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Das Schiff das singend zieht auf seiner Bahn
Das Schiff das singend zieht auf seiner Bahn
Das Schiff das singend zieht auf seiner Bahn
Ebook264 pages3 hours

Das Schiff das singend zieht auf seiner Bahn

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Die Protagonisten des Debutromans von Philipp Schönthaler stellen sich den Herausforderungen, den Ansprüchen und Zumutungen unserer alltäglichen Arbeits- und Lebenswelten. Jeder Tag ist ein Kampf um optimiertes Aussehen, optimierte Arbeitsziele, optimierte Arbeitsplätze, optimierte Berufseinstellungen. Soll man nun daran scheitern oder darüber lachen? Schönthaler entscheidet sich in diesem außergewöhnlichen Roman für den feinen, leise ironischen Blick, den sanften und liebevollen Spott, geleitet von Neugier und Faszination, von Zuneigung und Verständnis. Offen bleibt nach der Lektüre, ob wir auf die Menschen in den Verhältnissen um uns oder ob wir bloß in einen Spiegel geschaut haben.

"Antiromantisches Erzählen auf der Höhe der Zeit." - aus der Begründung für den Clemens-Brentano-Preis 2013
LanguageDeutsch
Release dateAug 19, 2013
ISBN9783882211672
Das Schiff das singend zieht auf seiner Bahn

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    Das Schiff das singend zieht auf seiner Bahn - Philipp Schönthaler

    E-Books

    1

    DR. BEATE POSNER wirbelt um 180 Grad im Bürostuhl herum, dunkle Strähnen wehen ihr ins Gesicht, sie trägt ihre Haare offen, das Haargummi spannt um ihr Handgelenk, im Verlauf des Vormittags wird Posner es mehrmals um ihre Haare schlingen und wieder lösen. Posner streift die Strähnen aus ihrer Stirn, nimmt die Fernbedienung vom Tisch, richtet sie – einen Arm gestreckt, das gegenüberliegende Auge geschlossen – auf den Beamer unter der Decke, pausiert das Video. Anschließend schaltet sie das Licht an, blinzelt erwartungsvoll in die Runde, während sie mit einer Hand ihren sandfarbenen Blazer zurechtrückt, ihre bestiefelten Beine unter dem Tisch ausstreckt: »Na?«, erkundigt sie sich: »Irgendwelche Fragen soweit, Kommentare? Machen wir eine kleine Naschpause – es raucht doch keiner … oder soll es gleich weiter gehen?«

    Posner (37) sitzt im neuen Seminarraum des akademischen Career Centers, gemeinsam mit fünf Doktorandinnen, acht Postdocs, querbeet durch die Geschlechter, den Wildwuchs der Disziplinen, sie leitet einen dreitägigen Workshop, Titel: Der Sprung auf den freien Markt. Posner, promovierte Philosophin, mit »Posner Consulting – Training – Coaching« freischaffender Coach, ist auf die Karriereförderung von Akademikern und Nachwuchswissenschaftlern spezialisiert, inzwischen bietet sie ihre Kurse bundesweit an, projektbasiert ist sie mitunter an universitären Gutachten beteiligt. Mittlerweile ist es später Vormittag, auf dem Baugerüst vor dem Fenster turnen die letzten Handwerker, Maler in versauten Latzhosen, der Rauputz des neuen Gebäudes schimmert in einem hoffnungsvollen Grün, im Raum herrscht eine allgemeine Trägheit. »Und was ist das nochmal, was du genau machst?«, flüstert ein frisch promovierter Sportwissenschaftler, den Oberkörper großzügig aus dem Lot gekippt, seine Lippen gefährlich nah am Übergang von Haaransatz und Ohr seiner attraktiven Sitznachbarin, die ihren Kopf taubenhaft schräg stellt, ihre Erwiderung mehr haucht als flüstert: »Typologie und Sprachvariationen aus historisch-soziolinguistischer Perspektive am Beispiel der Integration fremder Verben ins Koptische nach der islamischen Expansion im siebten und achten Jahrhundert nach Christus« – »Jesus!«, seufzt der Sportsfreund, dessen Kopf mit einem resignierten oder abfälligen Abwinken der Hand bereits in die entgegengesetzte Richtung schwingt: »Und was ist das nochmal, was du genau machst?«, fragt er seine Sitznachbarin rechter Hand – als Posner in die Hände klatscht: »Aufmerksamkeit bitte!«, mahnt sie, ihr Blick geht in die hinterste Sitzreihe: Um den gesamten Raum zu kontrollieren, muss man die Teilnehmer der letzten Reihe binden – »fahren wir fort«:

    Modul 4: So steigern Sie Ihre Performance

    »Ziel ist es, im Gedächtnis des Gegenübers einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen, den anderen zu gewinnen«, erklärt Posner, »gezielt Sympathien aufbauen: Die Weichenstellung erfolgt – wie in Modul 2 besprochen – mit dem KLP-Prinzip.« Sie hat sich erhoben, steht am Flipchart, malt die drei Buchstaben handtellergroß ans Board, sagt: »Wiederholen wir gemeinsam im Chor« – ihr Zeigefinger markiert Einsatz und Takt:

    K für Kompetenz

    L für Leistungsorientierung

    P für Persönlichkeit

    »Zu bedenken ist jedoch: Ohne Persönlichkeit keine Kompetenz, stimmt hingegen die Chemie«, Posners Edding zirkelt quietschend vom P hinauf zum K, »fasst man auch Vertrauen in Ihre Kompetenz.« – Posner lässt ihre Worte wirken.

    ERIK JUNGHOLZ SCHLIESST SEINE AUGEN, konzentriert sich. Den Brustkorb weitend nimmt er Sauerstoff auf, zählt lautlos bis sieben, lässt die Spannung anschließend aus dem trainierten Oberkörper weichen, kehrt mit elastischen Knien in den Stabilen Reitersitz zurück, das Gewicht gleichmäßig auf beiden Füßen verteilt.

    Es ist früher Morgen, Jungholz steht vor der Glasfront seines Wohnzimmerfensters, ein Flügel geöffnet, ein kühler Windzug weht von draußen herein. Die offenstehende Schlafzimmertür gibt den Blick auf das nachtwarme Doppelbett frei, in dem seine Lebensgefährtin noch immer schläft, zumindest döst, nur ein Wust heller Haare sprudelt zwischen den Laken hervor, ihr bezaubernder Hüftknochen, über dem sich die dünne Mikrofaserdecke anzüglich wölbt.

    Jungholz atmet aus, wechselt flüssig zur nächsten Übung: Dem Gegner auf die Ohren hauen. Die wohlige Jane-Fonda-Stimme aus den Ohrstöpseln souffliert den Bewegungsablauf: Schulterbreiter Stand, die Hände locker zu Fäusten geballt, Jungholz rollt die Finger einzeln ein: Ausgehend vom kleinen Finger über Ringfinger, Mittelfinger, Zeigefinger, abschließend der Daumen, erklärt Fonda: Jungholz legt die Faust mit abwärts gerichtetem Handrücken seitlich an die Hüftknochen, schwingt sein Dantian nach rechts, das Gewicht ruht auf einem federnden Bein, säuselt Fonda, bevor die Arme spiralartig gedreht nach vorne schwingen, die einwärts geklappten Fäuste in Kopfhöhe, schlägt Jungholz seinem Gegenüber beidseitig auf die Ohrmuscheln, verlagert das Dantian mit dem Einatmen wieder zurück auf das rechte Bein, die Fäuste öffnen sich mit dem Ausatmen, schließen sich: Und nun die Übung allein, ermutigt die Sprecherin, aus den Ohrstöpseln dringt nur noch die Melodie von Erik Saties Gymnopédie no. 3 arrangiert von John Williams für Gitarre (mit kl. Orch.), Jungholz rollt die Finger einzeln ein: Ausgehend vom kleinen Finger über Ringfinger, Mittelfinger und Zeigefinger, abschließend der Daumen, er legt die Faust mit abwärts gerichtetem Handrücken seitlich an die Hüftknochen, schwingt sein Dantian nach rechts und … er beendet die Übung als die Fonda-Stimme sich aus dem verebbenden Klang der Nylonsaiten zurückmeldet, lobt: »Gut gemacht! Das kontinuierliche Schreiten und Gewichtsverlagern fördert die Atemtätigkeit; das kämpferische Zusammenspiel von Bewegung, Vorstellung und Atmung stärkt die innere Kraft für die täglichen Konflikte; mit Qi Gong können Sie Ihren regenerativen Energien gezielt nachspüren«, erklärt Fonda

    – aber Jungholz hat die Stöpsel bereits aus den Ohren gerissen, sein Gesicht in ein Handtuch vergraben. Als er aus dem Dunkel des Frotteestoffs auftaucht, fällt sein Blick auf die Uhr – er erschrickt: Die monatliche Strategiesitzung ist heute eine halbe Stunde früher angesetzt, er ist spät dran, zumal er vor versammelter Mannschaft präsentieren muss. Das Handtuch segelt in die Zimmerecke, Jungholz greift zum Telefon, lässt ausrichten, dass er fünf Minuten später eintreffen wird: »Meine Unterlagen direkt in den Konferenzraum!«, befiehlt er. Die plötzliche Hektik elektrisiert ihn auf natürliche Art und Weise, Jungholz fühlt sich zurück in seinen Körper, durchwandert die einzelnen Gliedmaßen – er fühlt sich gut, atmet stoßweise aus, im nächsten Augenblick prasselt das kalte Duschwasser auf ihn nieder.

    Keine drei Minuten später fädelt Jungholz den letzten Knopf ins Hemdloch, schiebt seinen Kopf ins Schlafzimmer, nuschelt unverständliche Zärtlichkeiten. Kurz darauf zirkelt er aus der Einfahrt, die Haare feucht aus der Stirn gekämmt. Jungholz schlingt, ohne einen Blick in den Rückspiegel zu werfen, seine Krawatte um den Hals, während er die Birkenwaldstraße runterbraust, am Fuß der Straße fährt er stadteinwärts; er schiebt eine CD in den Spieler, aus den Lautsprechern ertönt das Voodoo Orchestra & The Bad Haircuts:

    Restmusik

    Ich trink gern kleine Biere

    Ins Bett geh ich um elf

    Und wenn der Wecker klingelt

    Dreh ich mich einmal um mich selbst

    Nur manchmal bin ich unzufrieden

    Träum von einem Großstadtleben

    Zwischen Paris und Budapest

    Vor meinem Fenster ranken Weinreben

    Jungholz unterquert den Schlossplatz, pausiert die Musik, schaltet das Audiosystem auf Raumsprechanlage. Als die Sekretärin sich meldet, wünscht er zum zweiten Mal einen guten Morgen, lässt sich seine Termine für den Tag bestätigen. »Sehr gut«, quittiert Jungholz die Auskunft, wählt dann umgehend die Nummer von De Voeck (Professional Products), um Rücksprache über die bevorstehende Präsentation in der Strategiesitzung zu halten. Er hat fünf Minuten, um die Resultate der letzten drei Monate, den gegenwärtigen Stand der Dinge sowie die weiteren Maßnahmen vorzustellen. Jungholz hat inzwischen die Innenstadt durchquert, schraubt sich aus dem Stadtkessel hoch in Richtung Fildern, die langgezogenen Kurven der Neue Weinsteige/B 27 nimmt er mit Schwung. Seit über einem halben Jahr ist Jungholz Managing Director von Harry & Herbert Beauté Eau pour Homme, die Produktlinie gehört zur Marke Harry & Herbert Beauté (HH Beauté), die Marke wiederum zu Pfeiffer Beauty Kosmetik (PB). Seit drei Jahren in Folge macht Harry & Herbert Beauté pour Homme Verluste, schwarze Zahlen schreibt allein HH Beauté Accessoires mit dem Verkauf von Sonnenbrillen und Lifestyle-Artikeln. Jungholz, zuvor bei dem zu Procter & Gamble gehörigen Zahnpastahersteller Blendax in Mainz tätig, hat den Job trotz allem ohne Zögern angetreten – auch oder vielmehr wegen der Fallhöhe, die der neue Posten bot.

    Noch innerhalb der Stadtgrenze Stuttgart-Degerlochs, in Höhe Albstraße, beschleunigt Jungholz den Wagen auf 110, 120, auf der Gegenspur schieben sich die Pendler stadteinwärts Schnauze an Arsch voran. Auf der Schnellstraße zeigt der Tacho 170, es lohnt kaum, das SI-Centrum kommt schon in Sicht, zwei Kilometer weiter sticht Jungholz in einem Zug von links außen auf die Abbiegerspur, Ausfahrt Stuttgart-Plieningen/-Hohenheim/-Möhringen, der Halbkreisel der Abfahrt lässt die Autoreifen in einem hellen Oberton singen, die rote Ampel unmittelbar nach der Ausfahrt zwingt ihn zu einem scharfen Stopp. Jungholz flucht, drückt auf play, aus den Boxen schallt erneut das Voodoo Orchestra:

    Chorus:

    Man muss das Leben an sich reißen

    Im Recorder spielen die Voodoos

    Ich vertrau guter Reklame

    Lass die Restmusik laufen

    Ich kenne viele Menschen

    Die man nicht kennen muss

    Sie sind mir viel zu ähnlich

    Ich werd dann schnell konfus

    Irgendwie krieg ich die Hummeln

    Sehn mich nach einer Metropole

    Ich sitz im Express nach Bratislava

    Das ist keine Nostalgie

    Jungholz biegt auf die Auffahrt zum Campus Filder, auch auf den letzten Metern beschleunigt er gewohnheitsgemäß, saust direkt auf die Pfeiffer Beauty-Zentrale zu. Der Anblick des PB-Hauses beeindruckt selbst nach einem Dreivierteljahr noch jedes Mal aufs Neue, denkt Jungholz: stark – ein Gefühl der Genugtuung breitet sich in ihm aus, stimmt ihn aktivistisch. Architektonisch ist der Rundbau jenem zeitlosen Rouge-Tiegel nachempfunden, den das Ehepaar Pfeiffer – er von Haus aus Chemiker, sie entwickelte sich in kurzer Zeit zu einer mondänen Geschäfts- und Lebefrau – erstmals 1911 für ihr Rouge, kurz darauf für die ersten Hautcremes verwendete und der noch heute von den Luxusprodukten der Marke Peiffer Beauty (PB) zitiert wird, aber ebenso von einigen Produktlinien der Apothekenkosmetik (Charlette Roche, PeauPeau!) und Naturkosmetik (Cosmeceutikal, Ecodermis).

    Jungholz umfährt die Firmenzentrale, an der Front öffnet sich der Haupteingang mit dem hohen, geschwungenen Portal auf einen großzügigen Vorplatz. Unmittelbar an den Vorplatz schließen Grünflächen an, dort gibt es nirgends Parkmöglichkeiten. Anstatt auf den fünf Gehminuten entfernten Mitarbeiterparkplatz zu fahren, stellt Jungholz sich auf einen der Vorzugsparkplätze direkt hinter dem Gebäude, zwei Lücken weiter steht der bananengelbe Panamera von Gröber, der Vorsitzende und CEO hat seinen eigenen Parkplatz direkt am Eingang, das brauche ich auch, denkt Jungholz, steigt aus. Zumal Gröber mit 46 noch erstaunlich jung ist, gerade zehnJahre älter als er. Mit großen, keinesfalls hektischen Schritten eilt Jungholz durch den Nordeingang, unter Kollegen nennt man das PB-Haus mittlerweile liebevoll oder auch scherzhaft Puderdose. Jungholz passiert die Eingangsschleuse, steht dann allein im Aufzug, obwohl im weitläufigen Foyer mit Restaurant, Bistro, zwei Cafés, Firmenshops sowie Besprechungszimmern und Empfangsräumen, dazu die Sitzgelegenheiten im begrünten Innenhof, selbst zu dieser Tageszeit schon reger Verkehr herrscht. Zwei große Bildschirme an der Stirnseite der Eingangshalle sorgen zusätzlich für Leben. Jungholz steht dicht am Rundglas der vollverglasten Aufzugkabine, seine Finger trommeln auf das Geländer, erst blickt er auf das Treiben im Foyer, dann hinauf in die fluoreszierende Leere des 33 Meter hohen Lichthofs, nur von schmalen Verbindungsstegen durchzogen, sternförmig ausstrahlende, asymmetrisch angeordnete Übergänge, Flure, kleine Oasen, die zwischen den Abteilungen und Teams eine vitalisierende Kommunikationsatmosphäre schaffen. In den meisten Abteilungen herrscht eine open door policy, viele Innenräume sind selbst von hier einsehbar, die Durchsichten spenden in sämtlichen Büros beste Lichtqualitäten, lassen die work spaces großzügig atmen.

    Jungholz holt Luft, steigt im siebten Stock aus dem Aufzug und eilt den Flur hinunter, die Tür zum großen Konferenzraum ist bereits geschlossen. Er ist tatsächlich zu spät dran – macht nichts: Jungholz fühlt seinen Puls, grimassiert, lässt die Wirbel im Nacken knacken, knetet die Fäuste. Im Kopf beherrscht er die Situation, er ist gut. Er ist wirklich gut, er weiß, dass er gut ist – bei dem Gedanken steigert sich seine Stimmung zusätzlich, er ist jetzt noch besser, nahezu euphorisch streicht er mit der linken Hand seine Krawatte glatt, reißt mit der rechten die Tür auf.

    RAUM K 2.1.2.3: Im zweitem Stock des Akademischen Universitäts-Lehrkrankenhauses, Klinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie, Ärztlicher Direktor Prof. Dr. Dr. H. Steinhart, greift Dr. K. Riemenschneider, leitender Arzt der Abteilung für Phoniatrie und Pädaudiologie (Kommunikationsstörungen), mit einem kunstfertigen Griff die weiß belegte Zunge, zieht den zuckenden Muskellappen M. genioglossus – das mit den Retraktoren M. palatoglossus und M. styloglossus weitaus wendigste Muskelsystem des menschlichen Körpers – im Schraubstock von Daumen und schräg gelegtem Zeigefinger zwischen zwei kariösen Zahnreihen, einem belegten Zahndamm, aus der widerwillig geöffneten Cavum oris mit einem beherzten Ruck hervor.

    Es ist seine dritte Behandlung am Morgen, Riemenschneider ist nach einer erholsamen Nacht im Vollbesitz seiner Kräfte, Konzentration, selbst Motivation, sein rechtes Auge blinzelt einzeln und groß im kleinen Metallguckloch, umkränzt von einem silbernen Rundspiegel, der an einem verchromten Drahtgestell bierdeckelgroß vor seinem Gesicht schwebt, das Drahtgestell ist in einem handgefertigten Kalbslederkopfband eingelassen. Riemenschneider treibt einen Einweg-Holzspatel mit raschen, seitwärts gewendeten Kippelbewegungen stückweise in die schmale Ritze zwischen fixierendem Finger und stumpfen Schneidezähnen, seinen Kopf, die Nase nah des feucht bebenden Musculus genioglossus, über sein olfaktorisches und nasal-trigeminales Nasenschleimhautsystem nimmt er jetzt deutlich den Effekt phlegmonöser Prozesse in Gaumen und Rachen wahr, denogene Zysten: »Foetor«, stöhnt Riemenschneider, ohne seinen Kopf abzuwenden, er ist zu routiniert, als dass er zurückschrecken oder sich etwas anmerken ließe. Furchtlos bringt er den Kopf (und unweigerlich die Nase) näher an den oral-dentalen Infektionsherd, »ausgeprägter Überbiss«, murmelt er, mehr zu sich selbst als zu seinem Assistenten, der mit dem Klemmbrett unter dem Arm pflichtbewusst einen Schritt heranrückt, den Oberkörper vorgebeugt, die Hände beidseitig auf seine Kniekapseln aufgestützt, seine Nase neugierig witternd in Richtung der Patientin erhoben (darauf erpicht, in einem eventuellen Nachgespräch unter vier Augen dem Geruchsurteil des Chefs empirisch fundiert beipflichten zu können), während Riemenschneider neben dem Holzspatel in aller Ruhe einen Mundspiegel in den geöffneten Rachen einführt, in jovialem Ton sagt: »Jetzt wollen wir doch mal sehen!«

    »Das menschliche Ansatzrohr reicht von den Stimmbändern bis zu den Mundlippen und der Nasenöffnung, einschließlich Hypopharynx, Mesopharynx, Hyperpharynx, Mundhöhle und den durch das Septum längsförmig zweigeteilten Nasenraum Cavum nasale. Für die Lautbildung sind die aktiven Partien zuständig, wir sprechen konkret von Unterkiefer, Zunge, Lippen, Gaumensegel, Zungenbein und Kehldeckel. Zähne, Zahndämme sowie harter Gaumen verhalten sich lediglich passiv«, erklärt Riemenschneider, noch immer die Patientenzunge wie ein feuchtes Stück Kernseife zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt. In Anwesenheit des noch recht jungen, aber bestrebten Assistenten nimmt er sich hin und wieder die Freiheit, galant pädagogische Lektionen in die Behandlung einfließen zu lassen, auch seine Patienten können davon letztlich nur profitieren:

    »Die Sprachlaute werden auf zweierlei Weise geformt«, fährt Riemenschneider fort, versucht während seiner Ausführungen einen laryngoskopischen Blick auf die Stimmlippen seiner Patientin zu erhaschen, sein Redefluss gerät nur zwischenzeitlich ins Stocken: »Indem sich der Hohlraum des Ansatzrohrs vergrößert oder verkleinert, werden verschiedene Resonatoren ausgebildet, die den durch die Schwingung der Stimmlippen erzeugten Stimmklang formen, sprich: Vokale bilden. Konsonanten entstehen hingegen, indem sich einzelne Partien des Ansatzrohrs dem Luftstrom in den Weg stellen. Das Wesen der Vokale, und in gewissem Sinn auch das der Konsonanten, beruht nun akustisch auf der Realisierung bestimmter Formanten, also von Partialtönen, die in Hinsicht auf die Sprachlautbildung von den Grundtönen nahezu unabhängig sind.«

    »Ein A«, erklärt Riemenschneider, wobei er seine Patientin ermutigt – Finger und Spatel noch immer im fremden Mund-Rachen-Raum –, doch bitte laut und deutlich diesen ersten, elementarsten aller Vokale zu artikulieren …

    – »Nun ja«, urteilt Riemenschneider, nickt wohlwollend: »Gewöhnlich weist ein A immer einen Formantbereich von 1000 Hertz auf. Bereits 1926 konnte Brünings – nicht zu verwechseln mit dem glücklosen Weimarer Reichskanzler Brüning – auf dem wegweisenden Kongress Deutscher HNO-Ärzte in Hamburg dem gefesselten Fachpublikum von einer Versuchsanordnung bestehend aus Kondensatoren und Spulen, den sogenannten Siebketten, berichten und darlegen, dass die Formantbereiche eine unerlässliche Voraussetzung der akustischen Perzeption bilden, will sagen, für die Wiedererkennung der einzelnen menschlichen Sprachlaute.«

    »Was das bedeutet?«, fragt Riemenschneider in bescheidener Selbstgefälligkeit, den Blick noch immer konzentriert in den Rachen der Patientin gerichtet: »Sprechen – und wir bewegen uns hier in einem vorsyntaktischen, rein physikalisch-anatomisch-lautlichen Bereich – erfordert eine räumlich und zeitlich hoch präzise Koordination aller beteiligten Muskelgruppen, die auf vielfältige Weise gründlich misslingen kann.«

    Mit diesen Worten lässt Riemenschneider das fremde Zungenfleisch los, richtet sich auf, mit Daumen und Zeigefinger zupft er am Gummi seiner Einweghandschuhe, als verlangten die Fingerspitzen nach Atemluft. »Mundraum unauffällig«, gibt er zu Protokoll, der Kugelschreiber des Assistenten setzt sich in Aktion, »leicht gerötete Stimmlippen«, mit einer Hand klappt er den Rundspiegel über seinem Auge zurück, er prangt jetzt wie ein Heiligenschein über seiner Stirn. Riemenschneider seufzt: »Im phoniatischen Gutachten wollen wir zunächst organisch bedingte Sprachstörungen ausschließen, die in diesem Fall als Ursache der Redeflussstörung gelten könnten«, erklärt er.

    – Seine junge Patientin, Rike G. Njlhouz, lagert nach wie vor in der unentschiedenen 50-Grad-Schräge des Behandlungsstuhls, weder sitzend noch liegend, die Augen geschlossen; nur ein gelegentliches Zucken des Mundwinkels oder einer Augenbraue verrät eine innere Anspannung. »Dazu werden wir abschließend pernasal flexibel endoskopieren«, fährt Riemenschneider fort, prüft – »Ich darf doch mal?!« – mit zwei latexbehandschuhten Fingern, ob die rhinogene Schwellung der Oberflächenanästhesie bereits hinreichend abgeklungen ist und stößt – »Vorsicht!« – mit der Rechten, während sich die Linke behutsam um den Hinterkopf der Patientin schließt, das großzügig gegelte Plastikkabel mit gut dosiertem Schwung in die rechte Nasenpassage, kurz öffnen sich die Augen der Patientin mit schreckgeweiteten Pupillen – »und?!« – Riemenschneiders Blick ruht auf dem Monitor, der im Rücken der Patientin oberhalb ihres Kopfes plötzlich in rascher Abfolge abenteuerlichalptraumhafte Bilder von lymphoid-zytologischen Kanälen, Durchgängen und Tunneln produziert, schimmernde, zyklamisch-zuckende Zäpfchen, blasenförmige Häute, Wölbungen und Ausstülpungen, die an amateurhafte, einer gymnasial-pubertären Phantasie entsprungene Horrorfilmchen erinnern: »Gleich haben wir’s!«, ruft Riemenschneider ermunternd, schiebt das stroboskopisch Bilder schießende Kameraauge mit beiden Händen tastend durch die engen Nasenabschnitte in Richtung Kehlkopf zu den Stimmlippen und -bändern, sagt, keinesfalls unzufrieden: »Na bitte, da sind wir doch schon!«

    IM ERDGESCHOSS der Puderdose betritt Dr. Frederick Quass (44) das firmeninterne Ausbildungs- und Traineezentrum, bellt seinen Gruß: »Hundert Jahre Erfahrung in der Kosmetikbranche!« – Quass tritt direkt ans Rednerpult, sämtliche Augen schwenken auf den Assistant Director of Human Resources, das Geflüster verstummt, Quass fährt nahtlos fort: »6,2 Milliarden Euro konsolidierter Umsatz

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