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Klassenmord: Mord in Bonn
Klassenmord: Mord in Bonn
Klassenmord: Mord in Bonn
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Klassenmord: Mord in Bonn

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"Ihr tat höllisch der Kopf weh, als sie aufwachte. Schwindlig war ihr auch. Dann merkte sie, dass sie irgendwo auf dem Bauch lag. Sie schaute auf die weißen Eisenschnörkel ihres Bettgestells; ihre Hände waren daran festgebunden. Mit Klebeband. Über ihrem Mund klebte auch etwas. Es war schon dunkel draußen. War sie so lange bewusstlos gewesen? Auch im Zimmer war es dunkel, durch die Dachfenster fiel nur Licht von den Straßenlaternen. Was war hier los? Ein Raubüberfall?
Plötzlich hörte sie, dass sie nicht allein im Zimmer war. Sie versuchte den Kopf zu drehen, aber das war schwierig. Und dann setzte sich jemand auf ihren Rücken! Wer war das, und was sollte das?!
Das begriff sie drei Sekunden später, als jemand beide Hände auf ihren Hinterkopf drückte, so dass ihr Gesicht im Kissen versank und sie keine Luft mehr bekam..."

Innerhalb weniger Wochen werden in Bonn vier junge Frauen ermordet, alle auf die gleiche Weise: ein Schlag auf den Kopf, erstickt, vergewaltigt, bizarr zur Schau gestellt. Ein Serientäter? So sieht es aus, doch den beiden Hauptkommissaren Andreas Montenar und Sascha Piel von der Bonner Mordkommission kommen im Laufe der Ermittlungen mehr und mehr Zweifel.
LanguageDeutsch
Release dateJan 31, 2014
ISBN9783945152010
Klassenmord: Mord in Bonn

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    Klassenmord - Inge Lempke

    Kapitel 1

    Bonn, Rheinpromenade

    Samstag, 7. Mai

    17.25 Uhr

    Die Sonne kam hinter weißen Wolken hervor, und schon wurde es heiß.

    Viktoria suchte nach einer Bank im Schatten für eine kleine Pause, denn sie musste sich erholen. Erstens von der vielen Lauferei, und zweitens von Dennis’ Frage. Herrgott, der Mann war immer so direkt!

    Gott sei Dank, da vorne, eine Bank, auf der noch niemand saß. Heute war aber auch die halbe Stadt auf den Beinen: Am Abend stand Rhein in Flammen auf dem Programm, und viele Leute schienen sich schon jetzt einen guten Platz zum Zuschauen sichern zu wollen. Viktoria setzte sich.

    „Vicky, meinst du nicht, du könntest mir langsam mal eine Antwort geben?", nörgelte Dennis, der sich nicht zu nah neben sie gesetzt hatte.

    Viktoria lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute einem Ausflugsdampfer hinterher.

    „Ich finde, du solltest meine Bedürfnisse respektieren!", verlangte sie mit Nachdruck und schlug die Beine übereinander. Vielleicht hätte sie doch Strümpfe anziehen sollen.

    „Himmel noch mal, Vicky! Dennis’ Stimme bekam einen ungeduldig aggressiven Unterton. „Ich tu doch schon den ganzen Tag nichts anderes, als mich um deine Bedürfnisse zu kümmern! Wir wollen dieses Jahr heiraten, da kann man doch wohl mal übers Zusammenziehen nachdenken!

    Darauf antwortete Viktoria nicht. In letzter Zeit plagten sie immer öfter Zweifel, ob die Heirat überhaupt eine gute Idee war. Oder der Plan mit der gemeinsamen Praxis. Was, wenn sich nach ein paar Monaten herausstellte, dass sie mit dem Egozentriker neben ihr nicht klarkam?

    Viktoria drehte den Kopf und musterte ihn, während er das gegenüberliegende Ufer zu hypnotisieren schien.

    Von der Seite sah er noch jünger aus: beinah wie Mitte 20, dazu passend sein längeres Haar, ganz der rebellische Teenager! Dabei war er eher konservativ statt aufgeschlossen, eher steif statt charmant. Gut, er hatte Manieren und trug außerhalb der Klinik immer schicke Anzüge. Gut, er war kompetent und verfügte über eine ausgezeichnete Allgemeinbildung. Aber reichte das?

    Viktoria hielt sich selbst für eine schöne, starke Frau, die auf ihrem Fachgebiet schon so einiges geleistet hatte und dafür bewundert werden wollte. Jawohl, sie wollte bewundert, wenn nicht gar angebetet werden! Aber das tat Dennis nicht!

    Sie hatte über einen Kompromiss nachgedacht, mit dem sie sich gegen Überraschungen absichern konnte, und jetzt war der richtige Zeitpunkt gekommen, Dennis mit ihren Überlegungen zu konfrontieren!

    „Du, hör mal, ich will dir einen Vorschlag machen."

    Dennis wandte ihr das Gesicht zu, und seine grünblauen Augen blickten kühl. Er sagte nichts.

    „Also, Folgendes … Viktoria räusperte sich und wich seinem Blick aus. „Ich habe einen Drei-Stufen-Plan für unsere Beziehung aufgestellt. Er war brillant, dieser Plan. „Erste Stufe, wir eröffnen im Sommer unsere Gemeinschaftspraxis; zweite Stufe, wenn das gut läuft, ziehe ich mit dir zusammen, und wenn auch das, dritte Stufe, gut läuft, heiraten wir. Sie sah ihm wieder in die Augen. „Was hältst du davon?

    Mit dem, was dann passierte, hatte Viktoria nicht gerechnet: Dennis wandte sich wortlos ab, griff nach seinem Jackett, stand auf und ging nach links davon. Schnell und ohne sich umzusehen!

    Viktoria rührte sich erst einmal nicht. Sein Verhalten war so ungeheuerlich, dass sie es kaum fassen konnte. Das war ja … also, das war … das war die unverschämteste Respektlosigkeit, die ihr je widerfahren war! Hatte sie geträumt? Aber dort hinten, im Schatten einiger großer Bäume, eilte er davon, mit großen Schritten, die Jacke über die Schulter geworfen, kein einziges Mal zurückblickend. So hatte er sie noch nie behandelt!

    Viktoria merkte, dass sie zitterte. War es die kühle Bank – oder die Wut, die in ihr hochkochte?

    Sie stand auf und ging in die andere Richtung, weg von Dennis. Das herrliche Wetter, die wunderschöne Aussicht, die vielen Menschen um sie herum, das alles nahm sie nicht mehr wahr; in ihrem Kopf gab es nur Tumult sowie die Erkenntnis, dass es völlig richtig gewesen war, nicht mit einem Mann zusammenzuziehen, den sie augenscheinlich gar nicht kannte! Wie gut für alle Beteiligten, dass sie es angesprochen hatte!

    Viktorias Schritte wurden schneller und energischer in dem Maß, in dem ihre Wut weiterwuchs, und so marschierte sie schließlich in unerfreulichen Gedanken gefangen am Rhein entlang, bis sie merkte, wo sie war: Du lieber Himmel, wie viele Kilometer war sie gelaufen? Nicht weit entfernt spannte sich die Südbrücke über den Rhein. Viktoria stand praktisch schon mit einem Bein in der Rheinaue! Von dort hörte man Musik; wahrscheinlich waren sämtliche Wiesen voll mit feiernden Menschen. Und jetzt fielen ihr auch noch ein paar andere Dinge auf: schmerzende Füße in Schuhen, die nicht zum Marschieren geeignet waren, ein furchtbarer Durst, der möglichst schnell gelöscht werden musste, und ein Himmel voller sehr dunkler Wolken, der in den nächsten Minuten einen Platzregen befürchten ließ. Und natürlich hatte sie keinen Schirm mitgenommen. Nichts wie nach Hause!

    Viktoria eilte, so rasch sie konnte, von der immer noch gut besuchten Uferpromenade fort in Richtung Stadt. Als die ersten dicken Tropfen vom Himmel fielen, tauchte vor ihr das Johanniter-Krankenhaus auf, in dem sie vor acht Jahren als Assistenzärztin gearbeitet hatte. Schnell ins Trockene!

    In der Cafeteria holte sie sich etwas zu trinken, bestellte sich schließlich ein Taxi und ließ sich nach Hause bringen. Sie hatte viel Zeit zum Nachdenken gehabt und war mittlerweile zu dem Ergebnis gekommen, dass sie den Plan mit der Gemeinschaftspraxis aufgeben bzw. sich einen anderen Partner suchen würde.

    Viktoria bezahlte den Fahrer und stieg in der Poppelsdorfer Allee aus dem Wagen. Der Regen hatte so gut wie aufgehört, trotzdem war kaum etwas los auf der Straße. Viktoria sah auf die Uhr: tatsächlich schon 19.55!

    Am Himmel zogen neue Regenwolken auf. Inzwischen war ihr richtig kalt. Sie eilte die vier Stufen zur Haustür empor, hörte, wie das Taxi davonfuhr, steckte den Schlüssel ins Schloss, nahm den Duft von süßlichen Blüten wahr, die neben der Treppe wuchsen, schob die Tür ein Stück auf, während sie den Schlüssel herauszog, und war mit einem Mal felsenfest davon überzeugt, dass jemand hinter ihr stand. Als sie sich umdrehen wollte, traf etwas sehr Massives ihren Kopf.

    Ihr tat höllisch der Kopf weh, als sie aufwachte. Schwindlig war ihr auch. Dann merkte sie, dass sie irgendwo auf dem Bauch lag. Sie schaute auf die weißen Eisenschnörkel ihres Bettgestells; ihre Hände waren daran festgebunden. Mit Klebeband. Über ihrem Mund klebte auch etwas. Es war schon dunkel draußen … War sie so lange bewusstlos gewesen? Auch im Zimmer war es dunkel, durch die Dachfenster fiel nur Licht von den Straßenlaternen. Was war hier los? Ein Raubüberfall?

    Von draußen war auf einmal ein unregelmäßiges Knallen zu vernehmen. Das Feuerwerk. Plötzlich hörte sie, dass sie nicht allein im Zimmer war. Sie versuchte den Kopf zu drehen, aber das war schwierig. Und dann setzte sich jemand auf ihren Rücken! Wer war das, und was sollte das?! Das begriff sie drei Sekunden später, als jemand beide Hände auf ihren Hinterkopf drückte, so dass ihr Gesicht im Kissen versank und sie keine Luft mehr bekam.

    *

    Bonn, Polizeipräsidium

    Mittwoch, 11. Mai

    Kurz nach dem Mittagessen meldete sich die Zentrale bei Andreas.

    „Da kam gerade ein Anruf von einer Frau Weich rein, die ist in einem Haus in der Poppelsdorfer Allee und hat ’ne weibliche Leiche gefunden. Ich hab schon ein paar Kollegen hingeschickt, die in der Nähe waren."

    „Danke. Wir sehen uns das mal an." Andreas gab die Information an Sascha weiter, der sofort aufsprang und sich das Jeansjäckchen über sein kiwigrünes Poloshirt zog.

    Noch auf dem Weg nach unten fragte er scheinheilig: „Nehmen wir Renate mit?"

    Andreas tat erst einmal, als habe er Saschas Anspielung nicht verstanden. „Nein, sie fährt wie immer bei Peer, Wilfried und Walter mit."

    „Ach so."

    Draußen war das Wetter, wie es sich eigentlich für den April gehörte: mal Sonne, mal Wolken, mal Platzregen mit Hagel. Andreas war es auf jeden Fall zu kalt.

    Sascha warf sich hinters Steuer und fuhr los. Kaum waren sie auf der Südbrücke, als er herausplatzte: „Mensch, nun erzähl doch mal was von dir und Renate! Von euch beiden erfährt man ja kein Sterbenswörtchen!"

    Andreas war zufrieden. „Ja, die Frau kann schweigen. Sonst hätte ich mich auch gar nicht auf sie eingelassen."

    „Aha, du hast dich auf sie eingelassen. Wie passt ihr denn so zusammen?", bohrte Sascha weiter.

    Andreas hatte nicht vor, die Frage zu beantworten. Es lief ganz gut. Sie waren noch ein paar Mal spazieren gegangen, ein paar Mal hatte er sie zum Essen eingeladen, sie waren sogar einmal im Kino gewesen, im neuen James Bond-Film. Zu mehr war es bisher nicht gekommen. Nein, diesmal wollte er sich Zeit lassen, und Renate war nicht die Frau, die einen Mann sofort ins nächste Bett zerrte.

    „Wie wär’s, Sascha, wenn wir mal über deine Beziehung reden?"

    „Da gibt’s nichts Neues, schmetterte Sascha ihn ab. Zwei Minuten später berichtete er: „Anscheinend hat sich Petra mit einem Kollegen von der Streife verlobt.

    „Ist ja interessant", behauptete Andreas.

    „Finde ich auch." Sascha plauderte Details aus, beschäftigte sich auch gleich noch mit dem Privatleben anderer Kollegen und fing dann mit seiner neuerdings üblichen Jammerei über gestiegene Lebenshaltungskosten an.

    Andreas hörte eine Weile zu. Als sie in die Reuterstraße abbogen, riss ihm der Geduldsfaden, und er konfrontierte Sascha mit ein paar knallharten Sparvorschlägen, die dieser allerdings komplett ablehnte: „Also, ein bisschen Lebensqualität will ich ja nun doch haben!"

    Andreas ärgerte sich. So war die Mentalität heute: Haben-Wollen statt zu verzichten! Und zwar verzichten auf etwas, das man nicht einmal brauchte!

    „Soll ich dir mal erklären, was Lebensqualität wirklich heißt?", entgegnete Andreas und schaute Sascha von der Seite an.

    Sascha lächelte gequält. „Nein danke, bloß nicht!"

    Daraufhin schwiegen sie beide, bis sie um kurz nach 14 Uhr in der Poppelsdorfer Allee ankamen. Sascha stellte den Wagen in zweiter Reihe zwischen einem Streifen- und einem Notarztwagen ab. Peer und die Spurensicherer waren augenscheinlich noch nicht eingetroffen.

    Das Haus, in dem die Leiche gefunden worden war, stand in einer langen Reihe von anderen Jahrhundertwende-Häusern, aber es war das bei weitem ansehnlichste: cremefarben gestrichen, Ornamente und ähnliches braun abgehoben, gepflegter Steinvorgarten mit ein paar Büschen, solide Eichentür mit Glasscheibchen.

    Sie stand offen, bewacht von einem Kollegen in Uniform. Noch trieben sich erstaunlich wenig Gaffer herum. Die Leiche, sagte der Kollege, sei oben. Andreas stieg hinter Sascha eine alte, ab und zu knarrende Holztreppe hinauf, das Geländer vermutlich noch handgedrechselt, weiß lackiert ebenso wie die Stufen, auf denen über die ganze Länge bis nach oben ein fliederfarbener Läufer lag.

    Das Treppenhaus war ebenfalls in hellem Flieder gestaltet, hier und da hingen Fotos, aber nicht etwa von der Familie oder von Landschaften. Stattdessen konnte man mehrfach eine hübsche lächelnde Frau mit kurzen blonden Locken, blauen Augen und zarten Gesichtszügen sehen. Immer schüttelte sie älteren Männern die Hand und schien so etwas wie Auszeichnungen oder Preise entgegenzunehmen. Handelte es sich um das Opfer?

    Im ersten Stock wurde klar, dass Sascha und Andreas noch ein Stockwerk höher mussten. Dort oben, unter dem Dach, wurde alles etwas enger und niedriger.

    In einem winzigen Flur, von dem nur zwei Türen abgingen, saß eine Frau um die 50 in Jeans und weißem Shirt auf einem knallroten Sesselchen, bleich im Gesicht, Schrecken im Blick. Neben ihr stand, ganz in Weiß, der Notarzt und maß ihr den Blutdruck.

    Nachdem er das Stethoskop aus den Ohren genommen hatte, meinte er: „Ich glaube, es ist besser, wenn Sie mit mir kommen, Frau Dr. Weich. Sie klappen mir hier noch zusammen!"

    Andreas mischte sich ein: „Guten Tag. Piel und Montenar von der Kripo Bonn. Können wir erst kurz mit der Dame reden?"

    „Ich –, begann der Arzt, aber Frau Dr. Weich fiel ihm ins Wort: „Ja, sicher doch! Das muss raus! Also, ich hab mit Frau Dr. Thomas zusammen in der ZFK-Privatklinik in Godesberg gearbeitet. Sie ist gestern und vorgestern nicht erschienen und war auch nicht zu erreichen, und heute dachte ich, da muss ich doch mal nachgucken, ob ihr nicht was passiert ist!

    Die Frau, deren braunes Haar von einem Mittelscheitel glatt bis auf die Schultern fiel, ließ sich kaum Zeit zum Luftholen. „Ich hab 20, 30 Mal geklingelt, dann hab ich mir von einer Nachbarin den Schlüssel geholt. Eigentlich wollte sie mitkommen, aber dann rief der Kindergarten an, ihre Tochter hatte wohl einen kleinen Unfall. Jedenfalls bin ich allein ins Haus gegangen, aber das hätte ich wohl besser nicht getan. Ein bisschen Farbe kam in ihr Gesicht zurück. „Ich hab ein Stockwerk nach dem anderen abgesucht, und hier oben hab ich sie dann gefunden, auf ihrem Bett … sie lag auf ihrem Bauch … und sie war … nun, sie war festgebunden, und da steckte ein … also in ihrem … was stammele ich hier rum – sehen Sie sich das doch selbst an!

    „Frau Dr. Thomas war schon tot, als Sie sie gefunden haben?"

    „Ja doch! Erinnern Sie sich? Ich bin Ärztin! Vicky ist seit mindestens zwei Tagen tot!" Die Frau wirkte inzwischen nicht mehr so, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen.

    Andreas bedankte sich. „Würden Sie vielleicht noch ein paar Minuten hierbleiben? Sie könnten uns helfen."

    „Natürlich. Ich fühle mich schon viel besser. Sie wandte sich an den Notarzt. „Fahren Sie ruhig. Ich komme klar.

    Der Arzt war nicht begeistert, gab noch ein paar Anweisungen und verabschiedete sich, während Andreas hinter Sascha das Schlafzimmer von Dr. Viktoria Thomas betrat. Die Dachschrägen waren in kräftigem Fliederton gestrichen, das breite, weiße Bett mit Eisengestell stand frei im Raum auf pinkfarbenem Teppichboden, auf dem ein paar Kleidungsstücke verstreut waren. Es war ziemlich warm hier unter dem Dach, und ein leichter Geruch nach Verwesung hing in der Luft.

    Auf dem Bett lag nackt eine Frau auf dem Bauch, die Arme gespreizt ans Eisengitter gefesselt, die Beine nicht, und zwischen ihren Pobacken ragte etwas Metallenes hervor.

    Andreas ging näher heran. „Was ist das?"

    Sascha folgte ihm und begutachtete das Teil, ohne es anzufassen. „Könnte ein Spekulum sein, das benutzen Frauenärzte zur Untersuchung der –"

    Andreas ließ ihn nicht ausreden, sondern rief in den Flur: „Frau Dr. Weich, war Ihre Kollegin zufällig Gynäkologin?"

    „Natürlich!, kam die Antwort. „Wir arbeiten in einer Frauenklinik.

    „Alles klar." Andreas bewegte sich vorsichtig weiter auf das Kopfende des Bettes zu und passte auf, dass er nicht auf irgendwelche Beweisstücke trat. Er ging in die Hocke, und Sascha machte auf der anderen Bettseite das Gleiche. Das Gesicht des Opfers war nicht zu sehen, denn es war in ein schmales Kissen gedrückt. Man schaute auf nichts als blonde kurze Locken.

    Andreas richtete sich auf und ließ seinen Blick über den Rest des Körpers wandern. Wie alt mochte die Frau sein? Ende zwanzig? Sie hatte kein Gramm Fett zu viel auf den Hüften, straffe, schlanke Beine, einen durchtrainierten Po und keinerlei Stich- oder Schussverletzungen. Nirgendwo waren Blutflecken oder -lachen zu sehen.

    Aus dem Augenwinkel bemerkte Andreas eine Hand, die sich auf den Kopf des Opfers zubewegte.

    „Bist du völlig wahnsinnig geworden?!, fuhr er Sascha an. „Wenn Peer das mitkriegt, bist du tot!

    „Übertreib nicht so", brummte Sascha, zog aber die Hand weg.

    „Lass uns mit Dr. Weich reden, solange sie noch hier ist." Andreas ging zurück in den winzigen Flur.

    „Ihnen ist das Spekulum im … also, im Gesäß der Toten doch auch aufgefallen … Hatte Dr. Thomas Streit mit einem Kollegen in der Klinik?"

    Frau Dr. Weich, die jetzt einen pinkfarbenen Plastikbecher mit Wasser in der Hand hielt, nippte daran, guckte in die Ferne und schüttelte den Kopf. „Nicht, dass ich wüsste. Sie wollte uns ja sowieso bald verlassen und zusammen mit ihrem Freund eine eigene Praxis aufmachen. Moment mal, apropos Freund – ich hab ihn heute Morgen gebeten, Vicky anzurufen. Da sagt der doch zu mir: ,Nee, die ruf ich nicht an! Die soll sich gefälligst zuerst melden!‘ Und dann rauschte er davon. Er schien ziemlich geladen zu sein."

    „Interessant. Wie heißt der Mann, und wo finden wir ihn?", wollte Andreas wissen.

    „Er heißt Dr. Dennis Sander, und um die Uhrzeit müsste er eigentlich in der Klinik sein."

    Andreas ließ sich die Adresse der Klinik sowie die von Frau Weich geben, schickte sie nach Hause, streifte sich Handschuhe über und begann zusammen mit Sascha die Kommode, den Kleiderschrank und die Nachttische auf brauchbare Informationen zu untersuchen. Kaum fünf Minuten später tauchten Peer, Renate und Wilfried auf, und Andreas war tausendprozentig sicher, dass alle im Zimmer Anwesenden verstohlene Blicke zu ihnen hinüberwarfen, um nur ja nicht zu verpassen, wie Andreas auf Renates Ankunft reagierte. Sie sollten ihre Show bekommen.

    Er breitete strahlend die Arme aus, rief „Hallo, Schatz! und eilte auf Renate zu, die genau das Gleiche tat und ihm, als sie aufeinandertrafen, einen langen Kuss gab. Peer grinste, Sascha wandte sich mit einem „Ich fühl mich irgendwie verarscht! ab, Wilfried schaute staunend zu.

    „Haben wir doch gut gemacht, oder?, flüsterte sie Andreas ins Ohr, berührte noch einmal kurz seine Lippen, drehte sich um und verkündete: „So! Jetzt bin ich zu allem bereit!

    Peer schüttelte den Kopf und kümmerte sich um die Leiche. Zunächst schnitt er das braune Klebeband durch, mit dem die Hände der Frau an die Eisenstäbe des Betts gebunden war, und inspizierte jeden Zentimeter von Vicky Thomas’ Rückseite. Er schob ein paar Haare beiseite, und man sah eine dunkle Stelle am Hinterkopf, auf die sie wohl mit einem schweren Gegenstand geschlagen worden war.

    Von allen verdächtigen Hinweisen machte er Fotos, besonders genaue von ihrem Hinterteil. Schließlich zog er das Spekulum heraus. Als Peer sich anschickte, Dr. Thomas auf den Rücken zu wenden, stellte sich Andreas neben ihn und half ihm.

    Die Frau wirkte auch auf der Vorderseite sehr durchtrainiert und völlig unverletzt, wenn man von mehreren blutunterlaufenen, großflächigen Stellen am Körper und im Gesicht absah. Leichenflecken. Über ihrem Mund klebte braunes Paketband. Die Augen standen halb offen. Sie hatte schöne Augen, von ungewöhnlich dunklem Blau. Allerdings hatte sie auch in den Augen kleine Einblutungen. Vermutlich war sie erstickt worden.

    Auch Peer war dieser Ansicht. „Zuerst wurde sie niedergeschlagen und gefesselt. Am Hals sind keine Würge- oder Drosselspuren. Vermutlich wurde ihr Gesicht so lange ins Kissen gedrückt, bis sie tot war."

    „Das Ganze sieht mir doch sehr nach Beziehungstat im Affekt aus", meinte Andreas.

    „Ist das nicht ein wenig voreilig?, warf Sascha ein, der wahrscheinlich schon vom nächsten Serienmörder träumte. „Wir haben ja noch nicht mal richtig mit der Durchsuchung angefangen!

    „Dann tun wir das doch. Bevor sich Andreas wieder der Kommode widmen konnte, bekam er mit, dass Peer vorsichtig das Klebeband vom Mund der Toten ablöste und kaum fünf Sekunden später murmelte: „Das ist ja interessant, seht euch das mal an.

    Sofort versammelten sich alle um den Kopf der Leiche. Zwischen den Lippen ragte etwas heraus. Etwas Dunkelblaues aus Stoff. Peer zog daran, und zum Vorschein kam ein sehr knapper Herrenslip.

    „Der Mörder hat ihr seine Unterhose in den Mund gestopft? Das ist eklig", befand Sascha.

    Peer inspizierte den Slip genauer.

    „Also, getragen ist das Ding nicht. Jetzt roch er sogar daran. „Nein, riecht nach Waschpulver, oder?

    Er hielt Sascha die Unterhose unter die Nase, doch der wich sofort zurück. „Sag mal, spinnst du?!"

    „Stell dich nicht so an!"

    „Quatsch nicht! Guck dir lieber mal ihre Ohrläppchen an – ist das Blut oder was?"

    Peer beugte sich ganz nah zu Dr. Thomas’ Ohren herunter, dann fasste er sie an. „Du hast Recht, da ist ein bisschen Blut. Jemand hat ihr anscheinend die Ohrringe herausgerissen."

    Renate ging in die Hocke und ließ ihren Blick über den Teppichboden wandern, dann schaute sie unters Bett. „Ich sehe keine Ohrringe. Vielleicht hat der Täter sie mitgenommen."

    Sie erhob sich, sammelte die Kleidungsstücke rund ums Bett ein und steckte sie in Plastiktüten.

    „Ein Raubmord?, fragte sich Andreas. „Das müssten aber sehr kostbare Ohrringe gewesen sein. Außerdem wurde hier oben nichts durchwühlt … Es sei denn, der Mörder hat hinter sich aufgeräumt. „Ist alles schon vorgekommen", behauptete Sascha und schaute sich um.

    Während alle noch rätselten, bog Peer den Kopf der Frau nach hinten und leuchtete mit einer Lampe in ihre Nasenlöcher. „Ich hab sie gefunden. Die Nase kam mir gleich so unförmig vor." Aus seinem Köfferchen besorgte er sich eine Pinzette und beförderte ein paar Perlenohrstecker ans Tageslicht.

    Sascha guckte angewidert. „Also, eins steht fest: Der Täter hat eine Vorliebe dafür, Dinge in Körperöffnungen zu stecken, in die sie nicht hineingehören! Das ist doch pervers!"

    „Ja, sicher, stimmte Andreas zu. „Entweder hatte der Täter eine Mordswut auf die Frau, oder er ist eben doch nur ein perverser Psychopath … Wartet mal, ich hab doch vorhin was gesehen! Andreas eilte zur Kommode unter der Dachschräge und zog zum zweiten Mal die unterste Schublade auf. „Ja! Hier drin liegt Männerbekleidung, mehrere dunkelblaue Slips, Socken und ein paar weiße Oberhemden!"

    Andreas nahm eine Unterhose heraus und reichte sie Peer als Vergleichsmodell. Dann schickte er Renate nach nebenan ins Bad, wo sie die Zahnbürsten und einen elektrischen Rasierer eintütete.

    Er selbst und Sascha streiften derweil durchs Haus und fanden noch mehr Anzeichen dafür, dass Dr. Thomas’ Freund und Kollege Sander sehr oft bei ihr übernachtet haben musste. Sie kehrten noch einmal ins Schlafzimmer zurück.

    „Sag mal, Peer, ist die Frau vergewaltigt worden?", informierte sich Andreas.

    „Dazu kann ich dir noch nicht wirklich was sagen … aber nach den Spuren zwischen ihren Oberschenkeln spricht einiges dafür."

    „Hab ich schon befürchtet. Todeszeitpunkt?"

    „Kann ich noch nicht genau sagen. Ich schätze mal, am Samstag oder Sonntag."

    „Okay, dann macht mal schön weiter hier, wir knöpfen uns den Sander vor."

    Um kurz nach 16 Uhr saß Andreas wieder auf dem Beifahrersitz und lotste Sascha mit Hilfe des Stadtplans (sie verließen sich ungern auf ihr Navi) in Richtung Plittersdorf/Godesberg. Ein gutes Stück hinter der Südbrücke stießen sie auf ein Schild, das zum Rhein hinunter wies: ZFK-Privatklinik.

    Natürlich hatte Sascha längst sein Smartphone befragt: Das Zentrum für Frauenkrankheiten war brandneu, deckte so ziemlich alles ab, was man sich als Frau zuziehen konnte oder an sich neu gestalten wollte, und war natürlich mit einem Überangebot an Ärzten und Personal ausgestattet.

    Und schon kam der Neubau in Sicht, zwischen Wiesen und vielen großen Bäumen gelegen, und er sah nicht wie ein nüchterner Neubau aus, sondern eher wie ein Märchenschloss aus dem Orient. Das Gebäude war in einem satten Dunkelrot gestrichen, hatte diverse minarettartige Türmchen und Spitzbogenfenster. Anscheinend kam die Bauart bei Frauen gut an, denn die Parkplätze, gut versteckt hinter Hecken, waren proppenvoll.

    Und die Eingangshalle des ZFK fiel noch pompöser aus, als Andreas gedacht hatte: Der Fußboden war ein traumhaftes Mosaik in Erdtönen, überall standen breite Sofas mit roten und golden gemusterten Stoffen, dazwischen Palmen in bauchigen Kübeln. An den Wänden viele Spiegel, von den Decken hingen Messinglampen im orientalischen Stil.

    „Wahrscheinlich haben die hier auch goldene Spritzen und Skalpelle", brummte Sascha, während sie auf die Rezeption zugingen. Dort zeigten sie einer gut gestylten Mitarbeiterin mittleren Alters ihre Ausweise und fragten nach Dennis Sander. Sie rief auf seiner Station an und erfuhr, dass sich der Arzt zurzeit im Labor im Erdgeschoss aufhalte.

    *

    Zwei Minuten später standen sie im eher nüchtern und zweckmäßig eingerichteten Labor Dr. Dennis Sander gegenüber, einem schmalen, großen Mann mit Blondhaar und Goldrandbrille, der schlecht gelaunt dreinguckte. Er trug eine weiße Hose und ein weißes kurzärmeliges Hemd.

    „Guten Tag, begrüßte ihn Andreas. „Wir sind Piel und Montenar von der Kripo Bonn, und wir haben ein paar Fragen an Sie.

    Im Labor arbeiteten weitere Angestellte: drei Frauen, ein Mann. Als Andreas Kripo Bonn sagte, drehten sich alle Köpfe in Richtung Sander.

    „Um was geht es?",

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