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Die stählerne Faust
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Die stählerne Faust

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About this ebook

Bonyanidan, 2154: Armut, Krankheiten und eine zerstörte Umwelt halten die Menschheit in stählernem Griff. Tag um Tag wartet der Cyborg-Agent Arkturus im Standby-Modus auf seine Aufträge. Er tötet ohne Gefühl, ohne zu hinterfragen, im schier unendlichen, weil programmierten, Vertrauen zu seinem Auftraggeber, dem Geheimdienst. Dieser schützt die wenigen Privilegierten auf einer Plattform, die in 23.000 Kilometern Höhe über der Erde schwebt und ihren Bewohnern ein paradiesisches Leben ermöglicht.
Eines Tages geschieht eine Panne, sodass die Computerchips im Gehirn des Agenten repariert werden müssen. Dabei wird er sich seiner menschlichen Seite bewusst. Plötzlich drängen sich Fragen auf: Was steckt wirklich hinter seinen Aufträgen? Was hat es mit den Gerüchten um das Sternsystem Tau Ceti auf sich? Die Regierung plant doch etwas im Geheimen?! Arkturus’ Entdeckungen sind äußerst bedrohlich – das Schicksal der Menschheit steht auf Messers Schneide.
LanguageDeutsch
Release dateJun 15, 2016
ISBN9783739298269
Die stählerne Faust
Author

Anton Christian Glatz

Anton Christian Glatz, geb. 21. Februar 1956, Schriftsteller in Graz. Seit seinem 17. Lebensjahr verfasst er literarische Texte mit den Schwerpunkten erzählende Prosa und Essays. A. Ch. Glatz fühlt sich der Fantastik sowie der Gesellschaftskritik verpflichtet.

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    Die stählerne Faust - Anton Christian Glatz

    42

    1

    Mittwoch, 21. August 2154, eines der typischen Zimmer des Hotels Grey Monkey in Bonyanidan. Ein Mann Anfang vierzig saß reglos in einem Ledersessel, den das Alter mit einer speckig-braunen Patina überzogen hatte. Kurze blonde Haare umrahmten ein ausdrucksloses, glattrasiertes Gesicht. Seine Allerweltsbekleidung unterstrich das unauffällige Erscheinungsbild. Der Mann befand sich zwischen dem Fenster und dem Bett; das Laken sauber, die Decke penibel zurechtgestreift. Gegenüber bot ein altersschwacher Kasten seine Dienste an, daneben Dusche mit Handwaschbecken – ein kleines, spartanisch möbliertes Zimmer der Drei-Sterne-Kategorie im fünften Stock.

    Das Fenster gewährte einen großzügigen Überblick über das Südviertel der Stadt. Aber die schier unendliche Wüste baufälliger ein- oder zweistöckiger Baracken, zwischen denen sich zerlumpte Menschen drängten, am Horizont eine der zahlreichen Roboterfabriken, interessierte den Mann schon lange nicht mehr. Wenigstens war die Luft eine Spur gesünder als in den unteren Stockwerken. Der mit allerlei Giften und Abfall kontaminierte Boden des Stadtviertels dünstete gelegentlich verschiedene Gase aus, die sich auf dem Weg in die oberen Stockwerke großteils verflüchtigten. Die Geräusche waren gedämpft und aus der Wasserleitung sprudelte sogar drei Stunden am Vormittag Trinkwasser. All diesen Luxus hatte man ihm vergönnt, schließlich sollte er in Höchstform sein, wenn es soweit war.

    Seit Stunden starrte der Mann mit halb geschlossenen Lidern in das Zimmer. Kommentarlos gewahrte er, wie sich die Lichtverhältnisse je nach Sonnenstand änderten. Irgendwann hatte sich später Nachmittag breit gemacht. Lauer Wind wehte die bunt gemischten Gerüche der orientalischen Großstadt durch das Fenster. Der Hotelgast verharrte stundenlang bewegungslos. Ein Beobachter wäre unsicher gewesen, ob er überhaupt am Leben war, hätte nicht das gelegentliche Zucken der Augenlider die Frage beantwortet.

    Der Mann wartete. Seine Lebensfunktionen befanden sich auf zwei Drittel des normalen Levels eingestellt. Nur einige seiner Gehirnchips waren aktiviert, allen voran der zentrale Kontrollchip im Überwachungsmodus. Er brauchte keine der sonst in Bonyanidan fast allgegenwärtigen Entertainmentkonsolen, denn die Implantate in seinem Gehirn leisteten dasselbe.

    Über einen der freien Chips stieg er per Gedanken in das Internet ein. Wie gewöhnlich rief er zuerst die Nachrichten ab. Eine Gruppe von etwa zweihundert Aussteigern hatte sich in die Antarktis zurückgezogen, um dort, fern jeder Zivilisation, ein unabhängiges und naturverbundenes Leben in Frieden und Freundschaft zu führen. Das Interview mit der Anführerin übersprang der Mann und schaltete zum Wetter. Außer den üblichen Katastrophen war nichts Erwähnenswertes zu berichten. Die Vorschau für die nächsten zwei Tage folgte, denn länger war das Wetter nicht vorhersehbar.

    Weil das ebenso mäßig interessierte, schickte der Mann den Suchbefehl „Striptease" ab. Sofort erschien ein Warnhinweis, der ihn daran erinnerte, dass er sich trotz Ruhepause im Dienst befinde und solche Beschäftigungen gegen Paragraph 15, Absatz 3 der Allgemeinen Dienstvorschrift (ADV) verstießen. Als Alternative schlug ihm das Überwachungsmodul vor, eine Partie wahlweise Go, Dame oder Schach zu spielen. Also forderte er einen Unbekannten, der ebenfalls gerade online war, auf eine Partie Go nach der anderen. Nach zwei Siegen und einer Niederlage bedankte sich der Gegner und verabschiedete sich ... So war das im Standby-Modus.

    Da – ein schabendes Geräusch! Wäre es im Zimmer nicht so still gewesen, wäre es leicht untergegangen. In einem noch weniger noblen Hotel hätte man an eine Maus oder Ratte denken können. Ein Kuvert war unter der Türe durchgeschoben worden. Das Überwachungsmodul im Gehirn schaltete um. Der Mann schlug die Augen auf. Ohne Hast erhob er sich und hob das Kuvert vom Boden auf, das mit „Arkturus" in einer schmucklosen Schrift beschrieben war.

    Der Agent zur besonderen Verwendung mit dem Codenamen „Arkturus" las sorgfältig seinen Auftrag. Es ging um eine Person. Gleichzeitig scannte sein Visualchip die Informationen, wodurch diese in einem externen Modul im Gehirn als Backup gespeichert wurden. Noch während das Material der Botschaft durch Selbstzerstörung zu Staub zerfiel, legte Arkturus in seinem System das neue Projekt an. Er aktivierte den Nachforschungsmodus und startete die Personensuche über Internet. Wo befand sich die Zielperson aktuell? Menschen, die von der Verwaltung als hinreichend wichtig eingestuft wurden, besaßen im Genick einen implantierten Mikrochip, der permanent Signale aussandte. Ursprünglich für den medizinischen Notfall gedacht, sollten diese Signale es erleichtern, die Personen aufzufinden. Leider war die Personalifizierung des Chips politisch noch nicht soweit abgesegnet, dass eine eindeutige, geheimdienstliche Identifizierung auf diesem Weg möglich war, aber es war ein wichtiges Indiz.

    Was gab es darüber hinaus an Informationen? Anschließend folgte die Beurteilung des Materials bezüglich der projektbezogenen Relevanz. Die Angaben im Auftrag umfassten aus Sicherheitsgründen nicht mehr, als zur Identifizierung unerlässlich war. Wie stand es mit Bewaffnung, eventuell Bodyguards? Üblicher Tagesablauf? Welches war die beste Strategie, unauffällig an die Person heranzukommen? Welche Alternativ-Strategien standen zur Verfügung? Wie viel Zeit würde das Projekt in Anspruch nehmen? Dann die Risikoeinschätzung sowie die Planung der Kosten, wobei gerade dienststellenintern die Diskussion lief, ob die voraussichtlichen Verluste an Menschenleben als sogenannte „humanitäre Kollateralkosten" in die Planung einzubeziehen seien. Momentan waren ausschließlich die finanziellen Kosten gemeint. Glücklicherweise ließ man den Agenten in dieser Hinsicht viel Freiraum. Zuletzt die Projektdokumentation anlegen. Es gab viel zu tun.

    Vorschriftsgemäß führte Arkturus einen kompletten Check seines physischen und psychischen Zustandes durch. Nach kaum einer Minute stand fest: Seine gesamte Leistungsfähigkeit lag mit 98,3 % innerhalb der als normal definierten Bandbreite. Dann überprüfte der Agent seine Bewaffnung: zwei Pistolen Kaliber 45 mit je drei Magazinen panzerbrechende Munition, Spreng- und Leuchtspurmunition, drei Handgranaten, zwei Nebel- und zwei Blendgranaten, eine Erdrosselungsschlinge aus reißfestem Nylon, ein Mehrzweck-Kampfmesser und drei Wurfmesser. Zur Sicherheit schnappte er sich noch zwei Ampullen mit verschiedenem Gift nebst Injektions-Kit aus seinem Vorratskoffer im Kasten. Sein Körperschutz, bestehend aus einer schusssicheren Weste und Leichtmetall-Platten mit Nano-Legierung für Extremitäten sowie Unterleib, war dank laufender Wartung bestens intakt.

    Mit geschmeidigen Bewegungen verließ Arkturus leise das Zimmer. Der Auftraggeber zahlte gut; im Gegenzug erwartete er pünktliche und professionelle Leistung – wie immer ... So war das im Aktivmodus.

    2

    In sicherer Entfernung zum Haus hob Arkturus den Kopf über die Oberfläche des Sees. Durch das abendliche Halbdunkel blickte er zum Ufer. Das Anwesen in etwa fünfzig Metern Entfernung machte einen sehr noblen Eindruck für hiesige Verhältnisse: saniertes Einfamilienhaus mit Garage, Garten und offenem Zugang zum See. O Herz, was willst du mehr? Der Agent watete vorsichtig zum Ufer. Obwohl er sich äußerst vorsichtig verhielt, gluckste es leise. Ein Holzpflock schwamm sachte schaukelnd an seiner Hüfte vorbei. Kurz vor dem Ufer schlängelte sich etwas zwischen seinen Beinen. Der Agent hielt kurz inne, konnte jedoch nicht feststellen, um was es sich handelte. Im nächsten Augenblick glitt es samtweich nach hinten. Am Ufer legte er sich der Länge nach ins Wasser, seinen Kopf tarnte er durch die Zweige des Ufergebüsches. Von hier aus scannte er die Umgebung ausgiebig.

    Entsprach das Szenario seiner Projektplanung? Er begann mit dem Infrarot-Scan. Dieser zeigte in einer Distanz von dreißig Metern eine Gruppe Personen im Garten. Drei Männer, zwei davon mit Pistolen ausgestattet, leichter Körperschutz durch Schusswesten und ein alter, unbewaffneter Mann. Weiters zwei weibliche Personen, eine davon ein Kind, beide unbewaffnet. Die taktische Einschätzung durch das Hauptmodul ergab: Zwei Leibwächter, sehr hohes Bedrohungspotenzial, taktische Empfehlung: eliminieren; restliche Personen ungefährlich. Der Körperschutz der Leibwächter ließ es geboten erscheinen, panzerbrechende Munition einzusetzen.

    Die verschiedenen Scans ergaben synchronisiert das Bild einer Art Grillpartie im familiären Rahmen. Die Frau sorgte sich um die Bratwürstchen, die Wächter gingen auf und ab. Der alte Mann hielt das etwa acht Jahre alte Mädchen mit schulterlangen, brünetten Haaren auf seinem Schoß. Aha, ein Opa, der sich mit seiner Enkelin unterhielt. Niemand bedurfte der Dienste der Entertainmentkonsole, die sich auf einem Tischchen an der Hausmauer befand.

    Das Hauptmodul schätzte eine Kongruenz von 74 % des aktuellen Szenarios mit der Projektkonzeption. Das war kein berauschendes Ergebnis. Dieser Wert sollte sich verbessern. Wahrscheinlich hing es mit der Unsicherheit um Opas Identität zusammen. War dieser Mensch wirklich die Zielperson? Wie oft hatte die Personenidentifizierung die meiste Zeit der Auftragsdurchführung in Anspruch genommen! Wären nicht die kontraproduktiven Einwände der Opposition hinsichtlich Wahrung der Privatsphäre, Datenschutz usw., wäre die Identifizierung über den Mikrochip im Nu abgeschlossen. So hingegen mussten die Scanner hunderte Daten erfassen, wie Körpergröße, Gewicht, biologische Alter, usw. Das dauerte ... und dauerte ...

    In diesem Moment tauchte ein neuer roter Fleck auf der Infrarotanzeige auf – ein Hund bog um die Ecke. Ein großer Hund, wenn Arkturus Pech hatte, ein Kampfhund. Der Agent ließ sich geräuschlos rückwärts ins tiefere Wasser gleiten, ging dort in die Knie, bis der Körper bis zum Hals bedeckt war. Die Schnauze schnüffelnd knapp über dem Boden näherte sich der Hund dem Ufer. Es wäre entschieden besser, würde er Arkturus übersehen und später aus dem Szenario entfernt werden. Ihn außer Gefecht zu setzen, könnte der Zielperson Zeit verschaffen, zu verschwinden.

    Das Hauptmodul meldete sich mit der taktischen Analyse: Rottweilerrüde, mittleres Bedrohungspotenzial, geringe Wahrscheinlichkeit, dass das Tier durch Gassigehen oder vergleichbare Umstände rechtzeitig aus dem Szenario entfernt werden würde. Taktische Empfehlung: eliminieren. Wenn das so weiterging, würde aus dem Auftrag ein Blutbad. Das widersprach der Vorschrift, die verlangte, so unauffällig wie möglich unter minimalem Kollateralschaden vorzugehen. Dies nicht wegen der noblen Zurückhaltung, sondern weil es hinterher weniger zu vertuschen gab. Aber das fehlte freilich in der Vorschrift. Der Agent sollte sich etwas einfallen lassen ... Noch lief die Identitätsprüfung des alten Mannes. Solange Identität und Lokalisierung der Zielperson in Schwebe war, galt es, sich unauffällig und beobachtend im Hintergrund zu halten.

    Der Rottweiler kam von links dem Ufer entlang immer näher. Der Agent hörte ihn hecheln. Mit viel Glück würde der Hund in wenigen Momenten über rechts verschwinden, ohne ihn entdeckt zu haben ... Plötzlich hüpfte eine Ratte keinen Meter neben Arkturus platschend ins Wasser und schwamm eilig davon. Der Schreck fuhr dem Agenten in die Glieder, dennoch gelang es ihm, sich zu beherrschen. In diesem Moment blickte er dem Hund in die Augen! Knurrend sprang der Rottweiler mit einem mächtigen Satz in den See. Arkturus zog ihm blitzschnell die Nylonschlinge über den Kopf und zog ihn unter die Wasserobefläche.

    Die Bodyguards fuhren herum. Einer riss den alten Mann aus dem Stuhl und zerrte ihn um die Ecke, während der andere seine Pistole aus dem Schulterhalfter zog. Im Nu eröffnete er das Feuer in Richtung Arkturus. Die Geschosse fuhren um den Agenten herum klatschend ins Wasser. Dieser schützte sich mit dem Körper des sterbenden Hundes, indem er ihn mit der Linken wie einen Schild vor sich hielt. Die Geschosse trafen reihenweise den Tierkörper und verursachten kleine Explosionen im Fleisch. Die alte Frau und das kleine Mädchen hatten sich inzwischen schreiend zu Boden geworfen. Als der Bodyguard nachladen musste, ließ Arkturus den Hund ins Wasser fallen, es war ohnehin bloß mehr die Hälfte da, und erwiderte das Feuer. Mit dem dritten Schuss erwischte er das Kinn des Schützen. Der Mann schrie auf während ihm das panzerbrechende Geschoß die Kinnlade aus dem Gesicht fetzte. Der vierte Schuss traf ihn direkt in die Stirn. Er kippte nach hinten und blieb vor der blutbespritzten Hausmauer liegen.

    Arkturus lief an ihm, der Frau und dem Mädchen vorbei, zur Vorderseite des Hauses. Da fuhr bereits ein Geländewagen mit zunehmender Geschwindigkeit die Straße hinunter, der zweite Bodyguard am Steuer, der alte Mann auf dem Beifahrersitz. Arkturus eröffnete das Feuer mit einer Salve aus drei Schuss Sprengmunition. Der erste riss die halbe Ladefläche weg, der zweite Schuss verfehlte sein Ziel. Nach dem dritten Schuss ging der Wagen in Flammen auf, kippte auf die Seite, schlitterte einige Meter weiter. Dabei rammte er drei Passanten, die aufschreiend durch die Luft flogen. An einer Gartenmauer kam das brennende und rauchende Auto zu stehen.

    Arkturus lief heran. Fahrer und Beifahrer waren tot. Nun galt es, die Identität des Beifahrers zweifelsfrei festzustellen. Verdammt, das Ergebnis war negativ – der Betreffende hatte zwar ein ganz ähnliches Identitätsprofil, trotzdem war es nicht die Zielperson. Vermutlich handelte es sich um einen nahen Verwandten, am ehesten einen Bruder.

    Arkturus begriff, dass er absichtlich abgelenkt worden war und lief durch die aufgeregte Menschenmenge zurück. Seine Scanner zeigten ihm ein Auto, das soeben das Grundstück der Zielperson verließ. Mit steigendem Tempo fuhr es in die entgegengesetzte Richtung. Das musste Doonan, die Zielperson, sein! Der Agent lief blitzschnell, wobei er wahllos Leute zur Seite rempelte. Bereits im Laufen schoss er. Von vier Projektilen trafen zwei. Auch dieser Wagen ging am Heck in Flammen auf, begann zu schlingern und rammte nach kurzer Distanz einen parkenden LKW.

    Als der Agent heran war, lebte der Fahrer noch, obwohl ihm die Explosionen in seinem Rücken eine schwere Verwundung zugefügt hatten. Er saß alleine im Wagen. Diesmal ergab der Check, dass es sich wirklich um die Zielperson handelte. Na endlich! Da kam die verdiente Freude auf.

    Der alte Mann öffnete mühsam seinen blutverschmierten Mund, sah ihm mit Verachtung in die Augen und stammelte: „Gewinnen oder verlieren, was ... ist ... schlimmer? Laotse, Tao te King."

    Ohne hochgefahrenen Eingangslevel für sein Audio-Sensorium hätte er den Mann bestimmt nicht mehr verstanden. Dessen Kopf sackte zur Seite, Theodoro Doonan war tot und Arkturus' Auftrag erfolgreich abgeschlossen. Der Agent machte sich davon, indem er in der Menschenmenge untertauchte.

    Wieder in seinem Hotelzimmer meldete er dem Auftraggeber, die Angelegenheit sei auftragsgemäß ausgeführt worden. Er erwarte umgehend die Zahlung der Prämie auf sein Konto. Im Anhang übermittelte er eine Auflistung über den Kollateralschaden: zwei traumatisierte weibliche Zivilistinnen, zwei tote Leibwächter, ein toter männlicher Zivilist, drei unbestimmten Grades verletzte Passanten. Den Rottweiler überging er als unerheblich. Alles in allem entsprachen Durchführung des Auftrages und Kollateralschaden der Üblichkeit.

    Kein Zweifel, es war nicht ideal gelaufen. Agent Arkturus zuckte die Achseln. Was ist schon ideal auf dieser Welt?

    3

    Mit einem Ruck hielt der Lift. Arkturus stand, seine Reisetasche aus schwarzem Kunstleder in der linken Hand, in der Reihe der Mitreisenden, neununddreißig Damen und Herren der Business-Class vor oder hinter ihm. Fast unhörbar öffnete sich die Tür zur Sicherheitsschleuse. Im Gänsemarsch passierten die Reisenden die Einrichtungen der Sicherheitsbehörde, zuerst der Ganzkörper-Scanner, dann die formelle Einreisekontrolle. Hier wurden die Papiere und die Identität überprüft. Weil die Sicherheitsbestimmungen sehr streng waren, dauerte es geraume Weile, bis Arkturus im Freien stand.

    Er schloss die Augen und schnupperte die gute Luft. Weder war er das erste Mal hier, noch würde es das letzte Mal sein, und dennoch genoss er es stets von neuem. Das ganze Leben verlief auf der Plattform einfach so anders als in Bonyanidan. Kaum hatte Arkturus seine Lungen ausreichend mit frischer Luft gefüllt, suchte er das Transportband, welches ihn zu den Unterkünften des Geheimdienstes bringen würde. Alternativ wäre ihm die Schwebebahn zur Verfügung gestanden. Ihre Gondeln schwebten in zehn Metern Höhe fünfmal schneller, doch der Agent hatte keine Eile.

    Er stellte sich auf das Band und ließ sich mit der üblichen Geschwindigkeit von sieben km/h durch die geradezu paradiesische Landschaft transportieren: architektonisch anspruchsvolle Häuser im besten Zustand, großzügig umgeben von Gärten, in denen das saftige, satte Grün des Grases und der Büsche überquoll. Brunnen verschiedener Stilrichtungen spendeten Wasser wie Schönheit gleichermaßen. Die Anlagen zeugten vom kultivierten Stilbewusstsein der Besitzer. Gelegentlich ging es durch ein Wäldchen oder eine Gruppe von Gebüschen, wo dem Boden ein erdiger Geruch aus Humus, Rinde und Harzen entstieg. Tief sog Arkturus den unvergleichlichen Geruch ein. Vogelgezwitscher erfüllte die Luft. Sogar bunte Pilze wie aus einem Märchenbuch aus dem 21. Jahrhundert erfreuten das Auge.

    Glücklich waren die Menschen, die diese Pracht genießen durften. Welche Freude, wenigstens ab und zu für eine begrenzte Zeit hier sein zu dürfen. Den allermeisten Menschen war dies streng untersagt. Zwischendurch betrat jemand das ununterbrochen laufende Band, um es ein paar hundert Meter später wieder zu verlassen. Auf diese Weise wurde das Transportmittel permanent frequentiert.

    Der Agent schaltete den Überwachungsmodus auf den niedrigsten Level. Die Fülle an Informationen im standardmäßigen Überwachungsmodus hätten ihn davon abgehalten, diese wunderbare Welt zu genießen. Ganz abzuschalten wäre gegen die Vorschrift gewesen, immerhin war er im Dienst. In dieser Umgebung benötigte er keine sich laufend aktualisierenden Informationen über Bedrohungsszenarien oder das Gefährdungspotenzial der Passanten. Zudem waren diese alle unbewaffnet, von den wenigen Ordnungskräften abgesehen. Selbst diese hielten ihre Dienstpistolen unter blitzsauberen, hellblauen Uniformen diskret verborgen. Im höchsten Maße bürgerorientiert trugen sie ihr Zahnpastalächeln zur Schau und freuten sich, wenn sie zwischendurch mit banalen Auskünften weiterhelfen konnten. Immerhin rechtfertigten sie damit ihr allmonatliches Gehalt und diverse, unbedeutende Privilegien.

    Nach sechs Kilometern kamen die Parteizentralen in Sicht, zuerst die der Unionspartei, die gerade an der Macht war. Von Weitem durfte Arkturus ihr Logo bewundern, ein schwarzer Kreis, darin ein hellblauer Halbmond, der mit der Sichel nach unten lag. Die Präsidentin gehörte dieser Partei an. Eine Minute später folgte auf der anderen Seite des Transportbandes das Hauptquartier der großen Opposition, der Linksliberalen Partei, Lilipart. Ihr Logo war eine wehende rote Fahne, mit einer weißen Hand in der Mitte. Dem Mythos, den die Parteigänger kultivierten, zufolge handelte es sich um die ehrliche Hand fleißiger Arbeiter. Traditionell wechselten sich Unionspartei und Lilipart in der Regierung ab, zeitweise bildeten beide eine Koalition. Das hatte zur Folge, dass beide Parteien einen distanzierten, dabei respektvollen Umgangston pflegten, wusste man doch nicht, ob man nach der nächsten Wahl die Unterstützung der anderen Partei brauchte. Diese wollte man sich gegebenenfalls ohne Erklärungsbedarf vergewissern können. Die Gebäude wurden ihrer Bedeutung entsprechend frequentiert.

    Zweihundert Meter weiter war die kleinere Oppositionspartei, Green Beach, einquartiert. Green Beach war seit Gründung nie an der Regierung gewesen, sondern agierte aus der Opposition; dies allerdings mit voller Schärfe. Ihr Chef hieß Charles-Antoine Boulandier. Als scharfzüngiger und charismatischer Redner sah er sich deutlich mehr gefürchtet und respektiert als beliebt, außer von den Parteianhängern.

    Nach den Parteizentralen tauchte der Gebäudekomplex des Familienministeriums auf, das Institut für Reproduktionsmedizin an der Rückseite. Danach war endlich die Unterkunft der Agenten in Sicht. Die vergleichsweise nüchterne Architektonik mit Aluminiumbeschichtung und viel Glas signalisierte den öffentlichen Zweck des vierstöckigen Gebäudes. Rechts neben dem Eingang prangte das Symbol des Innenministeriums, ein gleichseitiges Dreieck, in dessen Innerem sich ein weißer Kreis mit einer dezenten Marmortextur befand. Die dazwischen liegenden Flächen waren hellblau. Unter dem Symbol hielt der Scanner zur Personenidentifizierung Wache. Arkturus streckte den linken Unterarm in den Scannerbereich. Auf diese Art und Weise konnte sein Identitätschip unter der Haut mit dem Scanner kommunizieren. Nach wenigen Sekunden gab dieser durch ein gemütliches Brummen zu erkennen, dass die Identifizierung erfolgreich war. Arkturus durfte eintreten.

    Ein kurzer, mit hellgrünem Teppichboden und zwei billigen abstrakten Gemälden an der Wand, spartanisch ausgestatteter Gang führte zur Rezeption, der Zentrale des Quartiermeisters. Ein unbedarfter Beobachter hätte sich in einem Hotel gewähnt. Tatsächlich handelte es sich um ein Gebäude, das früher einmal als solches verwendet worden war.

    Der Agent wurde vom Quartiermeister zuvorkommend, fast freundschaftlich, empfangen: „Welche Freude, Sie zu sehen, Arkturus. Ich hoffe, Sie haben eine erfolgreiche Zeit hinter sich." Der Gast nickte zustimmend. Der Quartiermeister wurde vertraulich. In konspirativer Tonlage fuhr er fort: „Ein paar alte Bekannte sind momentan zu Gast. Ob Sie sich allerdings nach der Gesellschaft von Cytan sehnen, wage ich zu bezweifeln."

    Wie wahr, wie wahr ... Andererseits – wer hat schon ausschließlich Freunde? Nachdem Arkturus die neuesten Gerüchte erfahren hatte, begab er sich zu seiner Unterkunft. Hier musste er die rechte Handfläche auf einen Scanner drücken, der anschließend den Eingang freigab. Kaum war die Tür hinter ihm geschlossen, hörte er über den Lautsprecher eine weibliche Stimme: „Willkommen Agent zur besonderen Verwendung Arkturus. Ich hoffe, Sie finden alles zu Ihrer Zufriedenheit. Wünsche und Beschwerden wollen Sie bitte dem Quartiermeister vorlegen. In Ihren Aufenthaltskosten sind wahlweise ein Mittag- oder Abendessen sowie drei Getränke täglich, eines davon mit Alkohol, inkludiert. Darüber hinaus gehende Konsumation ist privat zu verrechnen. Bitte bedienen Sie sich im Kühlschrank oder an unserer Bar.

    Es wurde eine Nachricht für Sie hinterlassen. Soll ich diese vorlesen?"

    „Freilich."

    „Agent Arkturus, melden Sie sich umgehend bei mir, Agentin Erna. Sonst liegen keine Informationen für Sie bereit. Ich wünsche einen angenehmen Aufenthalt."

    Ein befremdliches und vertrautes Gefühl zugleich beschlich Arkturus in seinen Räumen. In diesen Unterkünften hatte er seinerzeit die Ausbildung abgelegt, was immerhin sechs Jahre gedauert hatte. Seit er im aktiven Dienst war, wurde er einmal im Halb - jahr hierher beordert. Nun war es wieder soweit. Sein nächster Gang würde ihn zu seiner Chefin Erna, genannt das alte Nilpferd, führen. Es war stets dieselbe Prozedur.

    Seinem Hotelzimmer in Bonyanidan ähnlich war die Unterkunft zwar klein, aber zweckmäßig eingerichtet. Lediglich der Komfort war entschieden höher. Trinkwasser zu jeder Uhrzeit, alles sauber und ordentlich, die Bettlaken aus hautfreundlichem Material, strahlend weiß gewaschen, ein flauschiger Bettvorleger, täglich wurde eine Schale mit verschiedenem Obst nachgefüllt, von der Aussicht gar nicht zu reden.

    Der Agent zog die Schuhe aus, legte sich auf das Bett, verschränkte die Hände unter dem Nacken und beschäftigte sich damit, im Hier und Jetzt anzukommen. Das Szenario war hier ganz anders als in Bonyanidan und vom einen auf das andere Mal gewöhnungsbedürftig. Dazu verblieb er im aktiven Modus, der Standby-Modus hatte eine andere psychologische Wirkung, weil er alle Empfindungen dämpfte.

    Nach einer halben Stunde meldete sich Arkturus bei seiner Vorgesetzten. Das alte Nilpferd mit dem Codenamen Erna erwartete ihn in ihrem exklusiv eingerichteten Büro. An der Wand hingen vier Gemälde mit zeitgenössischer Kunst, möglichst gleichmäßig verteilt. In der linken Ecke lockte eine kleine, heimelige Besprechungsecke zu Konspirationen aller Art. Erna sah ihrem Agenten hinter einem dunkelbraunen, polierten Schreibtisch aus kostbarem Holz wohlwollend entgegen. Sie begab sich in die Sitzecke und lud Arkturus mit einer Handbewegung ein, ebenfalls Platz zu nehmen.

    Erna war von gedrungener Statur, leicht übergewichtig und von unerschütterlichem Gemüt. Wenn sie etwas wirklich wollte, war sie praktisch unaufhaltsam. Dieser Charakterzug war es, der ihr bei ihren eigenen Agenten den Spitznamen Nilpferd eingebracht hatte. Kurz vor ihrer Pensionierung störte sie das allerdings wenig.

    Sie fragte: „Guten Tag, wie geht es Ihnen, Arkturus?"

    Arkturus zuckte die Achseln. Der Chefin war bestens vertraut, dass ihrem Mitarbeiter Smalltalk zuwider war, insbesondere die rhetorischen Präliminarien zu Anfang einer Besprechung. Deshalb beschloss sie, zur Sache zu kommen: „Ich möchte Ihnen ein großes Lob aussprechen. Die Regierung weiß unsere Arbeit sehr zu schätzen. Man hat letzthin unsere Erfolge sogar in der Öffentlichkeit gewürdigt. Dank Mitarbeitern wie Ihnen ist das möglich.

    Die Leute draußen haben keine Ahnung, wie das ist, wenn wir selbstlos

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