Wie Politik von Bürgern lernen kann: Potenziale politikbezogener Gesellschaftsberatung
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Mit den konzeptionellen Arbeiten im Rahmen des Projekts "Politik gemeinsam gestalten" möchte die Bertelsmann Stiftung einen Beitrag dazu leisten, den vielversprechenden Ansatz der Gesellschaftsberatung praxisorientiert weiterzuentwickeln. Im vorliegenden Band diskutieren deshalb neben Experten aus Wissenschaft, Politik und Beratung auch "einfache" Bürger die Voraussetzungen, Chancen und Grenzen von politikbezogener Gesellschaftsberatung. Im Vordergrund steht dabei die Frage, wie durch neue Beteiligungsformen und -formate sowohl die Legitimation als auch die Ergebnisqualität politischer Entscheidungen gesteigert werden können.
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Wie Politik von Bürgern lernen kann - Verlag Bertelsmann Stiftung
Autoren
Politik braucht Gesellschaft – der Bürger als politischer Berater
Stefan Collet, Christina Tillmann, Dominic Schwickert
Politik braucht Beratung und guter Rat ist teuer. Politikberatung ist daher längst zum boomenden und lukrativen Geschäft in Deutschland geworden. Gleichzeitig jedoch befindet sich Politik wie Politikberatung in der Vertrauenskrise: Fehlende Transparenz und mangelnde Ergebnisqualität politischer Entscheidungen führen zu Akzeptanzverlusten aufseiten der Bürger – unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten keine unproblematische Entwicklung. Zur Verringerung dieser Defizite kann die politikbezogene Gesellschaftsberatung eine sinnvolle Ergänzung zu klassischen Formen rein expertenbasierter Politikberatung sein. Sie rückt den »einfachen« Bürger in den Vordergrund und versucht, seine Expertise für die Politik nutzbar zu machen. Dieser Einleitungsbeitrag ist ein erster Streifzug durch das weite Feld der politikbezogenen Gesellschaftsberatung und umreißt den groben Rahmen dieses Bandes.
Politikgestaltung ist ein komplexes Unterfangen, das seinen Akteuren hohe Managementqualitäten abverlangt. Unter meist knappen zeitlichen Kapazitäten müssen politische Vorhaben formuliert und vielfältige Akteurskonstellationen und -interessen analysiert, berücksichtigt und ausgeglichen werden, ohne dass dabei anvisierte politische Ziele aus den Augen verloren werden dürfen. Schnelle Auffassungsgabe, konzeptionelle Fähigkeiten und strategisches Denken gehören daher ebenso zum Anforderungsprofil eines erfolgreichen Politikers wie geschulte politische Instinkte und ein Gespür für die vorhandenen Kräfteverhältnisse. Gleichzeitig wird in einer modernen Demokratie erwartet, dass sich die Politik bürgernah präsentiert und ein offenes Ohr für die Sorgen und Belange der Bevölkerung hat – wie die Auseinandersetzung um das umstrittene Großprojekt Stuttgart 21 sehr deutlich zeigt. Ausgeprägte Kommunikations- und Moderationsfertigkeiten stellen deshalb Kernkompetenzen eines Politikers dar, der sich bei der Politikgestaltung mit zunehmender Komplexität konfrontiert sieht.
So üben die geänderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einen wachsenden Druck auf politische Entscheidungsträger aus: Der Wandel sozialer Normen, die Fragmentierung der Gesellschaft in einzelne Subsysteme, neue Technologien sowie grenzüberschreitende Herausforderungen wie globale ökonomische und ökologische Krisen, die europäische Integration oder der demographische Wandel engen die politischen Handlungsspielräume immer mehr ein. Gleichzeitig nehmen die Interdependenzen von Problemstellungen und die Zahl der für die politische Problemlösungsfindung relevanten Akteure in einer vielfach vernetzten, pluralistischen Welt kontinuierlich zu.
Schließlich wird der politische Raum durch die oft monierte »Medialisierung der Politik« mehr denn je von Print, Funk, Fernsehen und Internet durchdrungen. Wir erleben, dass die Massenmedien häufig selbst als politische Akteure agieren, Einfluss nehmen und die Politik enorm unter Druck setzen können (jüngstes Beispiel ist das mediale Trommelfeuer zur Migrationsdebatte um das Buch »Deutschland schafft sich ab« von Thilo Sarrazin). Der Politik bleibt in diesem hektischen Umfeld aus täglich mehrkanaliger Berichterstattung oft nur eine reaktive Rolle, in der sie medialen Skandalisierungsversuchen begegnen oder sich im konkurrenzintensiven massenmedialen Aufmerksamkeitsmarkt selbst in Szene setzen muss (vgl. Sarcinelli 2008 und 2009).
»Beraterrepublik« Deutschland
In diesem Geflecht aus Unsicherheit, Problemlösungserwartungen und Mediendruck ist die Politik zunehmend auf expertenbasiertes Orientierungswissen angewiesen. Die Ministerialbürokratie kann diese Orientierung angesichts weitreichender Ressourcenengpässe allein nicht (mehr) leisten (vgl. Schwickert 2010). In praktisch jedem Bereich bietet daher mittlerweile eine zunehmend professionalisierte Politikberatungsbranche ihre Dienste an und verspricht dem politischen Führungspersonal einen Überblick über Handlungsoptionen in allen relevanten inhaltlichen, kommunikativen und strategischen Fragen – ob in einem spezifischen Politikfeld, bei der internetbasierten bzw. analogen Politikvermittlung oder im Change Management der eigenen Organisation. Die Auftragnehmer sind keineswegs ausschließlich im universitären Spektrum und in akademischen Thinktanks zu finden. Vielmehr ist seit den frühen 90er Jahren ein dynamischer und wachsender Politikberatungsmarkt entstanden, der größtenteils nicht- bzw. semiwissenschaftliche Einrichtungen wie Stiftungen, kommerzielle Forschungsinstitute, Lobbyverbände sowie PR-Agenturen umfasst (vgl. Siefken 2007; Kloten 2006).
Die Politik bedient sich dieser wissenschaftlichen und kommerziellen Beratungsangebote immer häufiger, was auch Kritiker auf den Plan rief: So hat die wissenschaftliche Politikberatung beispielsweise durch die zunehmende Zahl von Regierungskommissionen seit den »rot-grünen« Regierungsjahren nicht nur an Salonfähigkeit gewonnen, sondern sich zugleich den Ruf einer unzureichend legitimierten Entscheidungsverlagerung in exklusive Expertenzirkel eingehandelt. Auch die Nachfrage nach kommerzieller Politikberatung ist in den letzten Jahren, besonders seit dem Regierungsumzug von Bonn nach Berlin, enorm gestiegen. Dies zeigt nicht zuletzt der starke Zuwachs an Kommunikationsagenturen, Meinungsforschungsinstituten und persönlichen Medienberatern in der Hauptstadt (vgl. Falk et al. 2006), auf den einige Publizisten die zunehmende Inszenierung, Dramaturgisierung und »Eventisierung« des Politischen auf Kosten von Inhalt und Langfristigkeit zurückführen.
Auch die Einbindung von Unternehmensberatungen und Anwaltskanzleien in der Politikformulierungsphase (im Jahr 2009 z. B. die Erarbeitung eines finanzpolitischen Gesetzesentwurfs durch die private Anwaltskanzlei Linklaters) wurde in der öffentlichen Debatte immer wieder als »Kommerzialisierung politischer Kernbereiche« und »Steuerverschwendung« angeprangert. Als Folge dieses boomenden und lukrativen Beratungsgeschäfts ist vielerorts pejorativ von der »Beraterrepublik« die Rede, die nicht zwangsläufig mit einer »gut beratenen Republik« gleichzusetzen ist (vgl. Novy, Schwickert und Fischer 2008).
Beratungsmonopol der Experten?
Beiden nicht immer trennscharf abzugrenzenden Formen – der wissenschaftlichen und der kommerziellen Politikberatung – ist ein grundsätzliches Defizit inhärent: In der Regel verläuft diese klassische Form der Politikberatung horizontal zwischen Experten und politischen Spitzenakteuren. Dass der Rückbindungsgrad zum Bürger dabei meist gering ausfällt, stellt die Legitimität im Kontext politischer Entscheidungen unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten zumindest infrage. Ob es sich um Expertenkommissionen (z. B. Rürup oder Hartz), institutionalisierte Beratungsgremien wie den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung oder um kommerzielle Regierungsberatung (z. B. Roland Berger und die Opel-Sanierung 2009) handelt: Die einflussreichen Beratereliten stellen keine vom Volk gewählten Repräsentanten dar. Dennoch reicht ihr Einfluss oft so weit, dass der Vorwurf des »Politik-Outsourcing« in den vor- bzw. außerparlamentarischen Raum nicht ganz ungerechtfertigt erscheint.
Dem Parlament als eigentlichem konstitutionellen Diskussions-und Entscheidungsorgan wird in diesem Politikgeflecht oft nur eine symbolische Rolle zuteil. Und dies hat auch Auswirkungen auf die Wahrnehmung politischer Entscheidungsprozesse in der Bevölkerung: Da die Grenzen zwischen wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Politikberatung in der öffentlichen Wahrnehmung zusehends erodieren, werden politische Entscheidungs(findungs)prozesse vom Gros der Bevölkerung häufig als nicht transparent wahrgenommen. Den hohen Begründungs- und Rechenschaftsanforderungen demokratischer Herrschaftsausübung gegenüber der Öffentlichkeit wird dies bisweilen nicht gerecht. Eine Folge der starren Einteilung in »Bühne und Zuschauerraum« bzw. »Politik-Protagonisten« und »Bürger-Zuhörern« sind weitreichende Vertrauensverluste in das demokratische System (vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung 2008), die sich mittel-und langfristig kein demokratischer Staat leisten kann und sollte.
Vor diesem Hintergrund kann sich Politik nicht mehr nur auf privilegiertes und nicht selten interessengeleitetes Expertenwissen stützen. Dies gilt umso mehr in einer modernen Gesellschaft, in der Wissen eine der zentralen strategischen Schlüsselressourcen darstellt (vgl. Saiger und Schulz 2001). Problemlösungsrelevantes Wissen ist schließlich nicht mehr nur auf einen exklusiven Gelehrtenzirkel beschränkt, sondern verteilt sich breit gestreut auf viele gesellschaftliche Akteure und Gruppen. Das heißt auch: Das Beratungsmonopol von Wissenschaftlern und Fachexperten löst sich in einer komplexen Gesellschaft voller potenzieller Wissensträger und Problemlöser zunehmend auf.
Durch den kommunikationstechnologischen Quantensprung, der mit der zivilen Nutzung des Internets in den 90er Jahren möglich wurde, hat sich die Wissensproduktion und -verteilung noch einmal zusätzlich ausgedehnt (vgl. Dowe 2009). Vor allem im Internet, aber auch auf anderen Medienkanälen werden täglich Unmengen von Informationen – und damit letztlich politikrelevantes Wissen – generiert. Folge dieser informationellen Massenproduktion sind das erhöhte Angebot und der erleichterte Zugang zu wertvoller Expertise. Zahlreiche gesellschaftliche Akteure (Verbände, Lobbyisten, Agenturen, NGOs, Vereine bis hin zum einzelnen Bürger) treten dadurch als neue Sachverständige in bestimmten Politikfeldern in Erscheinung und pluralisieren Expertise auf diese Weise (vgl. Leggewie 2007) – nicht immer, aber oft zum Nutzen der Allgemeinheit. Welche Implikationen ergeben sich aus der Herausbildung einer Wissensgesellschaft für die politischen Beratungsstrukturen?
Der Bürger als Experte und die Weisheit der Vielen
Zunächst muss konstatiert werden, dass es nicht (mehr) nur einige ausgewählte und exklusive wissenschaftliche Gutachten gibt, die den Weg zu der Lösung eines gesellschaftspolitischen Problems aufzeigen. Es existieren vielmehr zahlreiche Lösungsansätze, und Wissen ist demnach immer dezentralisierter vorhanden, wodurch Beratung »gesellschaftlicher« (vgl. Martinsen 2006) wird: Unter Herstellung einer kritischen Diskursöffentlichkeit legitimiert und rationalisiert Gesellschaft politische Beratungs- bzw. Entscheidungsfindungsprozesse (vgl. Habermas 1992). Letztlich geht es dabei also auch um die Steigerung der Ergebnisqualität sowie eine höhere Output-Legitimation politischer Entscheidungen. Damit einhergehend kristallisiert sich eine Verschiebung innerhalb der habermasschen Politikberatungstrias aus dezisionistischem, technokratischem und pragmatischem Modell (vgl. Habermas 1964) zugunsten des pragmatischen Ansatzes heraus: Die klare Trennung zwischen zurückhaltendem, informierendem Berater und wertendem, entscheidendem Politiker verblasst und die Beziehung zeichnet sich nunmehr durch größere Reziprozität aus. Beide Sphären interagieren stärker miteinander und stehen in engem kommunikativem Austausch, sodass »beide Seiten voneinander lernen und sich gegenseitig belehren« (Lompe 2006) können.
In dieses geöffnete Interaktionsfeld tritt nun zusätzlich der Bürger als Experte seiner eigenen Lebensumwelt und Träger von wertvollem Erfahrungswissen, um Politik bei der Beantwortung gesellschaftspolitischer Fragen aktiv zu unterstützen. Richtungweisend war in diesem Kontext der von James Surowiecki vertretene Ansatz der »Weisheit der Vielen«. Der US-amerikanische Autor zeigt anhand verschiedener Experimente und Fallbeispiele, dass große Laiengruppen durchaus imstande sind, schwierige analytische Aufgaben zu meistern – und diese Aufgaben oft sogar besser bewältigen als ausgewiesene Experten (vgl. Surowiecki 2004).
Statt des horizontalen Beratungsmusters der klassischen Politikberatung kristallisiert sich hier eine vertikale Alternative heraus, bei der Bürger – in der Regel mit Unterstützung von Beteiligungsexperten und unter gezielter Abschöpfung von spezialisiertem Expertenwissen in Sachfragen – die Politik erfolgreich beraten. Wir sprechen bei dieser Beratungsform dann von politikbezogener Gesellschaftsberatung. Gemeint ist damit die Ausschöpfung der Weisheit der Vielen bei der Benennung und Definition von politischen Herausforderungen sowie der Suche nach Lösungsoptionen und der Formulierung geeigneter Maßnahmen. Der Bürger wird hier zum Experten und Berater der Politik.
Politikbezogene Gesellschaftsberatung: Wer, wie und auf welcher Grundlage?
Bei einem groben Eingrenzungsversuch des Mitte der 90er Jahre erstmals verwendeten Begriffs »Gesellschaftsberatung« (vgl. Mayntz 1994) ergeben sich zunächst einmal Definitionsprobleme. Lassen sich in der klassischen Politikberatung die beteiligten Akteure – Wissenschaftler und Kommunikationsexperten als Sender und Politik(er) als Empfänger von Beratung – schnell benennen, ist die beratende Gesellschaft als Abstraktum schwer zu fassen. Und bereits der Gedanke, dass Gesellschaft und Politik nicht einfach als Gegenpole aufzufassen sind, sondern Politik vielmehr ein Teilsegment von Gesellschaft darstellt und im staatlich-systemischen Sinne zugleich als ihre »Außenhaut« wirkt, lässt das Beziehungsverhältnis ungleich verflochtener und vielschichtiger erscheinen. Zunächst muss daher geklärt werden: Welche Akteure umfasst der Begriff »Gesellschaft«? Wer berät bei der Gesellschaftsberatung wen, wer ist Empfänger, Sender, Nachfrager und Initiator der Beratungsleistung? Welche Rollen spielen Experten in Gesellschaftsberatungsprozessen und welcher Expertenbegriff kann diesem Beratungsansatz zugrunde gelegt werden? Und schließlich: Bleibt die Entscheidungskompetenz bei den politisch Verantwortlichen?
Henrik Schober und Andrea Römmele suchen in ihrem Beitrag »Grundverständnis und Potenziale politikbezogener Gesellschaftsberatung« zu Beginn des Bandes Antworten auf diese Fragen. Sie unternehmen dabei den Versuch, den Begriff Gesellschaftsberatung zu schärfen, seinen theoretischen Hintergrund auszuleuchten und ihn konzeptionell gegenüber Formen der klassischen Politikberatung abzugrenzen. Zu diesem Zweck entwerfen sie ein Orientierungsraster, anhand dessen Gesellschaftsberatung in unterschiedliche Typen eingeteilt werden kann. Diese Kategorisierung gibt Aufschluss über die verschiedenen Sender-Empfänger-Konstellationen. Im Fokus der Betrachtung liegt dabei die politikbezogene Gesellschaftsberatung, für die sie einen grundlegenden Arbeitsbegriff definieren, an dem sich auch die nachfolgenden Analysen, Einschätzungen und Diskussionsbeiträge orientieren.
Als demokratietheoretische Hintergrundfolie von politikbezogener Gesellschaftsberatung dient das Konzept der deliberativen Demokratie: Deliberative Ansätze zielen darauf ab, sogenanntes Herrschaftswissen zu nivellieren, politische Mitsprache-Ansprüche der Bevölkerung über Diskurse zu organisieren und darüber die politische Entscheidungsfindung im responsiven Austausch zwischen Bürger und Politik herbeizuführen (vgl. Leggewie 2007). Dem deliberativen Paradigma zufolge sind politische Entscheidungsprozesse immer »dilemmatisch« und in der Gesellschaft vorhandene Meinungen, Werte und Standpunkte über mögliche Handlungsziele stellen wichtige Entscheidungsfaktoren dar.
Da sich Politik nicht einfach in Schwarz-Weiß-Kategorien abbilden lässt, werden politische Entscheidungen also nicht nur auf Basis rationaler Lösungsvorschläge (wissenschaftlicher) Experten getroffen. Gefragt sind vielmehr öffentliche, professionell organisierte Diskurse, in denen faktische, moralische und subjektive Argumente nach dem Prinzip »Expertise-Gegenexpertise« ausgetauscht werden. Claus Leggewie spricht hier von einer sich abzeichnenden »argumentativen Wende«, bei der politische Konzepte komplett im diskursiven Austausch der Bürger über sogenannte Argumentationsketten erarbeitet werden können (vgl. Leggewie 2006 und 2007). Letztlich geht es also um eine umfassende »Demokratisierung von Expertise« (vgl. Saretzki 1997), die sich beispielhaft in konkreten Beteiligungsformaten wie Planungszellen, Konsenskonferenzen, Bürgerkonsultationen, Zukunftswerkstätten oder Mediationsverfahren realisieren lässt.
Antwort auf das schwindende Repräsentationsmandat der Parteien?
Trotz der Zweifel vieler Bürgerinnen und Bürger an der demokratischen Qualität politischer Entscheidungsprozesse wie auch an der generellen Problemlösungsfähigkeit der politischen Akteure lässt sich zugleich ein hohes Beteiligungsbedürfnis an politischen Entscheidungsfindungsprozessen verzeichnen. Dies verdeutlichen folgende Zahlen²: Im Jahr 2009 sprachen knapp 55 Prozent der Deutschen der hiesigen Demokratie ihre Funktionsfähigkeit ab und nur noch ein Fünftel der Bevölkerung hielt die politischen Parteien generell für glaubwürdig. Zudem war 2009 nur etwas mehr als ein Drittel der Bevölkerung mit der Arbeit der Spitzenpolitiker zufrieden und davon überzeugt, dass die Politik die zentralen gesellschaftspolitischen Probleme lösen kann. Gleichzeitig liegen die Zustimmungswerte der Bürger für das demokratische Verfassungssystem Deutschlands 2009 aber immer noch bei stabilen 77 Prozent. Weiter sind etwa 70 Prozent generell an politischen Themen interessiert und würden sich gern mehr im politischen Prozess einbringen.
Angesichts dieser Legitimitätsdefizite des politischen Systems und seiner Vertreter stellt sich die Frage, inwiefern die (Volks-)Parteien noch ein repräsentatives Spiegelbild der Gesellschaft abbilden – und die spezifischen Bevölkerungsinteressen noch angemessen ver-treten können. Diese Bedenken werden verstärkt durch sinkende Mitgliederzahlen – nur knapp 1,5 Prozent der Deutschen sind Ende 2009 in einer der fünf großen Parteien vertreten (vgl.Statista.com 2010) – sowie die stark abfallende Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2009 – nur 72,2 Prozent der wahlberechtigten Deutschen gingen überhaupt zur Wahlurne (vgl. Bundeswahlleiter 2009), was die niedrigste gemessene Wahlbeteiligung aller Bundestagswahlen darstellt.
Bietet politikbezogene Gesellschaftsberatung vor diesem Hintergrund in der deutschen Parteiendemokratie Möglichkeiten, dem Legitimationsdilemma adäquat zu begegnen? Oder impliziert politikbezogene Gesellschaftsberatung vielmehr einen Angriff auf das Quasi-Monopol der etablierten Parteien, bei der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung mitzuwirken? Timo Grunden und Karl-Rudolf Korte diskutieren diese Fragen in ihrem Beitrag »Gesellschaftsberatung in der Parteiendemokratie – Herausforderungen, Risiken und Potenziale«. Dabei problematisieren sie vor allem das Spannungsverhältnis zwischen der traditionellen Rolle der Parteien als kollektivem gesellschaftlichem Diskussions- und Beratungsort und dem Ansatz der politikbezogenen Gesellschaftsberatung als einem in den zivilgesellschaftlichen Raum verlagerten Prozess. Die Frage, wie Gesellschaftsberatung innerhalb der Parteiendemokratie anschlussfähig gemacht werden kann, wird dabei ebenso behandelt wie das Risiko, Bürgerkonsultationen als politische Waffe zur Durchsetzung partikularer Machtinteressen zu instrumentalisieren.
Vorweg kann bereits gesagt werden, dass politische Akteure insgesamt einer erhöhten Beteiligungsorientierung eher skeptisch gegenüberzustehen scheinen, müssen sie doch befürchten, Steuerungsspielräume bzw. die Lenkungs- und Deutungshoheit politisch relevanter Themen zu verlieren. Diese Befürchtungen können dazu führen, dass deliberative Prozesse erst gar nicht durchgeführt oder nur als »window-dressing« zu einer nachträglichen Legitimation bereits beschlossener politischer Entscheidungen genutzt werden (vgl. Lösch 2005). Erste Anhaltspunkte dafür, dass die deutschen Parteien jedoch zunehmend über neue Formen der Beteiligung jenseits der starren Mitgliederkriterien nachdenken, bietet die SPD mit ihren von 2010 bis 2011 tagenden Zukunftswerkstätten, bei denen in verschiedenen Bürgerbeteiligungsformaten Konzepte für ein zukunftsfähiges Deutschland entwickelt werden sollen. Ebenso hat sich die CSU mit ihrem bereits 2009 beschlossenen »Leitbild CSU 2010+« sowie die FDP mit ihrer im Juni 2010 initiierten breit angelegten Programmdebatte Ansätzen politikbezogener Gesellschaftsberatung geöffnet.
Auf zu neuen Ufern?
Politisches Handeln und Entscheiden ist in den letzten Jahren deutlich dialog- und beteiligungsabhängiger geworden. Für die demokratische Legitimation modernen Regierens wird es daher immer wichtiger, dass bürgerschaftliches »Wissen und Können« erkennbar Wirkung im politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess entfaltet. Die Politik muss auf diese neuen Partizipationsanforderungen, die auf die »Mitwirkung an konkreten politischen Projekten« (vgl. Novy und Schwickert 2009) abzielen, verstärkt eingehen.
Was geschehen kann, wenn sie dies nicht tut, war an der Auseinandersetzung um Stuttgart 21 abzulesen: Bürger, zivilgesellschaftliche Gruppierungen und der politische Gegner haben sich medienwirksam zu einer Protestbewegung zusammengeschlossen, um das politische Großprojekt ins Wanken zu bringen. Das im Nachhinein aufgesetzte Schlichtungsverfahren ist zweifellos begrüßenswert, aber letztlich mehr Schadensbegrenzung denn ein leuchtendes Beispiel für deliberative Politikgestaltung. Zwar wurde hier versucht, durch »Joint Fact Finding« die verhärteten Fronten einander anzunähern, was unter Leitung des Mediationsvirtuosen Heiner Geißler bis zu einem gewissen Grad gelang; doch hätte ein weitreichendes diskursives Verfahren mit den entsprechenden Anspruchsgruppen schlicht Monate vorher (und nicht nachträglich) aufgesetzt werden müssen.
Auch wenn ungewiss ist, wie die Auseinandersetzung um Stuttgart 21 enden wird – nicht zuletzt, da solche Prozesse auch stark von einer schwer zu steuernden Eigendynamik gelenkt werden – , steht bereits jetzt fest: Der Aufruhr um Stuttgart 21 hat nicht nur eine deutliche Signalwirkung für zukünftige politische Großvorhaben, sondern untermauert erneut den ernsthaften Mitgestaltungswillen der Bürger. Stuttgart 21 zeigt, dass das politische System über den Wahlakt und die Mitwirkungsmöglichkeit in Parteien hinaus system-und verfassungskonforme Beteiligungsverfahren anbieten muss, in denen sich Bürger an der Ausgestaltung ihrer Lebensumwelt beteiligen können. Das erfolgreiche Mediationsverfahren um den Frankfurter Flughafen ist hier ein instruktives Beispiel, wie Großprojekte in kollaborativer Zusammenarbeit mit Bürgern realisiert werden können (vgl. Gohl 2010).
Der Aufbau und die Förderung einer neuen »Kultur der Teilhabe« scheint in diesem Zusammenhang ein erster Schritt, um Bürgerkonsultationen im gesamten bundesdeutschen Mehrebenensystem anschlussfähig zu machen. Dabei geht es keineswegs darum, breite Beteiligungsverfahren immer und überall im politischen Prozess einzusetzen. Vielmehr muss nach verschiedenen Anwendungsgebieten differenziert und darauf geachtet werden, welche Ziele verfolgt und erreicht werden sollen. Vito Cecere beurteilt in seinem Artikel »Gesellschaftsberatung für eine bessere Politik – eine Einschätzung aus der politischen Praxis« aus praktisch-politischer Perspektive den Mehrwert einer stärkeren Bürgereinbindung in die politische Entscheidungsfindung. Er spiegelt darin eigene Erfahrungen aus seinem politischen Alltag wider und beleuchtet, was Gesellschaftsberatung aus seiner Sicht im Vergleich zur klassischen Politikberatung bewirken kann und wie sie – auch parteipolitisch – eingebunden sein sollte, um in der Politik praktische Relevanz zu entfalten.
Als eine Art Gegenpol dazu zeigen Dominik Hierlemann, Anna Wohlfarth und