Mimner oder das Tier der Trauer: Prosa I
By Jiří Gruša
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Den Roman schrieb Jiří Gruša von Oktober 1968 bis September 1969, als das alte System sich in der Tschechoslowakei wieder etablierte. Es ist nicht nur eine Antwort auf dieses System, sondern auf alle Systeme, die mit welcher Ideologie auch immer die Menschen unterdrücken. Man muss nicht lange nach aktuellen Beispielen suchen. So hat der Roman seine Aktualität bewahrt.
Gruša wurde strafrechtlich verfolgt, als er Teile dieses Romans in der Zeitschrift "Sešity" publizierte. So konnte das Werk erst 1990 in der Tschechoslowakei erscheinen. Es gibt mehrere Versionen des Textes. Im Exil hat Jiří Gruša eine deutsche Fassung erstellt, die 1986 in Köln erschien und dann noch einmal 1991. Sie liegt der neuen deutschsprachigen Ausgabe des Wieser Verlags zugrunde. Milan Uhde, bekannter Dramatiker in Tschechien, Dissident wie sein Kollege Jiří Gruša, schrieb dazu das Nachwort, letztes Zeugnis einer engen Freundschaft.
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Mimner oder das Tier der Trauer - Jiří Gruša
Kabeš
I.
Schlecht verstand ich ihre Sprache.
Es war mein Glück, dass man mich zu diesem Atzi schickte, der keinen Dialekt sprach, obwohl auch sein Alcha nicht lautrein war, denn das ist die größte Schwierigkeit hier, dass man so viele Mundarten hat, so viele Vokale (davon allein sieben verschiedene »e«), die nicht nur Wörter voneinander unterscheiden, sondern noch während des Gespräches die schon vorhandenen Bedeutungen verschieben, sodass manchmal ein Eindruck gewisser Biederkeit entsteht, obwohl die Aussage inzwischen gefährlich geworden ist.
Und das höre ich nicht.
Doch dieser Atzi verhielt sich ganz freundlich, lud mich in sein Haus (mit den üblichen Einheitstapeten überzogen), ließ einen Trunk namens alse bringen und bot mir Platz an in einem der Brutkörbe, eigentlich in einem auf diese Weise und sicherheitshalber gebauten Korbstuhl, in dem man hierzulande zu sitzen pflegt, solange die Stimmung durch den alse nicht locker wird.
Es gilt nämlich als ungehörig, jemanden bei diesem Umtrunk zu töten.
Es wurde dunkel, so machten sie Licht, und das Licht drang durchs Geflecht, formte an den Wänden und der Decke in verschiedenartigen Gebilden die Nummer dieser Ortschaft, als ich hinter mir in der Ecke einen Gegenstand erblickte, der mir zum Verhängnis werden sollte.
Er sah wie eine Harfe aus.
Da ich weiß, wie selten hier Musikinstrumente vorkommen, gab ich meiner Überraschung Ausdruck und fragte Atzi, ob er spiele. Zuerst war er verlegen, denn »spielen« (sotim) hat, ähnlich wie bei uns, mehrere Bedeutungen, dann aber bemerkte er – und es schien mir höhnisch zu klingen –, er tue es nur ausnahmsweise, an Festtagen und natürlich immer mit diesem kassap.
Mit diesem dicken Ding, das mich so reizte.
Er schaute mich an, als wollte er erforschen, was für einer ich eigentlich sei, und fragte dann, ob ich wisse, wie man damit umgeht.
»Nun ja …«, sagte ich, und ähnlich wie Leute, die nicht gleich einen passenden Ausdruck finden, habe ich mit den Händen das Zupfen angedeutet.
Atzis Gesicht wurde noch höhnischer, der Alchadoke rief einen Diener herbei, es war der, der vorher den alse gebracht hatte, und flüsterte ihm etwas im örtlichen Kauderwelsch zu, der – plötzlich ganz blass – verbeugte sich, er habe verstanden, verschwand, um später mit einem Glas zurückzukommen, in dem kein alse war, sondern etwas Gelbliches, scharf Aromatisches, nach Mandeln und Fisch riechend.
»Auf dein Wohl!« Atzi hob mir das Glas entgegen, trank es leer und begann (zu freundlich) über meine Reisepläne zu sprechen. Zum Schluss erhob er sich, um anzudeuten, dass unser Gespräch beendet sei (diese Angewohnheit haben sie mit uns gemeinsam) und wies diskret darauf hin, dass ich die restliche Zeit (merahie mjart … wörtlich »Hinausragen«) nicht zum Ausruhen vor der Abreise benutzen solle, wie ich es ursprünglich vorhatte, sondern zum Nachdenken, denn ich sei ganz herzlich eingeladen zu bleiben.
Es klang höflich, doch es war ein Befehl.
Ich kehrte ins Gästezimmer zurück, dessen Klappladen sich gerade sehr langsam schloss. Ich wusste natürlich, dass es keinen Zweck hat, an dem Fenster zu hantieren, da dieses, wie alle anderen hier, von außen betätigt wird, automatisch und von einem einzigen Ort aus.
Natürlich dachte ich nach, die »restliche Zeit« ließ mir keine Ruhe, es schien mir nämlich, als erfüllte sich meine frühere Befürchtung, dass das Alcha-Wort für Zeit sich nur auf größere Einheiten bezieht, nicht also auf einzelne Personen. Es war mir zwar schon immer verdächtig, wie man hier über sich selbst spricht (dass »Ich« also zugleich »Er« heißt), jetzt aber stellte ich verwundert fest, dass ein Zuviel an Zeit als Unheil empfunden wird … und dass ich mir – ungewollt – so etwas … bestellt habe!
Das beunruhigte mich, ich ging in die gekachelte Nische und goss mir aus dem Krug ein wenig Wasser ein, um meine so jählings ausgedörrte Kehle zu kühlen. Es schmeckte nicht, ich schüttete es in den Eimer, der zugleich als Klo diente, stellte den Tonbecher auf den Blechrand des Waschbeckens und starrte ins Leere.
Es wurde mir bange, trübe, vielleicht durch den Anblick der graugrasigen Tapeten, die in allen Räumen hier gleich sind. Ich kniff die Augen leicht zu und ging hin und her, Fenster, Tür, Fenster, bis ich mich ein wenig zusammenraffte und auf den Messinghocker setzte (sie sind überall gleich und in jedem Zimmer stehen zwei). Schließlich zog ich mich aus, kroch in den unteren Teil des Etagenbettes und versuchte zu schlafen, ich fühlte mich dort so bedrückt, dass ich in das obere Stockwerk hinaufkletterte, über dem mir mehr Freiraum zu sein schien. Auch dort habe ich mich sehr lange herumgewälzt, ehe es mir endlich gelang, einzuschlafen. Und wieder – wieder habe ich meinen alten Traum, in dem ich feststelle, an einem Grenzübergang in Alchadokien, dass meine Papiere weg sind und dass man mir dafür mit einer Art Nussknacker (wieder aus diesem hiesigen Messing, glänzend und groß) den Kopf zerquetscht. Da schreie ich jedesmal auf, erwache zitternd – genau wie jetzt –, und nach einem Lichtschalter tastend, will ich mich vergewissern, ob die Papiere an ihrem Platz sind.
Hier in dem Strohsack.
Aber die Finger stießen auf kleine Leiber, die sich dort sehr wurmartig bewegten, und mir drehte sich der Magen um. Es waren estemhen, ein hier gezüchtetes Tapetenvolk, das zwischen Wand und Papier sein Lager hat, von wo aus es alles beschattet. Es raschelt leise in die Nacht hinein, doch bleibt es unschädlich, solange es nichts »geil« macht … Ein Geruch etwa … ganz spezifisch, den nur diese Käfer riechen, und der sie lockt, wenn jemand ihnen zu gut stinkt, an ihm zu saugen, ihn zu markieren, bis er, halb ausgeblutet, öffentlich auffällt und bestraft wird. Denn es wird behauptet, die Tiere spürten unfehlbar ein schlechtes Gewissen und verließen ihre Tapetenhäuser nur, wenn jemand es tatsächlich hat.
Ich meine, sie spüren entweder Angst oder Trauer, denn ich fühle beides. Dabei habe ich mich so lange bemüht, dass man mich für einen lustigen Kerl hält, was eigentlich auch mehr oder weniger meiner Veranlagung entspricht … und umso mehr war ich jetzt überrascht, die Käfer so nahe am Leibe zu spüren.
Zumal auch die Papiere weg waren.
So setzte ich mich wieder auf den Hocker, lehnte die Stirn gegen die Wand, um so zu testen, ob ich schon genießbar bin. Die Insekten waren fleißig, doch kamen sie noch nicht. Ich atmete auf, und das Prasseln, nun nicht mehr bedrohlich, lullte mich sogar ein, sodass ich in einen Dämmerzustand versank und Atzi nicht kommen hörte.
Er packte mich an der Schulter und sagte: »Steh auf, wir werden spielen«, und zog mich zur Treppe. Ich folgte ihm, ich ging sogar voraus. Im Erdgeschoss rechts neben dem Haupteingang hielt er eine Klappe auf und zeigte nach unten.
»Du sagtest sotim«, lachte er wieder so spöttisch und stieg als Erster hinunter, wieder ging ich ihm nach; ohne die Fluchtchance zu nutzen, die einzige wahrscheinlich, die ich je hatte, wie ich jetzt einsehe.
Dort in dem Keller (beklemmend, beklemmend) standen wir beide geduckt, die Decke über dem Vorplatz war niedriger als in dem übrigen Raum, dazu steckte ich noch bis an die Knöchel im Wasser, das sich dort am Fuß der Leiter staute und eine große, teils mit Reisig überdeckte Pfütze bildete.
»Sotim tan kassap«, wiederholte der Atzi und trat zu dem Stoffballen, unter dem sich etwas wölbte.
»Er darf nicht abkühlen und muss zugleich nackt sein«, meinte der Alchadoke und riss den Stoff herunter.
Es war der alse-Austräger von heute, er saß dort ausgezogen, mit einem Zopf mitten auf dem kahlgeschorenen Kopf.
»Sieh, unser malha (= trauriges Tier), ich ließ ihn so präparieren, damit du alle Stufen seiner Trauer durchzupfen kannst.«
Ich murmelte etwas Ablehnendes, er hielt es allerdings für nichts als Ausflüchte, deckte den Betäubten (Nagmis war sein Name) zu und begann, an der Harfe (?) zu hantieren.
Das Instrument – innen voller Schleifrollen, Tretmühlen, kleinen Schlägern und winzigen Trommeln mit Becken – stank.
»Na, hast du Mut?«
Ich bemühte mich, der Sache auf den Grund zu gehen; zwischen dem Instrument und der Wand befand sich ein Laufgang aus Draht, durch den Atzi – aus einem Tunnel neben der Fenstermauer – erschrockene Katzen hereinließ.
Sie wähnten sich in Freiheit, der Alchadoke jedoch sperrte ihnen sofort den Rückzug ab, sodass den Tieren nur die Kojen der Harfe blieben, die mit den Tretmühlen. Die Katzen krallten sich verzweifelt in den hölzernen Brettsteg ein, um sich nicht bis nach vorne schieben zu müssen.
Da brachte der Atzi einen langen Draht zum Glühen und begann, sie damit von hinten zu pieken. Sie fauchten und zischten, sie quietschten mit einer fast menschlichen Stimme, bis sie dann schließlich in die dafür vorgesehenen Löcher schossen und Atzi hinter ihnen eine andere Sperre zuklappen konnte.
»Tsimassum, tackanirr …«, rief er dabei. Es waren vielleicht die Namen der Katzen – oder der Kojen … oder es war ganz einfach ein alchadokisches Do-re-mi-fa, aber er hörte nicht auf, solange die Tiere dort in den Tretmühlen nicht im gleichen Rhythmus die Hämmer in Bewegung setzten, die wiederum auf die Trommeln und Becken schlugen.
Durch das Gewölbe hallten das Gejammer, das Anfeuern und diese Paukenschläge.
»Sagt dir das nichts?«, fragte mich Atzi, ohne mein Staunen zu bemerken; die Stimme war heiser.
»Ich ahne etwas«, log ich – nein, es war fast wahr –, denn ich ahnte bereits, dass dieser malha kein »trauriges Tier« ist (wie ich das Wort beim ersten Mal leichtfertig übersetzt habe), sondern »das Tier der Trauer«, der Mann mit dem mjart-Zopf als Sinnbild jener Unheil-Zeit – ja, und ich ahnte, dass dies auch auf mich gemünzt war.
Aber warum … weil ich versehentlich (gar nicht angeberisch) irgendein eigenes Spiel zu spielen schien.
»Sagt dir das wirklich nichts?«, fragte er wieder und stach in eine der Tretmühlen, stieß einen Schrei aus, dessen letzten Laut er dann dehnte, wie Musiker, die sich der Stimmgabel anpassen wollen, wandte sich zu mir und sagte, als hätte er ein Geheimnis zu verraten: »Das ist doch die asune!«
Das Lied des Landes, einheitlich, immer gesungen, wenn sich etwas Düsteres der Bewohner bemächtigt, wenn ihnen die Trauer droht, eine zu starke Ich-Zeit, das Fremde, das Nicht-Alcha, was stets als tierisch angesehen und somit geahndet, bekämpft wird.
Ja, man pflegt sogar präventiv (deswegen schreib ich das auf) in jeder Ortschaft einen Mann, der schon etwas Abscheuliches hinter sich hat, als Trauer-Vorführer zu züchten, damit an ihm den anderen gezeigt werden kann, wie unwürdig es ist, herauszuragen.
Eigentlich ist dieser malha eine Art Vorsänger, man schreit ihm die asune nach, man schreit mit ihm (mit seiner Hilfe) das Drohende nieder, doch es hängt von den Umständen ab – von der Leidenschaft jedweder Trauer –, ob deren Beschwörer in der Hitze des Bannens nicht bis zum Tode niedergeschrien wird.
Dies heißt »ihn niedersingen«.
Und Atzi spielte, er schüttelte sich und mit ihm dort draußen wahrscheinlich die ganze Ortschaft, denn das asune-Lied hallte in vielstimmigem Donnern von überall her.
Auch Nagmis hinter der Plane sang und wiegte sich wie eine Beute im Sack. Atzi trat auf mich zu, reichte mir ein Messer und sagte:
»Hier, zapfe ihn an!«
Dann zog er die Plane weg. Der Nackte, behext und gleichsam fromm, schob sich von einer Gesäßhälfte auf die andere, die Augen nach oben verdreht, die Handteller erhoben, als hätte er gerade von jemandem beschenkt werden sollen.
»Es geht los«, sagte Atzi zu mir, er rief es mir zu und begann, den malha, das Tier der Trauer, mit dem Zopf an die Harfe zu fesseln. Ich nahm das Messer – eher unwillig, eher nur automatisch in die Hand und lag schon wieder im Kampf mit dem Alchadokischen, mit diesem orrumhim (oder arumhimm, immer der Aussprache nach, immer an einem gezielt gefärbten Vokal gemessen), das Zupfen wie Zapfen bedeutete, also einen … tja … Totschlag, oder Aufmunterung durch dessen Androhung … wobei das Tier sich (in diesem zweiten Falle) aus Angst vor dem Messer vom kassap löst und mit dem abgezogenen Schädel am schönsten singt. Ich spürte nämlich überstark, es könnte bald um meinen mjart gehen, denn ich habe etwas getan, was abwegig, unzusammenhängend war, und wenn ich das jetzt nicht wieder in einen Zusammenhang bringe, werde ich selbst ein Tier der Trauer.
Dies war mir klar, das steckte irgendwo hinten in meinem logischen Kopf, der wieder in einem wilden Leerlauf nach etwas … (hwastip) hm, wie sagt man das in meiner Sprache … etwas »Überraschendem« suchte, womit das Ganze auszubalancieren wäre. Und mit dem gewohnten Scharfsinn (so ist es bei mir doch immer) sah ich es vor mir – das Rennen, das nach diesem ersten lustigen Stück (falls es mir gelänge) beginnt, den Wettlauf sah ich, in dem vieles noch Lustigeres kommen musste, alles so, so gesteigert, dass ich dann selber in einer eigenen Tretmühle … kirammim – tsimassum wohne …, in der ich laufen und laufen, sterben und sterben werde.
Also nahm ich das Messer und schnitt Nagmis ab.
Sein Körper stürzte und lag dort mit leeren Augen, die sich nach einer Weile mit Erstaunen füllten. Ich erblickte mich in ihnen: klein, gekrümmt und trotzdem – irgendwie tapfer, so ist es immer bei mir, nach einer solchen Tat.
Die draußen, die Unsichtbaren, trotzdem unwiderruflich Vorhandenen, wurden zwar still, doch es war eine wuchernde, eine trächtige Stille, aus der Zurufe hervorbrachen.
»Sieh da, er hat unser Tier entlassen!«
Oder – und dies war ehrfürchtig, ja fast fromm: »Sehet, das Tier der Trauer geht herum!«
Und sie ließen die asune noch mächtiger dröhnen, das heißt, sie hörten nicht auf, wie ich befürchtete, sondern sie tanzten, alles bebte, ich ging an die Luke und sah ihre hüpfenden Füße, ich drehte mich um und schaute Atzi an.
Oh, er war trostlos, weil ohne Sendung, er war aschgrau, weil ohne Amt. Um mir zu zeigen, wie stark er sich trotzdem noch fühlte, nahm er den glühenden Draht und hielt ihn schweigsam (und schwitzend) an seine Haut.
An seinen linken Unterarm, dessen Fleisch hörbar schmorte.
Ich lächelte leise und ging, ging weg. In meinem Zimmer dachte ich an die Flucht, endlich entschlossen, sie allem zum Trotz zu versuchen. Wieder schritt ich hin und her auf der Strecke Fenster, Tür, Fenster, die fünfeinhalb Schritte – unzählige Male. Es wurde langsam hell, ich hörte, dass man zum Frühstück rief, ich stieg hinunter, wo Atzi schon saß (die