieder in der Dunkelheit. Ein dumpfes Geräusch wurde laut, als der Falke in vollem Flug gegen den Reiter stieß. Überrascht blickte sich der König um und keuchte erschrocken auf, als er seine Verfolger neben und hinter sich sah. Mit einem Schrei und einer entschlossenen Bewegung zog er sein Schwert. Zum ersten Mal seit Stunden bereute er es, auch den Schild ins Unterholz geworfen zu haben.

    Balinor riß an den Zügeln seines Pferdes, und mit einem entrüsteten Schnauben und zuerst bockend bäumte sich der Hengst auf und blieb dann stehen. Fast im selben Moment stürmten die Verfolger auf den König ein. Schwarze, gesichtslose Gestalten, die sich hinter ihren Rüstungen und Helmen versteckten.

    Aber Eweligo war bereits wieder zur Stelle. Er stürzte sich auf einen der Soldaten und hackte mit seinem Schnabel, während dieser mit dem Schwert nach ihm schlug.

    Matt schimmernde Klingen zerschnitten die Nacht und die Stille wurde von den Geräuschen des Kampfes erfüllt. Das Schwert des Königs zog blitzende Kreise, dennoch mußte er einen Hieb nach dem anderen hinnehmen. Seine Verfolger waren zu viert. Sie drängten sich um ihn, bewaffnet mit Speer, Schwert und Schild und waren scheinbar nicht im geringsten vom scharfen Ritt erschöpft.

    Balinor schrie in wildem Zorn auf und hieb auf die Mörder seines Volkes und seiner Frau ein. Er wußte, daß dies nicht die Männer waren, die Quinfees Gruppe überfallen hatten, aber sie waren Soldaten desselben Herrschers. Dieses Wissen genügte, ihn vor Haß erzittern zu lassen.

    Das Pferd unter seinen Schenkeln tänzelte nervös und schrie entsetzt auf, als ein Schwertstreich eine Wunde in seine Flanke schlug. Ein weiterer Hieb gegen die Beine des Tieres ließ es endgültig zusammenbrechen. Balinor schwang sich hastig vom Rücken des Pferdes und sprang beiseite, als es an der Stelle zusammenbrach, an der er noch vor wenigen Augenblicken gestanden hatte.

    »Gebt auf und Euer Leben möge für den Augenblick verschont sein. Laßt Euch gefangennehmen und unserem König vorführen, um Euer Urteil zu hören.«

    »Urteil? Weshalb bin ich angeklagt? Den Gesetzen Eures Herrn bin ich nicht Untertan! Sie haben in meinem Reich keine Gültigkeit!«, grollte der König.

    »Euer Reich?«, höhnte der Sprecher. »Es gehört nicht länger Euch. Euer Schloß ist besetzt, Eure Krone ruht bald auf dem Haupt meines Herrn und Eure Hure und ihr Bastard dienen schon als Aasfutter. Welchen Anspruch könntet Ihr noch erheben?«

    Balinor stürmte brüllend auf den Reiter ein. Die Breitseite seines Schwertes prallte gegen die Nüstern des Tieres, und dieses warf seinen Reiter mit jähem Schrecken ab. Der König mußte zur Seite springen, als das Tier sein Heil in der Flucht suchte.

    Schwerter und Speere senkten sich und stachen nach Balinor. Eine Schwertklinge streifte seine Schulter und ein Speer verletzte seinen Schenkel. Inzwischen war der Sprecher, vom Abwurf unverletzt, aufgestanden. Brüllend vor Zorn hob er sein Schwert beidhändig über den Kopf und hackte nach Balinor. Die Klinge schnellte herab und Funken sprühten auf, als der König den Hieb parierte. Die Wucht, mit dem der Schlag geführt war, stieß die Gegner auseinander. Balinor sprang als Erster vor, griff den Sprecher an, täuschte einen von oben geführten Streich an, riß die Klinge herunter und führte sie gegen die Knie des Soldaten. Blut spritzte und der Sprecher brach schreiend zusammen.

    »Mylord!«, schrie Eweligo.

    Balinor wirbelte herum, wich dem heimtückischen Hieb von hinten in letzter Sekunde aus und verlor beinahe das Gleichgewicht. Er taumelte, fand wieder Halt und richtete sich auf. Die Lücke, die er geschlagen hatte, war wieder geschlossen. Eweligo, wieder in seiner eigenen Gestalt, flog enge Spiralen um des Königs Körper.

    »Mylord!«, drängte Eweligo erneut. »Ihr müßt fliehen! Benutzt Euer Amulett!«

    »Eweligo, wir müssen zum Schloß zurück, wenn nicht alles umsonst gewesen sein soll!«, rief der König verzweifelt.

    »Vertraut mir, mein König!«, drängte das Elementarwesen weiter und zog engere Spiralen. »Es gibt noch einen anderen Weg!«

    Wieder schlug einer der Soldaten auf den König ein, und diesmal verwundete er den Schwertarm Balinors schwer. Blut quoll in einem leichten Strom aus der tiefen Wunde. Binnen weniger Augenblicke würde sein Arm taub sein, so daß er das Schwert mit der linken Hand würde führen müssen. Doch das wäre dann nur noch ein letztes Aufbegehren, das Unvermeidliche so lange wie möglich hinauszuzögern.

    Hastig riß der König an seinem Harnisch. Seine linke Hand glitt ungeschickt unter das Kettenhemd und suchte nach der Kette mit dem Amulett, während er mit dem Schwert einen erneuten Angriff unter Schmerzen abwehrte. Dann fanden seine Finger das münzgroße Geschmeide aus Gold, schlossen sich darum und zogen es hervor. Es war kunstvoll gefertigt. Den äußeren Rand zierten alte Zeichen, eine Schrift aus vergessenen Tagen. Im Innern leuchtete ihm das Symbol der Sonne entgegen, das Wappen seiner Familie.

    »Ich bin der König, die Sonne und das Land!«, beschwor er die Macht des Amuletts. Seine Familie war nie im Besitz vieler magischer Gegenstände gewesen. Dieser Anhänger und das eine oder andere magische Geheimnis, das ihre Familie wahrte, waren alles, was sie besaßen. Die Magie dieser Welt starb und wurde vergessen. Es gab nur noch wenige, die den Umgang damit beherrschten, und noch viel weniger Wesen, deren Ursprung sie war. Eweligo war eines von ihnen, eines der letzten Elementarwesen, die noch verstreut in dieser Welt lebten.

    »Zögert nicht länger!«, drängte Eweligo erneut und warf einen besorgten Blick in die Gesichter ihrer Gegner.

    Balinor dachte an den Schwur, den er geleistet hatte, den magischen Anhänger nur in äußerster Not zu benutzen. War jetzt ein solcher Moment gekommen?

    »Strahlen der Sonne, Wärme des Lichts, schwingt Euch herab und nehmt mich mit!«, drangen die Worte wie von selbst über seine Lippen. Das Amulett an der Kette, die er in der Faust hoch über seinem Kopf erhoben hielt, blitzte auf. Es tauchte das Land und seine Verfolger in ein fahles, weißes Licht und explodierte dann in einem Schwall greller Helligkeit. Balinor schrie auf, als ihn das Licht und die Hitze einschlossen und verzehrten.

    Als er wieder zu sich kam, glaubte er blind zu sein, denn um ihn herum herrschte Finsternis. Der König lag im weichen, feuchten Gras einer Wiese und blinzelte heftig. Dann sah er den grauen Schimmer des Himmels und die funkelnden Sterne über sich und wußte, daß seine Blindheit lediglich die Folge des grellen Lichts zuvor war. Er schalt sich einen Narren. Neben ihm im Gras saß Eweligo und blickte seinem Herrn zitternd entgegen. Sorgsam hängte er sich das Geschmeide, das er noch immer in der Hand hielt, um den Hals und verbarg es wieder unter seinem Harnisch.

    »Was ist geschehen?«, fragte der König und blickte sich um. Die Soldaten waren verschwunden. Nichts deutete darauf hin, daß sie je da gewesen waren. Kein Blut, keine Waffen, keine Spuren in der hohen, wilden Wiese. Keine Spuren!

    Balinors Blick wandte sich mit einem erschrocken Keuchen in die Richtung, in der sein Schloß liegen sollte. Das fahle Licht der aufgehenden Morgensonne ließ es zu, umrißartig die Umgebung zu erkennen. Des Königs Augen wanderten über das mit Getreide bestellte Tal, weiter bis hin zu dem Haus auf der jenseitigen Anhöhe. Sein Schloß war nicht da. An jenem Platz erhob sich nun ein Hof in einem Baustil, den er nie zuvor gesehen hatte.

    »Wo sind wir?«, fragte er. Eweligo flog leise surrend in die Höhe.

    »In Sicherheit«, antwortete Eweligo einfach. »Rasch jetzt, mein König. Ihr seid verwundet und unser Weg ist noch weit.«

    Balinor verband seine Wunden an Arm und Schenkel notdürftig mit abgerissenen Streifen seines Umhanges. Dann erhob er sich müde und folgte dem Elementarwesen.

    Die Stunden zogen sich endlos, bis sie den Hof erreichten. Es war nun fast schon Mittag und Balinor war am Ende seiner Kräfte. Die durchwachte Nacht und seine Verletzungen hatten ihn mißmutig gestimmt, und er hatte alle Hoffnung verloren.

    »Laß mich hier, Eweligo!«, keuchte Balinor. »Ich bin am Ende!«

    »Aber mein König! Noch dürft Ihr nicht aufgeben, wir müssen noch einmal zum Schloß zurück. Habt Ihr es vergessen?«

    »Zu welchem Schloß? Ich sehe Land, aber es ist nicht mein Land. Ich sehe ein Haus, aber es ist nicht mein Schloß! Wo sind wir?«

    »Es ist schwer zu verstehen und ich würde es Euch gerne genauer erklären, aber wir haben jetzt keine Zeit«, sagte Eweligo leise. »Nur so viel, mein König. Dies ist eine andere Welt!«

    »Wenn dem so ist, was soll ich dann hier, Freund?«

    »Wir müssen zu dem Stall des Hauses. Dort befindet sich das Tor zurück in Eure Welt, direkt in den Stall Eures Schlosses!«, erklärte Eweligo.

    »Dann geh alleine, ich bin erschöpft«, flüsterte Balinor müde.

    »Mein Herr! In wenigen Tagen wird Euer Freund und Waffenmeister Gewolt aus dem Norden zurückkehren und mit ihm seine Mannen, die für Eure Krone an der Grenze kämpften. Sie werden das Schloß zurückerobern und den Frieden wiederherstellen. Aber vorher müßt Ihr zurückkehren, um die geheime Stätte Eurer Ahnen zu schützen.«

    »Aber ich werde sterben, Eweligo! Hier und jetzt. Ich werde nicht mehr die Gelegenheit haben, meinen Fehler rückgängig zu machen«, widersprach der König erschöpft.

    »Alles ist ruhig«, fuhr das Elementarwesen fort, ohne den Einwand des Königs zu beachten. »Vielleicht sitzen die Bewohner beim Mittagsmahl! Laßt es uns jetzt wagen, in den Stall zu gehen!«

    »Eweligo, bemüh dich nicht. Es hat keinen Sinn mehr.«

    »Grace! Grace! Geh nicht zu weit!«, mahnte die Stimme einer Frau. Der König und Eweligo blickten erschrocken in die Richtung, aus der die Stimme kam. Sie hatten sich unweit vom Eingang des Hauses und des Stalles in einer Reihe aus Büschen versteckt. Eine junge Frau, sehr schlank und hübsch, stand in der Tür. Fremdartige Kleidung zierte ihren Körper, und ihr Haar trug sie kurz und in einer Art geschnitten, wie es Balinor noch nie zuvor gesehen hatte.

    Ihre Aufmerksamkeit galt nur kurz der Frau an der Tür. Dann wanderte diese zu der kleinen Gestalt, die sich ihnen zielstrebig näherte. Es war ein Kind, vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Blonde Locken wallten wie ein Wasserfall an ihr herab und rahmten das schmale, mit Sommersprossen bedeckte Gesicht. Auch ihre Kleidung war fremdartig und bunt.

    Sie mußte sie entdeckt haben, denn als sie die Büsche erreichte, streckte sie neugierig ihren Kopf hinein. Ohne Umschweife fragte sie mit ihrer kindlichen, unverblümten Art, was sie da tun würden. In ihrer Stimme lag keine Angst, obwohl ihr gegenüber doch ein fremder Mann hockte, dessen Kleidung in ihren Augen genau so seltsam sein mußte, wie es umgekehrt war. Doch ihre großen blauen Kinderaugen leuchteten aufgeregt und erinnerten Balinor an die Augen seines Sohnes Necom.

    »Wir spielen ein Spiel, mein Kind«, sagte Balinor sanft und lächelte. »Wir verstecken uns!«

    »Oh, darf ich mitspielen? Ich zeige dir auch die besten Verstecke«, sprudelte es aus ihr heraus. Im selben Moment sah sie Eweligo und ihre Augen weiteten sich vor Staunen.

    »Oh, wer bist du denn?« Sie kroch auch unter den Busch und drückte neugierig ihren Zeigefinger auf Eweligos Bauch. »So ein komisches Tier wie dich habe ich noch nie gesehen!«

    »Nun ja, eigentlich bin ich auch kein Tier!«, schnaubte Eweligo entrüstet. Balinor grinste breit. »Laßt uns weiter gehen, Herr! Es ist gefährlich, sich mit den Einwohnern dieser Welt abzugeben«, sagte Eweligo zu Balinor.

    »Sie sieht auch sehr gefährlich aus, mein Freund.« Balinor grinste wieder, doch dann nickte er ernst. »Möglicherweise hast du Recht, aber ich kann nicht mehr, sieh es endlich ein. Mein Arm ist völlig taub, meine Kehle brennt vor Durst und ich bin durch all die Entbehrungen der letzten Tage geschwächt.«

    »Soll ich dir eine Limonade bringen?«, fragte das Mädchen. Balinor blickte sie verwirrt an. »Wir können danach noch etwas spielen.« Bevor es die beiden Reisenden verhindern konnten, krabbelte sie unter dem Busch hervor und rannte davon.

    »Na bitte. Jetzt wird sie uns verraten und ehe wir wissen, wie uns geschieht, werden wir Gefangene ihres Königs sein!«

    Doch Balinor war schon zu schwach, um sich darüber noch zu sorgen. Die Sonne am Himmel strahlte umbarmherzig herab und die Hitze des Tages ließ den König immer weiter ermüden. Es vergingen aber nur wenige Minuten, dann kam das Mädchen wieder. Sie trug einen roten Becher in ihren Händen, aus dem ständig etwas über den Rand schwappte. Grace kroch wieder zu ihnen herein und reichte Balinor das sonderbare Gefäß, das weder aus Holz, Metall noch Steingut war. Vorsichtig trank er einen Schluck. Das Wasser schmeckte süß, prickelte angenehm auf der Zunge und hatte einen sonderbaren Geschmack. Balinor wurde augenblicklich noch durstiger und leerte den halbvollen Becher in einem gierigen Zug.

    »Meine Ma macht die beste Limonade! Möchtest du noch mehr?«

    »Nein, es ist gut mein Kind. Ich danke dir. Leider können wir nicht länger bleiben. Kennst du einen Weg, auf dem wir ungesehen in den Stall kommen?«

    »Aber natürlich«, sagte sie und wollte schon wieder loskrabbeln, aber Balinor hielt sie sanft zurück.

    »Nein, Grace. Sag uns, wie wir gehen sollen. Begleiten darfst du uns aber nicht.«

    Grace blickte ihn enttäuscht an. »Du hast gesagt, wir würden miteinander spielen«, begehrte sie trotzig auf und zog eine Schnute.

    »Genau wie Euer Sohn!«, bemerkte Eweligo.

    Balinor grinste wieder. »Du hast recht! Necom ist ebenso trotzig und aufgeweckt.« Grace blickte ihn aus großen Augen an. »Ich habe einen Knaben in deinem Alter, den ich sehr vermisse«, erklärte er.

    »Gehst du jetzt, um Nerom zu sehen?«

    »Necom!«, verbesserte er in tadelndem Ton. »Nein, mein Schatz, es werden viele Jahre vergehen und er wird ein Mann sein, bis wir uns das nächste Mal begegnen.« Der König lächelte wehmütig. »Es sei denn, du würdest uns jetzt von dem Weg erzählen.«

    Grace nickte eifrig. Mit kurzen, kindlichen Sätzen beschrieb sie ihm, wie sie ungesehen zum Stall kommen könnten. Eweligo nickte dem König zu und dieser wußte auch ohne Worte, daß Eweligo den Weg zuerst prüfen würde. Das Elementarwesen verwandelte sich in eine schwarze Katze und huschte davon. Grace blickte ihr mit großen Augen sprachlos und staunend nach.

    »Ich wäre sehr traurig, wenn ich meinen Papa so lange nicht mehr sehen würde«, sagte sie dann mitfühlend. »Aber jetzt wirst du ja heimgehen und ihn wiedersehen!«, fügte sie voller Freude hinzu. Sie nahm den Becher und wollte schon zurück ins Haus gehen, als sie sich noch einmal umdrehte und den Reisenden ansah. »Nur weiß ich nicht, was unser Stall damit zu tun hat!« Der König blieb Grace diese Antwort schuldig.

    Mit einem lauten Krachen flogen die Zwillingstüren des Stalles auf. Ein halbes Dutzend Männer in schwarzen Harnischen und mit gezückten Schwertern, stürmten aus dem Stall heraus und formierten sich neu. Verwirrt und suchend sahen sie sich um.

    »Sie haben uns gefunden!«, keuchte Balinor entsetzt. Seine Gedanken überschlugen sich vor Schrecken. Nur mit Mühe konnte er sich beruhigen, um wieder klar denken zu können. Dann reagierte er fast instinktiv. Sie hatten verloren. Seine Rückkehr zum Schloß war gescheitert. Das, wozu er aufgebrochen war und seine Frau und sein Kind verlassen hatte, würde er nicht mehr tun können. Jetzt konnte er nur noch versuchen, den Schaden so gering wie möglich zu halten. Eweligo war noch nicht wieder zurück und entzog sich seinen Blicken. Nur das Kind war noch da, von all den Geschehnissen verwirrt und überrascht. Es gab nur diese eine Möglichkeit. Der König riß sich die Kette vom Hals, dann drückte er sie Grace in die Hand und hielt das Kind fest. »Verstecke dies! Diese Kette ist sehr wertvoll, mein kostbarster Besitz! Niemand darf wissen, daß du sie hast. Bewahre sie für mich und meinen Sohn gut auf«, sprach er eindringlich auf das Mädchen ein. Grace nickte. »Jetzt lauf ins Haus, mein Kind. Sieh dich nicht um! Bleib nicht stehen! Rasch, Grace!« Er ließ sie los und gab ihr einen Klaps.

    Grace rannte los und wurde sofort von den Soldaten bemerkt. Sie verschwand aber kaum darauf wieder aus ihrem Blickfeld, als sie die Seite des Hauses erreichte und um eine Ecke lief. Zuerst schienen die Soldaten nicht zu wissen was sie tun sollten, denn schließlich stellte das Kind keinerlei Bedrohung dar und war auch nicht ihre Beute. Doch dann beschlossen sie nachzusehen, was das Kind dort überhaupt gemacht hatte. Inzwischen hatte sich der König mühsam hochgestemmt und humpelte geduckt auf das Feld zu, von dem er zuvor mit Eweligo gekommen war. Er hörte, wie sich die Soldaten näherten. Da er nicht ausschließen konnte, daß die Soldaten dem Kind folgen würden, gab er seine Deckung auf. Als die Schergen König Kalidors ihre Beute fliehen sahen, nahmen sie die Verfolgung auf.

    Eweligo, noch immer in der Gestalt der Katze, eilte hinter Balinor und seinen Jägern her. Doch er schaffte es nicht, den König vor den Verfolgern zu erreichen und ihm erneut zu raten, das Amulett zu benutzen. Hilflos beobachtete er, wie sie den erschöpften König einholten. Er schrie eine Warnung, aber seine Kehle brachte nur ein klägliches Miauen hervor. Die Jäger hoben ihre Schwerter und erschlugen den König ohne zu zögern. Eweligos Augen weiteten sich entsetzt und er prallte schockiert von dem Anblick zurück. Der kaltblütige Mord an seinem unbewaffneten König ließ den Gestaltenwandler erstarren.

    Unweit seiner zitternden Gestalt kamen die Krieger vorbei. Zwei Männer trugen den Leichnam mit sich. Der Kopf des Königs schaute in seine Richtung und Eweligo stockte das Herz, als die offenen, gebrochenen Augen ihm entgegenstarrten. Dann waren sie vorbei, verschwanden wieder im Stall und Augenblicke später verstummten auch ihre Geräusche.

    Eweligo wimmerte. Er hätte geweint, hätte er es gekonnt, doch dazu war der Gestaltenwandler nicht in der Lage. Minuten, die sich wie Stunden dahinzogen, verstrichen. Erst dann erwachte er wieder aus seiner Starre, verwandelte sich in eine Taube und floh.

    Grace

    Die kleine Grace hatte den Mann in dem Busch nie mehr gesehen, aber das merkwürdige geflügelte Wesen war einige Wochen später zurückgekehrt. Unbemerkt hatte sie es beobachtet und verfolgt, als es suchend die Stellen abgeflogen hatte, an denen es mit dem Mann gewesen war. Das Mädchen war sich unsicher, was es tun sollte, aber irgendwann platzte es fast vor Neugierde und verließ sein Versteck, um das Wesen anzusprechen.

    »Hallo«, sagte sie leise, und das Wesen drehte sich zu ihr um und lächelte ihr freundlich entgegen.

    »Hallo, Grace! Ich hatte schon befürchtet, du wolltest dich die ganze Zeit versteckt halten«, sagte es freundlich. Das Mädchen lächelte verlegen.

    »Woher kennst du meinen Namen?«, fragte sie überrascht.

    »Ich habe gehört, wie deine Mutter dich so nannte. Es ist ein sehr schöner Name.«

    »Ja, danke!« Sie machte eine Pause, tippelte verlegen mit ihren Beinen und fragte ihn dann, »Und wie ist dein Name?«

    »Ich bin Eweligo«, antwortete das Wesen und begann weiter zu suchen, was auch immer es zu finden hoffte.

    »Suchst du etwas?«, wollte das Mädchen wissen.

    »Ja, eine Kette. Ich fürchte, daß mein Herr sie verloren hat!«

    »Oh«, sagte das Mädchen und kaute auf der Unterlippe. »Wird er kommen, um sie zu suchen?«

    »Nein, meine Liebe.« Eweligo schüttelte traurig den Kopf. »Er wird nie mehr bei uns sein können.«

    »Warum nicht?«, hakte sie nach.

    Verzweifelt versuchte Eweligo, eine passende Umschreibung für den Zustand des Todes zu finden, als das kleine Mädchen fortfuhr, »Oh, meinst du, er ist in den Himmel gegangen?«

    »Wenn man das bei euch so nennt, ja.«

    »Hm«, machte das Mädchen nachdenklich. »Das tut mir leid für Necom! Wird der denn kommen?«

    »Nein, meine Liebe!« Auch diesmal schüttelte das Wesen den Kopf. »Das ist zu gefährlich! Er muß an einem Platz bleiben, an dem es sicher für ihn ist.«

    »Aber dann kann ich vielleicht zu ihm«, schlußfolgerte das Mädchen. Eweligo nickte überrascht.

    »Das könntest du sicherlich. Aber zum einen ist die Reise für jemanden wie dich zu weit und gefährlich, zum anderen frage ich mich, was du so dringend von ihm möchtest?«

    »Oh, nichts!« Sie blickte unschuldig. »Ich dachte mir nur, vielleicht hat er Lust mit mir zu spielen, weil ich hier doch ganz alleine bin«, vertraute sie ihm ihre Einsamkeit an. Eweligo legte den Kopf schräg und musterte das Mädchen. Sie war sehr hübsch und unter dem blonden Schopf lag ein über und über mit Sommersprossen besprenkeltes Gesicht, das nicht lügen konnte.

    »Warum bist du hier denn ganz alleine?«, wollte er wissen und landete auf dem Boden. Sie setzte sich zu ihm in die Wiese und zuckte mit den Schultern.

    »Ich bin alleine, ich habe keine Geschwister und es kommen nur selten Fremde her.«

    »Haben denn deine Eltern keine Zeit für dich?«

    »Mein Vater verbringt fast nie Zeit mit mir, er ist sehr beschäftigt. Mama ist auch beschäftigt, aber sie spielt manchmal mit mir, und abends liest sie mir Geschichten vor. Aber sie ist nicht gerne draußen, weil sie nicht schmutzig werden möchte.« Grace nickte bekräftigend. »Sie mag es auch nicht, wenn ich mich dreckig mache, aber das ist mir egal!« Ein verschmitztes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht.

    »Das sieht man«, bestätigte Eweligo grinsend und betrachtete die Erd- und Grasflecken auf ihrem hellblauen Kleidchen. Kleine Zweige steckten in der goldenen Haarpracht und Grace’ rechte Wange war mit feuchter Erde beschmiert. »Du hast dir ja viel Mühe gegeben, damit ich dich nicht sehe. Eigentlich ist das eine kleine Belohnung wert, zumal ich hier fertig bin und zurück sollte.«

    »Zurück?«, fragte Grace. Eweligo lächelte und erhob sich in die Lüfte.

    »Ja, das wirst du gleich sehen. Komm mit!«, forderte er sie auf und flog Richtung Herrenhaus. Grace sprang auf und folgte ihm. Das seltsame geflügelte Wesen schwirrte zum Stall, spähte durch den Spalt der geöffneten Doppelflügel und summte ins Innere. Grace, leicht außer Atem, weil sie nicht so schnell konnte, folgte ihm ohne zu zögern. Der Gestaltenwandler wartete am anderen Ende des Stalls auf sie. Als das kleine Mädchen hineinkam, spitzten die zwei Dutzend Pferde die Ohren und eines scharrte aufgeregt mit dem Vorderhuf. Aber Grace achtete nicht darauf.

    »Und was jetzt?«, fragte sie Eweligo, als sie ihn erreicht hatte. Er flog zu ihr herab und streckte ihr seine Hand entgegen.

    »Siehst du den Ring?« Grace blickte auf den Goldring und nickte. Eweligo fuhr fort. »Es ist ein Weltenring. Mit ihm kannst du durch ein Weltentor aus deiner Welt in andere Welten reisen.«

    »Es gibt keine anderen Welten!« Grace schüttelte den Kopf, beleidigt über den Unsinn, den Eweligo ihr erzählte.

    »Gibt es nicht?«, fragte er grinsend. »Dann gib gut acht!« Das kleine Wesen packte Grace an der Hand und zog sie mit unerwarteter Kraft vorwärts. Grace folgte ihm stolpernd, und gerade als sie glaubte, gegen die Holzwand des Stalles zu stoßen, verschwanden für einen Wimpernschlag alle Bilder vor ihr. Als sie wieder etwas sah, eröffnete sich vor ihr ein ihr vollkommen unbekannter Stall.

    »Wo sind wir?«, fragte das Mädchen verblüfft und schaute sich staunend um. Der Stall lag innerhalb eines Gebäudes, denn die Wand war nicht verputzt, sondern bestand aus grauen, ungleich großen rechteckigen Steinen. Die Decke war in der Mitte nach oben gewölbt und an ihrem höchsten Punkt fast fünf Meter hoch. Grace Augen wurden kugelrund vor Staunen, als sie die Pferde sah. Es waren sicher mehrere Dutzend, die hier eng gepfercht beieinander standen. Sie sah große und kleine Pferde in verschiedenen Farben. Es waren auch Pferde dabei, die wie jene aussahen, die sie aus dem Stall ihres Vaters kannte. Dann wiederum entdeckte sie wahre Giganten von Pferden, die groß und massig waren. Solche hatte sie noch nie gesehen.

    »Oooh!«, bewunderte sie die Menge und Vielfalt, die sie hier sah.

    »Komm!« Eweligo winkte ihr zu und sie folgte ihm. Helles Tageslicht füllte den Torbogen vor ihnen.

    Zwei Stalljungen drehten sich zu ihnen um und betrachteten das seltsame Paar.

    »Wen hat Eweligo da bei sich? Er ist doch alleine durch das Weltentor gegangen?« Der zweite Stalljunge zuckte mit den Schultern.

    »Hast du Angst vor einem Mädchen?« Er grinste seinen Freund an. Dieser verdrehte die Augen und machte sich wieder an seine Arbeit. »Eweligo wird wissen, was er tut. Er gehört dem Rat an. Du solltest dir darüber nicht den Kopf zerbrechen. Das sind Angelegenheiten, die uns nicht zu kümmern haben«, schloß er das Gespräch ab und wendete sich wieder seinen Aufgaben zu.

    Grace hingegen hatte die beiden Jungen nicht einmal wahrgenommen. Ihr Blick hing wie gebannt an dem Licht.

    »Willkommen in Tybay!«, sang Eweligos Stimme überschwemmend an Gefühlen, als er mit ihr aus dem Schatten der Stallungen trat. Grace mußte blinzeln, um sich an das gleißende Sonnenlicht zu gewöhnen, und ihre Augen tränten ungewollt. Dann erkannte sie Umrisse und Konturen. Vor ihr öffnete sich ein Platz, von dem aus nach beiden Seiten breite Wege abgingen. Als sie weiter geradeaus blickte, konnte sie die Spitzen von Häusern und Türmen erkennen. Sie rannte vor, nutzte ihren Schwung und hüpfte auf die Begrenzungsmauer. Sie war noch sehr klein und hätte nur mit Mühe darüber sehen können, doch hier oben auf der Mauer war die Aussicht viel besser. Unter ihr ging es einige Meter hinab und darunter sah sie ein Dach aus Holz und Stein. Und als sie ihren Blick weiter schweifen ließ, sah sie, daß es nicht das einzige Haus war. Der Hang der Berges, auf dem sie sich befanden, war voller Häuser, wenn auch viele der Dächer fehlten oder schadhaft waren und den Blick in ein zerstörtes Inneres freigaben. Dazwischen schlängelten sich Wege, und hier und da sah sie Menschen in einfachen Leinengewändern in Gassen oder auf Plätzen.

    »Warum sind so viele von den Häusern kaputt?«, fragte sie. Eweligo seufzte.

    »Weil wir im Krieg sind«, erklärte er. »Ein Heer feindlicher Soldaten hat in der Stadt geplündert und Feuer gelegt.« Eweligo seufzte erneut. »Zum Glück waren sie nicht sehr gut organisiert, sonst wäre es nicht so leicht gewesen, die Feuer zu löschen. In einer Stadt sind die Häuser oft dicht beieinander gebaut und teilweise ganz aus Holz. Wenn sich das Feuer einmal darin festgebissen hat, ist es oft unmöglich, es zu löschen.«

    »Oh«, sagte sie wieder, weil sie nicht genau wußte, was sie sagen sollte. Ihre Augen wanderten weiter bis zum Fuße des Berges. Dahinter konnte sie sehr weit ins Innere des Landes sehen, weil es dort sehr flach war. Rechts von ihr waren weitere Ausläufer des Berges, auf dem sie sich befanden. Längst nicht so hoch, aber sehr viel Wald war zu sehen. Geradeaus konnte sie fast nur Getreidefelder ausmachen, die immer wieder von Bauernhöfen, Hecken und kleine Wäldchen getrennt waren. Links sah sie weitere Felder, aber dort wurde es wieder hügeliger und es gab mehr Wald als in der Mitte des Tals. Der Ausblick war wunderschön. Der Gesang von Vögeln drang aus der Ferne herbei und sie hörte Flötenmusik. Unterschiedliche, leckere Düfte von zubereiteten Speisen zogen ihr in die Nase. Ungewollt knurrte ihr der Magen und sie senkte verlegen den Kopf.

    »Hunger?«, fragte Eweligo freundlich, aber das Mädchen schüttelte schüchtern die goldene Mähne.

    »Nein, aber es riecht lecker.«

    »Das kann man wohl sagen! Komm, im Schloß gibt es sicher etwas zu essen«, lud er sie ein und flog davon.

    Grace drehte sich im Sitzen um, und als sie von der Mauer springen wollte, blickt sie nach oben. Das Gebäude, das sich vor ihr erhob, erschien ihr so gigantisch, daß es fast den Himmel berühren könnte. Die Sonne, von der das Bauwerk bestrahlt wurde, ließ die Steine weiß und golden erscheinen, obwohl ihre wahre Farbe ein sanftes Grau war. Die Fenster waren mit Glas geschlossen. Sie fingen die Strahlen der Sonne ein, und für einen kurzen Moment gab sich Grace dem Gedanken hin, man hätte die Öffnungen mit flüssigem Gold gefüllt.

    Der Stall, aus dem Grace gekommen war, bildete das unterste Gemäuer des Schlosses. Grace

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