In der Löwengrube: Ein Theaterstück und sein historischer Hintergrund
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Felix Mitterers Stück geht auf eine wahre Begebenheit zurück. Sie wird in einem Vorwort vom Autor selbst kurz erzählt. Außerdem enthält das Buch einige Fotos und Dokumente dazu sowie Informationen zur Situation von Theatern und Schauspielern im NS-Staat.
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Book preview
In der Löwengrube - Felix Mitterer
Felix Mitterer
In der Löwengrube
Die Herausgabe der Werksammlung wurde vom Land Tirol und von der Gemeinde Telfs gefördert.
© 2001
HAYMON verlag
Innsbruck-Wien
www.haymonverlag.at
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Aufführungsrechte für alle Stücke beim Österreichischen Bühnenverlag Kaiser & Co., Am Gestade 5/II, A-1010 Wien
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-7099-7639-5
Umschlaggestaltung:
hœretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol
Dieses Stück wurde dem Sammelband »Stücke 3«, erschienen 2001 im Haymon Verlag, entnommen. Den Sammelband »Stücke 3« erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.
INHALT
In der Löwengrube
Biographische Daten und Werkverzeichnis
IN DER LÖWENGRUBE
Im Sommer 1936 erscheint bei Max Reinhardt in Salzburg in zünftiger Tracht ein Tiroler Bergbauer namens Kaspar Brandhofer und wünscht vorsprechen zu dürfen, weil er unbedingt Schauspieler werden möchte. Amüsiert stimmt Reinhardt zu und der vollbärtige, urwüchsige Bauer spricht den Monolog des Tell vor. Daraufhin ist Reinhardt derartig begeistert von diesem Naturtalent, daß er es an das Wiener Theater in der Josefstadt weiterempfiehlt. Der dortige Direktor Ernst Lothar hat gerade die Schnitzler-Novelle „Fräulein Else" dramatisiert und ist auf der Suche nach einem Darsteller für die Figur des Voyeurs Dorsday, der das Fräulein Else nackt sehen will. Brandhofer wird nach nochmaliger Vorsprache sofort für diese Rolle engagiert. Bei den Proben gibt es viel zu lachen, da sich der unerfahrene Bauer mit den Gepflogenheiten des Theaters so gar nicht auskennt. Die Presse wird natürlich sofort von diesem ungewöhnlichen Neuzugang informiert und bald steht Brandhofer im Mittelpunkt des Interesses. Die Premiere gestaltet sich für Brandhofer zu einem Riesenerfolg. Die Kritiker jubeln dem Naturtalent zu, vor allem die verkappt nationalsozialistischen Blätter überschlagen sich vor Begeisterung. Die Nachricht über diese sensationelle Neuentdeckung dringt sogar bis zu Josef Goebbels nach Berlin.
Eines Tages besucht der Schauspieler Heinrich Schnitzler — Sohn des Dichters — die Vorstellung und teilt danach dem Regisseur Hans Thimig in großer Aufregung mit, dieser Brandhofer sei in Wirklichkeit der Schauspieler Leo Reuß mit dem er im Berliner Staatstheater die Garderobe geteilt habe. Auch einer von Brandhofers Kollegen in „Fräulein Else", Albert Bassermann, hat ihn erkannt, aber nicht verraten. Mit dem Vorwurf konfrontiert, gesteht Reuß sofort seine Identität ein, Lothar ist tödlich beleidigt (die verkappten Nazis verlangen wegen des Skandals natürlich seine sofortige Absetzung), entläßt Reuß aber (da die Vorstellungen derart gut laufen) erst im Jänner 1937. Reuß spielt dann noch unter dem Doppelnamen Brandhofer-Reuß im Theater an der Wien und emigriert Ende 1937 nach Amerika. Als Lionel Royce bekommt er in Hollywood einige kleine Filmrollen (in erster Linie Nazis) und erleidet dann anläßlich einer Truppenbetreuungstournee im Südpazifik am 2. April 1946 in Manila einen tödlichen Herzinfarkt. (Den der schon lange herzkranke Reuß übrigens bewußt herbeiführte, indem er in der tropischen Hitze so lange in seinem Hotelzimmer auf und ab marschierte, bis er zusammenbrach. Zuvor hatte er eine hohe Lebensversicherung zugunsten seiner neuen — amerikanischen — Familie abgeschlossen.)
Leo Reuß, 1891 in Dolina (Galizien) geboren, besuchte in Wien — unter anderem mit Karl Farkas — die Schauspielschule, trat dann nach einem Engagement bei der „Neuen Wiener Bühne an verschiedenen Theatern in Berlin auf, unter anderem auch im Staatlichen Schauspielhaus. Seine Frau war die berühmte Schauspielerin Agnes Straub. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde der Jude Reuß gekündigt. Er kehrte nach Wien zurück, erhielt aber dort kein Engagement. Agnes Straub holte ihn daraufhin 1934 wieder nach Deutschland und unternahm mit ihm als Partner und Regisseur ausgedehnte Theatertourneen. Beim Start einer „Hedda Gabler
-Tournee in Stettin kam es dann zu einem von der dortigen SA organisierten Skandal. Als Reuß die Bühne betrat, begann ein derartiger Krawall, daß der Vorhang fallen mußte. Da auch von prominenter politischer Seite auf Agnes Straub Druck ausgeübt wurde, sich von Reuß scheiden zu lassen, stimmte Leo Reuß dem zu, nahm die beiden Kinder mit und verschwand spurlos. Im Juli 1936 taucht er als Kaspar Brandhofer in Salzburg wieder auf...
Soweit also die authentische Geschichte. In Wiener Schauspielerkreisen wird sie seit damals immer wieder nacherzählt und ausgeschmückt und hat sich inzwischen so sehr zu einer Legende erhoben, daß manche gar nicht mehr glauben, diese in der Tat unglaubliche Geschichte sei wirklich passiert. Viele große Schauspieler träumten schon davon, Kaspar Brandhofer alias Leo Reuß auf der Bühne oder im Film darzustellen. Sogar Hollywood-Produzenten dachten (noch während des Krieges) an eine Verfilmung, kamen aber wieder davon ab, denn wie sollte auf Englisch der Sprachunterschied (Hochdeutsch/Tirolerisch) vermittelt werden, wie der Gegensatz Wiener Schauspieler/Tiroler Bergbauer?
Ich selbst kenne die Geschichte auch schon seit den 70er Jahren und ich war sofort fasziniert davon. Ein jüdischer Schauspieler, der mit seinen ureigensten Mitteln, jenen der Komödiantik, die Nazis und ihren unsinnigen, menschenverachtenden Fanatismus bloßstellt, ist natürlich prädestiniert für ein Theaterstück. Prädestiniert vor allem für eine Komödie, und wie schön und genußvoll wäre es doch, einmal einen Sieger zu zeigen, einen Sieger über die Bestien, keinen Verlierer, auch wenn Reuß letztlich natürlich verlor, verlieren mußte. Kurz vor seinem Tod notierte er: „Als ich nach der Premiere allein nach Hause ging, war der kurze Triumph bereits verblaßt. Ich fühlte nichts als unendliche Leere und tiefe Einsamkeit. ‚Wie viele Aufgaben könnte man sich für ihn vorstellen!’ schrieb die Reichspost. Und meinte Kaspar Brandhofer. Niemand fragte nach mir, nach Leo Reuß. Den Tiroler Golem ließen sie hochleben, mich aber hatten die Nazis — ohne es zu ahnen — endgültig besiegt. Ihre Gesetze waren stärker als meine List."
Wie so oft vergingen viele Jahre, bis ich mich endlich daran wagte. Denn zu messen wird das Stück natürlich sein an vielen anderen — und hervorragenden — Stücken, die listige Helden im Mittelpunkt haben, an vorderster Stelle natürlich „Der brave Soldat Schwejk und „Der Hauptmann von Köpenick
. Nicht zu vergessen der wunderbare Film „Sein oder Nichtsein" von Ernst Lubitsch, der eine ähnliche Situation im okkupierten Polen auf die Spitze treibt (und mir ganz gewiß Inspiration war beim Schreiben meines Stückes).
Natürlich wollte und konnte ich kein Dokumentarstück schreiben. Ich verließ mich einzig und allein auf die Grundgeschichte: Ein aus „rassischen Gründen entlassener Schauspieler kehrt als „Arier
ans Theater zurück. Denn selbstverständlich war es in Wahrheit der Traum des vertriebenen jüdischen Schauspielers Leo Reuß, als arisches „Tiroler Naturtalent" nach Berlin, in die Höhle des Löwen zurückzukehren und dort den Nazimachthabern ihren Rassenwahn vor Augen zu fuhren und sie zu desavouieren. Er hat nicht den Mut gehabt — wer hätte das, an seiner Stelle? — und ging nach Wien, wo ihm zu dieser Zeit nicht viel passieren konnte.
Mein Stück erfüllt den Traum von Leo Reuß. Daniel geht in die Löwengrube.
PERSONEN:
Arthur Kirsch alias Benedikt Höllrigl
Helene Schwaiger, seine Frau, Star des Theaters
Meisel, Theaterdirektor
Polacek, der „Schmierige"
Strassky, der „Brutale"
Jakschitz, der „jugendliche Held"
Olga Sternberg
Eder, Bühnenmeister
1. Gestapo-Beamter
Goebbels
Benedikt Höllrigl, der echte
Mitwirkende bei „Der Kaufmann von Venedig und „Wilhelm Tell
sowie Bühnenarbeiter, 2. Gestapo-Beamter, SA-Männer, SS-Männer, Souffleuse, Filmteam und Fotografen (Statisten)
SCHAUPLATZ:
Bühne eines Theaters
ZEIT:
Kurz vor, während und ein Jahr nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten
1. BILD
Vorhang auf, Bühnenbild „Der Kaufmann von Venedig", Akt III, Szene 1, Venedig. Polacek (Solanio) und Strassky (Salerio) treten auf.
POLACEK als SOLANIO: Was gibt’s Neues auf dem Rialto?
STRASSKY als SALERIO: Nun, noch hält es sich dort