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Schwundgeld: Michael Unterguggenberger und das Wörgler Währungsexperiment 1932/33
Schwundgeld: Michael Unterguggenberger und das Wörgler Währungsexperiment 1932/33
Schwundgeld: Michael Unterguggenberger und das Wörgler Währungsexperiment 1932/33
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Schwundgeld: Michael Unterguggenberger und das Wörgler Währungsexperiment 1932/33

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About this ebook

In den Jahren 1932/33 führte der Wörgler Bürgermeister Michael Unterguggenberger in seiner Gemeinde das sogenannte "Schwundgeld" ein, eine Parallelwährung neben dem amtlichen Schilling. Er initiierte dadurch inmitten der Weltwirtschaftskrise ein Währungsexperiment, welches seit damals nicht nur in Österreich, sondern auch in vielen anderen Ländern der Welt große Beachtung und Nachahmung
gefunden hat. Dieses Buch stellt das Wörgler Experiment erstmals umfassend in das damalige politische und soziale Koordinatensystem und führt ganz nah an die Menschen und Probleme dieser Zeit heran. Das Wörgler Experiment war natürlich zum einen Dorfgeschichte, gleichzeitig aber zum anderen auch ein Teil der Geschichte Tirols und Österreichs - und in gewisser Hinsicht Weltwirtschaftsgeschichte!
LanguageDeutsch
PublisherStudienVerlag
Release dateNov 18, 2015
ISBN9783706558020
Schwundgeld: Michael Unterguggenberger und das Wörgler Währungsexperiment 1932/33

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    Schwundgeld - Wolfgang Broer

    Schwundgeld

    Wolfgang Broer

    Schwundgeld

    Bürgermeister Michael Unterguggenberger

    und das Wörgler Währungsexperiment 1932/33

    StudienVerlag

    Innsbruck

    Wien

    Bozen

    © 2007 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

    E-Mail: order@studienverlag.at

    Internet: www.studienverlag.at

    Buchgestaltung nach Entwürfen von Kurt Höretzeder

    Satz: Studienverlag/Thomas Auer

    Umschlag: Studienverlag/Stefan Rasberger

    Umschlagfoto und sämtliche andere Abbildungen: Unterguggenberger Institut Wörgl

    Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

    Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

    ISBN 978-3-7065-5802-0

    Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

    Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

    Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at.

    Inhaltsverzeichnis

    Prolog: Der sanfte Rebell

    Der Beginn oder Ein ganz natürliches Wunder

    Der Anfang des Anfanges

    Ein Wära für Wörgl?

    Hektik und trügerische Stille

    Wirtshausgespräche und Spaziergänge

    Parallelaktionen

    Der Notstandsplan verblüfft den Bürgerblock

    „Der Welt ein Zeichen geben"

    Der Gemeinderat beschließt einstimmig

    Das Ende des Anfangs

    Vorbilder und Vorläufer oder Das „Sibirien Deutschlands und ein „Old Shatterhand

    Eine Insel im Bayerischen Wald

    Silvio Gesell: Visionär, Praktiker und „Old Shatterhand"

    Der Verlauf der Aktion 1932 oder

    Das Geld lernt wieder laufen

    Fröhlich stimmender Lärm

    Das Schwundgeld erblickt das Licht der Welt

    Erstes Ringen um die Zellulosefabrik

    Das Schwundgeld fließt sogar auf Sparkonten

    Die Interventionen eines aufrechten Schweizers

    Redeschlacht und naive Hoffnungen

    Konferenz über Währungsfragen

    „Affentheater" und rabiate Sparmaßnahmen

    Stürmischer Herbst

    Keine rechte Freude mehr

    Eine stolze Bilanz

    Wegbegleiter oder Gruppenbild mit Dame

    Die starke Frau an seiner Seite: Rosa

    Georg Stawa: Ein Wiener in Wörgl

    Pfarrer Riedelsperger – ein Schlaufuchs erster Klasse

    Franz Wesenauer – ein Arbeiterpriester

    Johannes Ude: Der „Savonarola" des Freigeldes

    Der Verlauf der Aktion 1933 oder

    Atemlos zwischen Bangen und Hoffen

    Der verrückte Monat Januar

    Skandal in Österreich und Schockwellen aus Deutschland

    Wörgl – wie ein Breughel-Bild

    Bettelautomaten und „Her mit der Diktatur"

    „Die Gaststätten bieten angenehme Unterkunft"

    Dem Land kommt das Parlament abhanden

    Bänke, Brücken, Wasserfälle

    Ein Markt mit „reizenden Chalets"

    Letzte Anstrengungen

    Die Polizei verbietet Unterguggenberger das Wort

    „Den Völkerbund befassen!"

    Ein Jahr geht zu Ende

    Das Echo im Inland oder „… geneigt dem Beispiele Wörgls zu folgen"

    Rebellische Stimmung

    Vier Tiroler Gemeinden im Banne Wörgls

    „An Lösungsversuchen der Krise stark interessiert"

    Viele „Wörgls" in Österreich

    Liezen: Schwundgeld beschäftigt Arbeitslose

    „Schwundeinkaufsbriefe" in Lilienfeld

    Das Scheitern in Steyr

    Aufflackernde Hoffnung

    Das Verbot oder Die Mühlen der Bürokratie

    Zwischen „Unfug und „Wohlfahrt

    Die Spitzel der Nationalbank

    „Lieber einsperren lassen als aufhören!"

    Das Wörgler Experiment im Ministerrat

    Das Echo in der Presse

    Das ungleiche Duell

    Das Schwundgeld verschwindet

    Vor den Schranken des Gerichts

    „Die Not ist nicht von Gott gesandt"

    Das Echo im Ausland oder Ein Dorf in der Welt

    „Wie ein Feuer in der Prärie"

    Tiroler Flächenbrand in den USA

    Frankreich: „Das Beispiel von Wörgl lebt weiter"

    Die Schweizer preisen Wörgl in „allen Tonarten"

    Bis zum Februar 1934 oder Die verhangene Zukunft

    Ein Manifest „gegen die Vernichtung"

    Das gewaltsame Ende kündigt sich an

    Heimwehr marschiert in Innsbruck auf

    Die „Schlacht um Wörgl"

    Bittere Enttäuschungen

    Der Altbürgermeister oder Die verrinnende Zeit

    Noch immer auf Trab

    Ein amerikanischer Poet besingt Wörgl

    „Bis die Menschheit auf das Lebensniveau Adams zurückkrebst"

    Abschied im Nebel

    Biographische Fragmente oder Ein Mann in seiner Zeit

    Eine Kindheit und Jugend, die formt

    Eine Marktgemeinde wird zum Schicksal

    Ein Lokführer im Weltkrieg

    Im neuen Staat: „Mit uns zieht die neue Zeit"

    Eine Beziehung in der Krise

    „… mit ihm habe ich abgebrochen!"

    Der Vater seiner Kinder

    Was für ein Mensch? Eine Annäherung

    Epilog

    Wörgls Spur in unsere Tage

    Von Veronika Spielbichler, Unterguggenberger Institut Wörgl

    Die Blüten des Kapitalismus

    „Die Kapitalisierung von beinahe allem"

    Antwort auf Globalisierung: Stärkung der Regionen

    „In Europa war Wörgl das wichtigste Währungsexperiment"

    „Geld ist eine soziale Institution"

    „Der Raum spielt wieder eine Rolle"

    „Lokale Währungen sinnvoll bei Entwicklungsdefiziten"

    „Währungsvielfalt ist wünschenswert"

    Regiogeld in Ungarn zur Wendezeit

    Gemeinschaftswährungen in Korea

    „Time Banks" in Großbritannien

    Komplementärwährungen in der Dritten Welt

    In Argentinien im Jahr 2000 der „Credito"

    Tauschclubs in Brasilien

    Regioverband e.V. 2006 gegründet

    „Regionale Ökonomie – der Weg aus der neoliberalen Sackgasse"

    Testphase für e-Chiemgauer läuft

    Der Sterntaler machte den Anfang

    Der Volmetaler

    Urstromtaler

    Der Waldviertler

    Styrrion für Graz und Umgebung

    Talentetauschkreis Vorarlberg

    Komplementärwährung heute in Wörgl

    Über dieses Buch

    Danksagung

    Anmerkungen

    Literaturverzeichnis (Auswahl)

    „Man muss die äußerste Möglichkeit,

    die man in sich trägt,

    zum Maßstabe seines Lebens machen.

    Denn unser Leben ist groß

    und es geht mehr Zukunft hinein,

    als wir tragen können."

    (Rainer Maria Rilke)

    Prolog: Der sanfte Rebell

    Wovon dieses Buch erzählt, hätte sich so niemand ausdenken können. Die Geschichte erwählt sich einen Tiroler Marktflecken als Kulisse, um ein Stück Welttheater zu veranstalten. Sie verteilt geschickt die Rollen auf die vorfindbaren Personen, die dafür wie bestimmt scheinen. Sie lässt Charaktere aufeinanderprallen, sie schürt die Konflikte, steigert die Spannung, lässt alles effektvoll dem Höhepunkt zustreben und tragisch ausklingen. Wieder einmal erweist sich, was Stefan Zweig in seinem Vorwort für sein Buch „Sternstunden der Menschheit geschrieben hat: „In der Geschichte bewundern wir die größte Dichterin und Darstellerin aller Zeiten. Es ist die Geschichte des Bürgermeisters Michael Unterguggenberger aus der Gemeinde Wörgl im Tiroler Unterinntal, als Sohn eines Arbeiters am 15. August 1884 in Hopfgarten in ärmliche Verhältnisse hineingeboren.

    Er wird – laut der Zeitung „Wiener Tag vom 20. Juni 1933 – in den Jahren 1932/33 neben Wiens Bürgermeister Karl Seitz zum bekanntesten Gemeindevorsteher Österreichs aufsteigen und für eine kurze Zeitspanne sogar noch berühmter sein als dieser. Das Wiener „12-Uhr-Blatt schreibt: „Wörgl hat plötzlich Weltbedeutung erlangt. Unterguggenberger ist im Begriff, eine geschichtliche Persönlichkeit zu werden. 1933 soll sogar ein Film über ihn gedreht werden. Der Schriftsteller Hans Jüllig plant im Sommer 1933 für einige Monate in ein Bauernhaus in der Umgebung Wörgls zu ziehen, um einen Roman zu schreiben, „der Ihr Leben und Wirken zum Inhalt hat.1 1951 wird der Dramatiker Wilhelm Merks den Bürgermeister in einem Schauspiel vorkommen lassen, das den Titel „Der Tyrann. Das Wunder von Wörgl" trägt.2 Am 25. März 1999 dreht die größte japanische Fernseh-Anstalt NTV eine große Dokumentation über den Freigeldversuch in Wörgl.

    Auf diesen Mann werden in den 1930er Jahren die Hoffnungen so vieler geworfen. Die Menschen glauben, er habe mit einer in seiner Gemeinde gestarteten Aktion ein Heilmittel gegen die Wirtschaftskrise gefunden.

    Dieses Experiment von Wörgl, das Unterguggenberger auf den Weg bringt, entlehnt einen, einen einzigen Gedanken des deutschen Wirtschaftstheoretikers Silvio Gesell und passt ihn der politischen und sozialen Wirklichkeit in seiner Gemeinde an. Dieser Gedanke besteht im Wesentlichen darin, eine nur im Gemeindegebiet geltende zweite Währung neben der offiziellen einzuführen. Diese Zweitwährung verliert monatlich 1 Prozent an Wert. Um diesem Wertverlust zu entgehen, geben die Menschen verständlicherweise dieses „Schwundgeld" rasch wieder aus. Mit einem Mal also lassen die Menschen das Geld rasch zirkulieren, anstatt es wie zuvor – wegen hohen Zinsertrages oder aus Angst vor noch schlechteren Zeiten – zu horten und damit der Volkswirtschaft zu entziehen. Das so träge Geld, das im übrigen Österreich buchstäblich in Strohsäcken und im Sparstrumpf faul herumlungert, bekommt plötzlich Beine. Es lernt wieder laufen. Die Folge: Die lokale Wirtschaft blüht auf, das Steueraufkommen des Marktes wächst wieder, die Gemeindeväter können daher Arbeit an Arbeitslose vergeben – im Kleinen wird so ein sich selbst verstärkender Kreislauf zur Gesundung einer kranken Ökonomie in Gang gesetzt. Und das funktioniert erstaunlich gut unter den Bedingungen der Deflationspolitik, die damals betrieben wird.3 Diese deflationistische Wirtschaftspolitik mit ihren verheerenden sozialen Folgen hat zur Ausschaltung des Parlamentes im März 1933 und zum Bürgerkrieg im Februar 1934 einen sehr wesentlichen Beitrag geleistet.4

    Die Menschen jener Zeit, die von diesem Wörgler Experiment in Österreich und in aller Welt hören und lesen, projizieren in Unterguggenberger und seine Tat „Wunderbares". Sie wünschen und erhoffen sich doch sehnlichst nur eines – dass es nämlich ein Entrinnen aus diesem Chaos einer auf den Kopf gestellten Welt gäbe, deren politische Führer und Wirtschaftslenker Millionen Menschen keine Arbeit und kein Brot geben können.

    Unterguggenberger ist für den französischsprachigen Journalisten Claude Bourdet5 „ein Teufelskerl.6 In der Tat gelingt es ihm in dem politisch zerrissenen Österreich der 1930er Jahre ein Stück politischer und sozialer Utopie zu verwirklichen, eines „Teufelskerls wahrhaft würdig: Alle Entscheidungen im Gemeinderat werden einstimmig getroffen. Ein sozialdemokratischer Bürgermeister hat die uneingeschränkte Unterstützung des Ortspfarrers und seines Kooperators, auch des lokalen Heimwehrführers. „Und das in einem gesamtösterreichischen Klima, das knapp eineinhalb Jahre später zum Bürgerkrieg führt. Hätte jene Phantasie und jener Gemeinsinn, den Wörgl zeigte, die später folgenden tragischen Februarereignisse von 1934 verhindern können?", fragt der Historiker Josef Nußbaumer.7

    Der Schweizer J.B. Rusch meint in seinen „Republikanischen Blättern gar, Österreich wäre „frei und unabhängig geblieben, wenn das Experiment von Wörgl auf ganz Österreich ausgedehnt worden wäre. Das ist eine sicherlich gefällige, aber wissenschaftlich nicht beweisbare These.8 Wahr aber bleibt: „Ein echter Friede kann nicht erreicht werden, ohne dass große Teile der Bevölkerung Wege aus der Armut finden."9

    Unterguggenberger stirbt im Dezember 1936. Es wird fast zwei Jahrzehnte dauern, bis sich die Nebel des Vergessens langsam heben und nach dem Zweiten Weltkrieg erste Publikationen über ihn und sein Wörgler Freigeld-Experiment erscheinen.

    Das überrascht nicht. Was der Wirtschaftstheoretiker Silvio Gesell vor fast einem Jahrhundert als Grundlage seiner Erkenntnis in 18 Bänden formuliert hat und der Praktiker Unterguggenberger in den 1930er Jahren in Wörgl umsetzt, hört nicht auf, Bezug auf unsere Gegenwart zu nehmen, und wird in modernen wirtschaftswissenschaftlichen Büchern erneut thematisiert. „Das Zinssystem bewirkt auf unsichtbare und den meisten unbewusste Weise eine ständige Umverteilung von unten nach oben. Entgegen der weitverbreiteten Meinung, dass jeder vom Zinssystem profitiere, wenn er nur irgendwelche Zinserträge bezieht, profitiert davon tatsächlich nur eine kleine Minderheit, die große Mehrheit der Bevölkerung sind die Leidtragenden oder jedenfalls die Verlierer des Zinssystems."10 So der renommierte Wirtschaftswissenschaftler Bernd Senf, Professor für Volkswirtschaftslehre in Berlin. „Kredit bedeutet Zins und Zins heißt mehr einfordern, als gegeben wurde.11 Als notwendig erkannt wird in unserer Zeit auch wieder die „Förderung kleinräumigen Wirtschaftens, also genau das, was seinerzeit in Wörgl durch das Schwundgeld geschehen ist.12

    Die Geschichte, die hier nacherzählt werden wird, beginnt mit einem puren Zufall. Weil die gegnerischen politischen Fraktionen in Wörgl gleich stark sind, muss Ende Dezember 1931 das Los über die Wahl des neuen Bürgermeisters entscheiden. Es fällt auf Michael Unterguggenberger.

    Was von den Zeitungen der Zeit damals als „Wunder von Wörgl bezeichnet und von Unterguggenberger und seinem Team 1932 in Gang gebracht wird, ist kein „Wunder. Es wird ja nur von einem Menschen mit all seinen Stärken und Schwächen vollbracht. Später werden viele Journalisten, teils in berufsmäßiger Übertreibung, teils in echtem Überschwang, den Bürgermeister der Jahre 1931 bis 1934 zum „Zauberer von Wörgl"13 hochstilisieren und ihm fast magische Kräfte andichten. Aber Unterguggenberger, der „Zauberer von Wörgl, vollbringt keine Kunststücke. Er setzt nur sein über Jahre erworbenes Wissen ein. Er hat nur seine politische Überzeugungskraft und sein als Gewerkschaftsführer vielfach erprobtes Geschick im Umgang mit Menschen und Behörden zur Verfügung. Dass der Tiroler Ort für fast ein Jahr zum „Mekka der Ökonomen wurde, wie die französische Zeitung „L’Illustration damals titelte14, dafür steht diesem „Zauberer Michael Unterguggenberger keine magische Kraft zur Verfügung, sondern nur sein nüchterner Sinn. Er hat beileibe keine Wundermittel zur Hand, sondern nur seine Vision von einer besseren Welt.

    Jedenfalls wagt er mit der Ausgabe von „Schwundgeld" etwas, was schließlich 170, nach anderen Quellen gar an die 200 Gemeinden in Österreich übernehmen wollen oder sich zumindest durch den Kopf gehen lassen. Das Wörgler Experiment greift aber nicht nur über die Grenzen der Tiroler Heimat Unterguggenbergers hinaus, sondern auch über jene Österreichs.

    Es ist eine Tat, die in der gesamten europäischen Presse der Zwischenkriegszeit beachtlichen Niederschlag findet. Sie zieht den französischen Ministerpräsidenten Edouard Daladier in Bann, der 1934 sogar persönlich nach Wörgl kommt. Sie fasziniert den amerikanischen Dichter Ezra Pound, der dem Wörgler Experiment einen Gesang seiner weltberühmten „Pisaner Cantos" widmet. Wörgl schlägt sogar jenseits des großen Teiches, in den Vereinigten Staaten, seine Wellen. 22 amerikanische Städte eifern 1933 dem Wörgler Beispiel nach. Im US-Senat und auch im Repräsentantenhaus wird ein Gesetzesantrag eingebracht, in dem die Einführung von Schwundgeld nach den Ideen Gesells und dem Wörgler Vorbild gefordert wird.15 Auch in der Tschechoslowakei entschließt sich eine Anzahl Gemeinden, eine Art Schwundgeld auszugeben. Auch im Fürstentum Liechtenstein gibt es Überlegungen, das zu tun. Ebenso im Fürstentum Monaco, in Paris und in Nizza. Die Schweiz, in der ebenfalls einige Städte „Freigeld ausgeben wollen, verbietet Unterguggenberger sogar die Einreise. Die Eidgenössische Regierung und die Banken wollen nicht, dass in ihrem Lande das „Wörgler Währungsfieber um sich greift.

    Der Wind der Geschichte wird diese Wörgler Ideen weithin tragen – und sie werden sich in der Ferne als Samenkorn erweisen. Im Königreich Jugoslawien (genauer auf dem Gebiet Serbiens), in Frankreich und Spanien werden beispielsweise noch 1934, 1935 und 1936 Gemeinden dem Tiroler Ort nacheifern.

    Und auch in Unterguggenbergers Heimat, in Österreich, wird nach mehr als 70 Jahren im Waldviertel16 und in Graz wieder mit einer Art „Schwundgeld experimentiert, ebenso wie in den USA, in fast ganz Europa, in Südamerika und Japan und in einigen Schwellen- und Entwicklungsländern. 1996 gab es weltweit an die 2.000 alternative Geld- und Tauschsysteme, die letztendlich alle von Gesells Theorien und der Praxis von Wörgl ausgehen.17 Heute sind es geschätzte 4.000 Komplementärwährungen weltweit. Das Wörgler Beispiel ist also nicht nur „abgelegte Geschichte.

    Ohne sich selbst dessen bewusst zu sein oder es gar theoretisch zu begründen, hat nämlich Unterguggenberger in der Praxis den „komplementären Währungskreislauf" mit erfunden18, der sich heute in Tausenden alternativen Geld- und Tauschsystemen rund um den Globus manifestiert. Der Wörgler Bürgermeister legt die Grundlage für das, was später theoretisch abgesichert und heute vom Internet-Lexikon „Wikipedia so formuliert wird: „Eine Komplementärwährung ist die Vereinbarung innerhalb einer meist kleinen Gemeinschaft, etwas zusätzlich neben dem offiziellen Geld als Tauschmittel zu akzeptieren. Diese zusätzliche Währung kann sowohl eine Ware, eine Dienstleistung oder eine geldäquivalente Gutschrift sein. Sie wird in dem Sinne als Geld aufgefasst, dass sie die ursprüngliche und eigentliche Funktion des Geldes als Tauschmittel erfüllt. Ziel einer solchen Vereinbarung ist es, bestehende soziale, ökonomische und ökologische Ungleichgewichte zu kompensieren, die sich aus der Monopolstellung der offiziellen Währung bei lang andauernder Knappheit ergeben, ohne die Standardwährung gänzlich verdrängen zu wollen.19

    Was hat zu dieser „Erfindung" in und aus der Praxis geführt? Ganz sicherlich viele Umstände, aber vor allem eines: Als neu gewählter Bürgermeister von Wörgl fühlt sich Unterguggenberger sowohl politisch als auch moralisch für die Menschen seiner Gemeinde und in der näheren Umgebung verantwortlich. Er, der die Autobiographie des amerikanischen Industriellen Henry Ford20 aufmerksam gelesen hat, muss wohl auch darin auf Sätze wie diese gestoßen sein: „Vor allem glaube ich, dass … der Absatz unserer eigenen Waren bis zu einem gewissen Grade von den Löhnen, die wir zahlen, abhängig ist. Sind wir imstande, hohe Löhne auszuschütten, wird auch wieder mehr Geld ausgegeben, das dazu beiträgt, die Ladeninhaber, Zwischenhändler, Fabrikanten und Arbeiter anderer Industriezweige wohlhabender zu machen, und ihre Wohlhabenheit wird auch auf unsern Absatz Einfluss haben. Hohe Löhne aller Orten sind gleichbedeutend mit allgemeinem Wohlstand."

    Aber in der Zwischenkriegszeit wird genau gegenteilig verfahren und es klingt in manchem wie eine Warnung vor den Verhältnissen heute, was Johann Schorsch kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges schreibt: „Es ist ein tragisches Verhängnis, dass unsere Wirtschaftsführer … eingesponnen in das Dogma der Unfehlbarkeit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung … nicht sehen oder nicht sehen wollen, wohin die Entwicklung treibt. Sie predigen nach wie vor die Rettung durch Erniedrigung der Löhne und Gehälter, Verlängerung der Arbeitszeit, Abbau der sozialen Einrichtungen und setzen ihre ganze Hoffnung auf den Export."21

    Die Politiker der 1930er Jahre standen fassungs- und ratlos „vor einem Rätsel, dem Rätsel der Arbeitslosigkeit … des furchtbaren Paradoxons einer Not im Überfluss", wie es der Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Wien, Dieter Stiefel, in seiner grundlegenden Arbeit über jene Zeit formuliert.22 „Es ist das Schlimme bei uns, sagt der damalige Führer der österreichischen Sozialdemokraten, Otto Bauer, in einer Parlamentsdebatte, „dass wir seit Jahren an die Arbeitslosigkeit gewöhnt sind, dass wir darum gegen dieses entsetzliche Übel abgestumpft sind und dass deswegen die Öffentlichkeit die Schreckenszahlen der jetzigen Arbeitslosigkeit mit mehr Gleichmut hinnimmt, als das in anderen Ländern geschieht.23

    Es sind diese Fragestellungen und Probleme, mit denen Unterguggenberger in der Praxis, in seinem politischen Alltag konfrontiert ist. Und sie bleiben unverändert aktuell, wie ein Interview mit dem Chef der Drogeriekette DM für die „Stuttgarter Zeitung im Oktober 2005 zeigt, in dem dieser auf eine heute wie damals aktuelle Grundwahrheit hinweist: „Was ist die eigentliche Aufgabe der Wirtschaft? Die erste – sie muss Menschen mit Gütern und Dienstleistungen versorgen. Die zweite Aufgabe – die Wirtschaft muss diese Güter nicht nur produzieren, sie muss die Menschen auch mit ausreichend Geld ausstatten, damit sie diese Güter konsumieren können.

    Das geschieht heute nur unzureichend. In der Epoche der wirtschaftlichen Depression und durch die Politik der Deflation, in der Österreich und fast alle europäischen Staaten Anfang der 1930er Jahre stecken, geschieht es eben gar nicht. Die Wirtschaft und Politik nimmt diese ihre zweite Aufgabe nicht wahr. Es ist eine „Wirtschaft, die arm macht", wiewohl es ihre Aufgabe wäre, das Gegenteil zu erreichen.24 Wirtschaft soll „Wohlstand für alle schaffen – so der Titel des Buches des „Vaters des deutschen Wirtschaftswunders Ludwig Erhard, in welchem er schreibt: „Eine Wirtschaftspolitik ist nur dann und so lange für gut zu erachten, als sie den Menschen schlechthin zum Nutzen und Segen gereicht."

    Von 1929 bis 1933 steigt die Zahl der Arbeitslosen in Österreich von 192.000 auf 557.000, das sind 25 Prozent der Arbeiterschaft – jeder vierte Berufstätige ist also betroffen. Die Wirtschaftspolitik jener Jahre gereicht den Menschen wahrhaft nicht zum Nutzen und Segen. Auch in der 4.200-Seelen-Gemeinde Wörgl ist jeder Vierte arbeitslos.

    Unterguggenberger weiß aus eigener Anschauung, dass viele dieser Arbeitslosen in seiner Gemeinde und ihrer Umgebung schuldlos hungern und frieren. Sie sehnen sich nach nichts mehr als nach Arbeit und nach diesem kleinen Glück, das so wenig braucht. Als neuer Bürgermeister hat er nun, ob er es will oder nicht, eine große Verantwortung.

    Unterguggenberger mag sich in diesen ersten Tagen und Monaten seiner Amtszeit nur wie ein Glied in einer Stafette der Ohnmacht gefühlt haben, die nicht zu unterbrechen ist und wo jedes Glied die Verantwortung mit hilflosem Achselzucken an das nächste weiterreicht. Die Gemeinde kann den Menschen nicht helfen, weil sie eigentlich bankrott ist, und die Landesbehörden können nicht helfen, weil das Geld knapp ist und aus allen Städten und Dörfern Hilfe angefordert wird, und die Regierung und die zuständigen Minister in Wien sagen, sie könnten nichts tun, weil die weltwirtschaftliche Lage so ist, wie sie ist, und die Verhältnisse eben so sind, wie sie sind: Millionenheere von Arbeitlosen, Industrieruinen und Fabrikfriedhöfe in fast ganz Europa und in Amerika.

    Wiederum verweist das auf die Aktualität dieser Geschichte, weil sich – damals wie jetzt – „der Staat, um den Vermögensbereich der Reichen zu bedienen, das Geld von den Armen holt. Geld will immer zu Geld … Der Geldstrom fließt immer vom Bedarf weg zum Überfluss hin. Von den Schuldenbergen hin zu den Vermögensbergen."25

    Was Unterguggenberger erlebt, teilt er mit vielen Menschen seiner Zeit, die sich damals – wie heute – einreden oder einreden lassen: Die Ursachen der Krise liegen außerhalb deines Einflussbereiches und deiner Wirkungsmöglichkeiten. Es wird immer Arme geben, die leiden müssen, und Reiche, die angenehm und sorglos leben. Die Welt ist eingeteilt in Gewinner und Verlierer. Du kannst nichts tun. Deine bescheidenen, wiewohl berechtigten Wünsche bringen kein Gewicht auf die Waage der Welt.

    Aber Unterguggenberger ist ein Mann, „der nicht glaubt und wirklich anerkennt, was er nicht verstehen und begreifen kann, der nicht glaubt, wenn sich ihm etwas Unverständliches, wenn sich Lücken oder Widersprüche zeigen."26 Das aber heißt Fragen stellen und in Frage stellen: Sind die Gesetze der Wirtschaft wirklich so unverrückbar in ihrer Logik? Sind sie oft nicht geradezu widersinnig und unmenschlich? In Brasilien werden 1931 die Dampfloks statt mit Kohle mit Kaffeebohnen geheizt oder man wirft die Kaffeesäcke gleich tonnenweise ins Meer, um den Preisverfall zu dämpfen und die Kosten für Lagerhaltung zu senken. Aber in Europa, auch in Österreich, können sich die armen Leute keine Tasse warmen Kaffee leisten. Er ist fast unerschwinglich teuer. In Argentinien und den USA heizt man in diesem Jahr der Weltwirtschaftskrise die Lokomotiven mit Weizen, während in China zwei Millionen Menschen verhungern.27

    Diese wirtschaftliche Logik ist nicht von Gott gegeben. Diese angeblichen ökonomischen Notwendigkeiten sind nicht nach der Art physikalischer „Naturgesetze, sondern von Menschen gemacht. Und was von Menschen gemacht ist, lässt sich auch ändern. Und es muss geändert werden. War nicht im 19. Jahrhundert die Kinderarbeit, selbst unter Tage, eine „wirtschaftliche Notwendigkeit? Argumentierten die Sklavenhalter des amerikanischen Südens nicht für die Aufrechthaltung dieses erbärmlichen Zustandes, weil sonst die „Wirtschaft zusammenbrechen würde? Waren nicht bis 1870 in der österreichisch-ungarischen Monarchie Gewerkschaften und Streiks verboten gewesen, weil – wie es die kaisertreuen Zeitungen damals formuliert hatten – dies der „natürlichen Ordnung widerspricht, und nur in einer solchen kann sich die Wirtschaft gedeihlich und zum Wohle aller entwickeln. Und nun existieren Gewerkschaften und es gab und gibt Streiks. Nichts von all diesen Behauptungen ist also wahr gewesen, mag sich Unterguggenberger gedacht haben. Die „Gesetzmäßigkeiten und die unverrückbaren Ordnungen, die angeblich „heiligen Wahrheiten, sie alle waren nur vorgeschoben, um Reichtum und Macht einiger weniger zu sichern.

    Und Unterguggenberger erkennt, wie viele vor ihm und viele nach ihm erkennen: Wer das Bestehende, das nicht gut ist, zum Besseren ändern will, ist gelegentlich auch dazu verurteilt, geltendes Recht zu brechen. Oder es wenigstens herauszufordern. Und so fordert er das Banknotenprivileg der Nationalbank heraus.

    In einem Leserbrief an die schweizerische „Wiler Zeitung wird der Wörgler Bürgermeister ironisch-polemisch fragen: „Dass ich mir der Unrechtmäßigkeit meines Tuns bewusst war, wie Sie schreiben, fordert eine Ergänzung. Die bestehenden Paragraphen, weltfremdes Menschenwerk, waren allerdings gegen mich, aber das Recht der Not war für mich … Zu Ihren weiteren Wendungen in Ihrem Artikel wie ‚Machenschaften‘, ‚auf gesetzwidriger Grundlage aufgebaut‘, ‚krumme‘ Wege usw. stelle ich die höfliche Frage, wie man sich denn zu allen Zeiten aus der tödlichen Umklammerung überlebter Paragraphen und Zustände befreit hat? Haben sich nicht vielleicht auch Andreas Hofer oder Wilhelm Tell ungesetzliche Machenschaften zuschulden kommen lassen? Sind nicht auch sie krumme Wege gegangen?28

    Unterguggenberger wird sich in den Tagen der inneren Entscheidungsfindung wohl auch gesagt haben: Du musst selbst die Veränderung sein, die du in der Welt sehen willst. Dieser Satz des großen indischen Politikers und Freiheitshelden Mahatma Gandhi gilt unverändert fort, bis heute.

    Für den Wörgler Bürgermeister heißt das in den 1930er Jahren ganz konkret: Suche dir Verbündete und nimm sie mit auf deinen Weg der stillen, aber beständigen Empörung gegen die „Tyrannei der Tatsachen". Auf dich ist das Los gefallen! Du hast die Verantwortung, also nimm sie auch wahr!

    Wie aus einigen Briefen hervorgeht, weiß der Wörgler Bürgermeister, dass ihm sein Projekt verboten werden könnte. Er ahnt, dass er scheitern könnte. Aber das ist ihm kein Hindernis. Hier gleicht er der Figur aus Manés Sperbers Roman „Tiefer als der Abgrund, die erkennt: „Wir mögen verloren sein, aber unsere Sache selber ist unverlierbar. Wir waren Nachfolger, wir werden Nachfolger haben.

    Unterguggenberger will zumindest etwas zur Linderung der Not versuchen. Er wird dabei keine Gewalt anwenden, sondern sich der Gewalt beugen, wenn sie denn eingreifen sollte. Er wird sich sogar dem Spruch des geltenden Rechtes unterordnen, auch wenn er es als menschenfremd, ja menschenfeindlich einschätzt. Er wird ein stiller und sanfter Rebell sein.

    Und so nimmt die Geschichte, die hier nacherzählt werden soll, ihren Lauf.

    Der Beginn oder

    Ein ganz natürliches Wunder

    Der Anfang des Anfanges

    Niemand in Wörgl, dieser kleinen Gemeinde im Unterinntal, konnte sich später genau erinnern, wie alles begann. Denn am Anfang des Anfangs ist alles nicht mehr als eine Idee im Kopf und ein ungeformter Wunsch im Herzen eines Mannes. Alles ist zunächst nur eine vage Möglichkeit und ein dünnes Gespinst von Gesprächen zwischen einigen wenigen.

    Tatsache ist jedenfalls, was der kluge Beobachter Dr. Franz Klein damals im „Österreichischen Volkswirt", dem besten und einflussreichsten Wirtschaftsmagazin der Ersten Republik so beschrieben hat: Die Tiroler Gemeinde Wörgl habe im Elendsjahr 1932 aus eigener Tasche vergleichsweise viel für öffentliche Arbeiten ausgeben und zugleich ihren Haushalt in Ordnung bringen können.29 Die Zahl der Arbeitslosen geht während der Zeit des Währungsexperimentes in Wörgl, von Juli 1932 bis September 1933, um 25 Prozent zurück. Das hätte, auf Österreich umgelegt, eine Verringerung der Arbeitslosen um ca. 100.000 bewirkt.30 Was aber geschieht in der Alpenrepublik? Die Anzahl der Arbeitslosen in Österreich (wobei die Statistik nicht alle erfasste) steigt von 1932 mit 468.000 arbeitslos gemeldeten Personen auf 557.000 im Jahre 1933.31 Wahrhaftig, so der Beobachter Klein 1933, das ist „genug, um von einem (Wörgler) Wunder zu sprechen. Es ging dabei aber gar nicht übernatürlich zu"32.

    Die ganz und gar natürlichen Vorgänge beginnen eigentlich schon am 12. Dezember 1931, in der letzten Gemeinderatssitzung des Jahres. Da übernimmt Unterguggenberger, ein Sozialdemokrat und „Anwalt der kleinen Leute, das Amt des Bürgermeisters. Er wird Nachfolger von Josef Gollner, eines Kaufmannes in Wörgl, der 1928 für die „Bürgerliche Wirtschaftsvereinigung kandidiert hatte und gewählt wurde. Gollner tritt nun in das zweite Glied und wird Vizebürgermeister.

    Wegen seines chronischen Lungenleidens und auch um sich ganz den Aufgaben eines Bürgermeisters in schwerer Zeit widmen zu können, lässt sich Unterguggenberger als „Bundesbahnrevident und Maschinenmeister in den Ruhestand versetzen. Damit er sein wirtschaftliches Auskommen hat, wird ihm vom Gemeinderat für den erlittenen „Verdienstentgang eine zusätzliche Entschädigung von 150 Schilling monatlich zuerkannt. Das ist relativ viel Geld in dieser Zeit.

    Dieser Wechsel an der politischen Spitze der Gemeinde Ende 1931 erfolgt aufgrund einer Parteienvereinbarung, die Wörgl regierbar halten und die Verwaltung des Ortes mit seinen etwas über 4.000 Einwohnern sicherstellen soll. Denn der Gemeinderat setzt sich aus zwölf Vertretern des „Bürgerblocks" und ebenso vielen Sozialdemokraten zusammen.

    Es besteht also ein Patt zwischen den Fraktionen – und das seit den Gemeinderatswahlen von 1928.33 Der „Bürgerblock" von 1928 besteht aus insgesamt sechs bürgerlichen Parteien, die am 10. November 1928 ihre Wahlvorschläge gekoppelt hatten.34

    Abb. 1: Per Losentscheid zum Bürgermeister bestimmt: Michael Unterguggenberger

    Schließlich hatten sich die sozialdemokratische Partei und die Gruppen des Bürgerblocks mühsam zusammengerauft und entschieden, dass der Bürgermeister per Los bestimmt werden sollte. 1928 entschied das Los zugunsten Gollners und Unterguggenberger wurde Vizebürgermeister.35

    Doch im Dezember 1932 will es das Schicksal anders – „infolge gleicher Stimmenanzahl wurde hinsichtlich des Bürgermeisters das Los gezogen. Als jüngster Gemeinderat wird der Sozialdemokrat und Bahnbedienstete Josef Strobl zum Ziehen des Loses bestimmt – und er hat eine „glückliche Hand. Er bestimmt dadurch seinen Fraktionsvorsitzenden Michael Unterguggenberger zum Bürgermeister.36 In die Hand des anwesenden Vertreters der Bezirkshauptmannschaft Kufstein, Regierungsrat Jaksic, gelobt Unterguggenberger „an Eides statt, die Gesetze und die aufgrund des Gesetzes erlassenen Verordnungen der Staats- und Landesregierung zu befolgen, uneigennützig und unparteiisch seines Amtes zu walten und das wahre Wohle der Gemeinde nach bestem Wollen und Können zu fördern."37

    In seinen letzten Lebensjahren wird Unterguggenberger von sich selbst etwas ironisch als „Zufallsbürgermeister" sprechen und gleichzeitig etwas verbittert feststellen, dass er „nicht eine Stimme der Bürgerlichen" erhalten hat.38 Seltsam übrigens darüber nachzudenken: Hätte das Los anders entschieden, das Schicksal hätte es nicht erlaubt, dass eine Idee Wirklichkeit annehmen hätte können, die noch Jahrzehnte später auf Interesse stößt und bis heute eine, wenn auch oft modifizierte Nachahmung in der ganzen Welt findet. Andererseits: „Etwas fällt uns zu, aber wirklich nur zufällig, wie wir das so leichthin sagen? Ist das, was uns zufällt, nicht eher vorbestimmt, insgeheim erwünscht oder gar verdient?"39

    Unterguggenberger ist also gewählt. Aber wie verfällt der neue Wörgler Bürgermeister auf die Idee, mit Hilfe von Geld, das monatlich an Wert verlieren sollte, die Wirtschaft zumindest in seinem engeren Umkreis wieder in Schwung zu bringen?

    Gesichert ist nur, dass sich Unterguggenberger schon während des Ersten Weltkrieges mit den Schriften des deutschen Wirtschaftstheoretikers Silvio Gesell auseinander setzt. Ihm fällt in dieser Zeit ein Heft der Zeitschrift „Der Physiokrat" in die Hände. Sie wurde von Silvio Gesell herausgegeben.40

    Silvio Gesell hatte 1911 seine Abhandlung „Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld erstmals veröffentlicht. Sie wurde 1916 neu aufgelegt. Es scheint gesichert, dass sie Unterguggenberger gekannt und zumindest in Auszügen gelesen hat. Kern dieser „Freiwirtschaftslehre Gesells bildete die paradoxe Behauptung: „Die Währung kann nur dann fest sein, wenn die Geldnoten in ihrem Wert schwinden. Gesell definiert das Geld als bloß „güteraustauschende Kraft, das aber – seiner Meinung nach – von seinem Besitzer auch missbräuchlich verwendet werden könne, um nämlich „Zins zu erpressen, statt es für die Stimulierung zur Nachfrage nach Gütern zu verwenden. Genau die Nachfrage aber sei es, so Gesell, welche die Wirtschaft in Schwung und damit gesund hält. Daher muss seiner Meinung nach das Geld mit „Schwund, also Wertverlust, belastet werden, damit es nicht gehortet wird, sondern ständig im Blutkreislauf der Wirtschaft zirkuliert.

    Ein Wära für Wörgl?

    Gesichert ist auch, dass Unterguggenberger mit zwei Gesinnungsfreunden während der Pfingstfeiertage 1931 das kleine 500-Seelen-Dorf Schwanenkirchen im Bayerischen Wald besucht, wo ein Experiment mit sogenannten „Wära"-Tauschscheinen nach den Vorstellungen Gesells von dem Bergwerksingenieur Max Hebecker begonnen worden war (Details dazu im nächsten Kapitel). Die Aktion verläuft anfangs recht erfolgreich, das Schwundgeld wird aber schließlich vom damaligen deutschen Finanzminister Dietrich verboten. Dennoch – der Traum, den Hebecker geträumt und in die Tat umgesetzt hatte, der (wenn auch nur begrenzte) Erfolg von Schwanenkirchen war für Unterguggenberger ein Vorbild für seine ein Jahr später in Wörgl anlaufende Aktion. Er hatte aus Zeitungsberichten41 von dem Experiment in Schwanenkirchen erfahren und war auch mit Max Herbeck brieflich in Verbindung getreten.42 In diesem Schreiben vom 31. März 1931 interessiert sich Unterguggenberger besonders dafür, wie es denn möglich war, das Bergwerk mit Hilfe des Wära-Tauschscheins wieder in Betrieb zu setzen, und er fügt an: „ Ich möchte gerne hoffen, dass sich die Rettung eines Betriebes durch Wära auch bei uns in Tirol durchführen lassen möge."43

    Hebecker leitet diesen Brief an Hans Timm vom Wära-Handelsblatt weiter, der nun seinerseits ein Schreiben an den damaligen Vizebürgermeister von Wörgl richtet und ihm vorschlägt: „Wörgl in Tirol könnte den währungsmäßigen Anschluss an ein größeres Wirtschaftsgebiet durch die Einführung der Wära vollziehen."

    In Deutschland nehmen diese Alternativ-Währung am Höhepunkt ihrer Entwicklung über 2.000 Unternehmen in ganz Deutschland an, der genossenschaftlich organisierte Tauschring „Wära vergibt auch großzügig Kredite. Die Geschäftsstelle der Tauschgesellschaft gibt die Wära auf Anforderung und nach Bedarf gegen Reichsmark an örtlichen Wechselstellen aus. Genau darauf bezieht sich eine Textstelle im Brief Timms an den Wörgler Gemeindepolitiker Unterguggenberger: „Sie würden dann (in Wörgl) selbstverständlich Ihre eigenen Wechselstellen haben … Wenn Sie genügend Sicherheiten bieten können, würden Sie bis zu dreitausend Wära zinsfrei bekommen, weitere Darlehen von der Tauschgesellschaft gegen 3 Prozent … Von den Darlehen muss immer ein Teil kurzfristig sein, damit die Zentrale notfalls in den Besitz von Rückkaufsmitteln gelangt.

    Unterguggenberger ist sofort Feuer und Flamme für die Idee – und vor allem aus einem Grund, den er in einem Brief an seinen Schweizer Gesinnungsfreund Fritz Schwarz später so formulieren wird: „Freigeld braucht nämlich als Hintergrund Warenerzeugung und Warenherstellung und die Zellulosefabrik sollte womöglich wieder eine solche werden."44

    Er schildert Timm die Lage: „Mit 1.1.1931 wurde hier eine Zellulosefabrik mit gemischter Erzeugung stillgelegt und sämtliche Angestellte und Arbeiter entlassen. Der Betrieb wurde vor 80 Jahren gebaut und arbeitete all die Jahre mit hoher Aktivität … Die Anlagen liegen alle sehr günstig am Bahnhof. Es sind eigene Wohnhäuser für die Arbeiter, zwei landwirtschaftliche Betriebe, eigenes Sägewerk, eigene Wasserkraft (in einem E-Werk) und Industriegeleise in den Bahnhof einmündend vorhanden … Alles ist derzeit verkäuflich … Für die Wära-Aktion hätte die Inbetriebnahme der Fabrik eine ungemein große Bedeutung … Die Fabrik wäre der beste Holzkäufer Tirols und man würde bei einem Betriebe der Fabrik durch Wära mit einem Schlage fast alle Gemeinden (Waldbesitzer) Tirols in den Wära-Kreislauf zwingen. Die Umgebung von Wörgl mit einem Dutzend kleinerer und größerer Gemeinden und natürlich selbst würde bald ein Gegenstück von Schwanenkirchen sein."45

    Das heißt – schon als Vizebürgermeister hat Unterguggenberger ganz klare Vorstellungen davon, was er tun würde, sollte er einmal an die Spitze der Gemeinde gelangen. Dass er sein eigenes „Schwundgeld" erfinden würde, ahnt er noch nicht. Aber alles, was ihm später als Bürgermeister großteils gelingen wird, hat er schon in diesem März 1931 gedanklich vorgezeichnet. Und bis zum Schluss seiner Amtstätigkeit wird er wieder und immer wieder Anläufe unternehmen, um die Zellulosefabrik flottzukriegen.

    Dann erkrankt Unterguggenberger schwer. Er braucht Erholung, und so muss er die geplante Reise nach Schwanenkirchen verschieben. Aber er möchte, so heißt es in einem Brief an Hebecker, „in der Zwischenzeit schon beginnen, hier im Ort einen Wära-Kreislauf in einem kleinen Maße herzustellen. Zu diesem Zwecke bitte ich sie um folgende Informationen:

    Erstens: Wie könnten sie die Schwanenkirchner Braunkohle franko Wagen an die Station Wörgl liefern?

    Zweitens: Detto Briketts, bis wann sind solche überhaupt lieferbar? Absatz hierfür wäre günstig.

    Drittens: Welche Firmen aus dem Wära-Kreis kämen als Einkaufsstellen für ein hierörtliches Warengeschäft in Betracht?"46

    Und dann entwickelt Unterguggenberger ein Szenario, das sich 14 Monate später ziemlich genau in Wörgl tatsächlich so entwickeln wird: „Ich will zunächst mit der Bildung des örtlichen Wära-Kreislaufes so beginnen, dass sich das Geschäft meiner Frau zur Wära-Annahme verpflichtet und eine Wechselstelle einrichtet … Wenn es einmal allgemein bekannt ist, dass man in diesem Geschäfte Waren aller Art gegen Wära tauschen kann, wird man auch leicht Arbeiter, Gewerbetreibende usw. finden, die gerne gegen Wära arbeiten. Der Kreislauf schließt sich und für das Anwachsen wird schon gesorgt werden. Zum großen Teil besorgt das schon das altherkömmliche Geld mit seinen Eigenschaften und Folgen."

    Warum es dann doch nicht dazu kam, ist aus dem Brief ersichtlich: „Es bestehen Schwierigkeiten in der Wära-Überweisung und beim Warenbezug aus Deutschland wegen der Grenz- und Zollhindernisse."

    So bringt das Jahr 1931 also nicht den erhofften Wära-Kreislauf nach Wörgl. Die Zellulosefabrik liegt weiter still.

    Hektik und trügerische Stille

    Das neue Jahr 1932 zieht herauf. Der Bezirkshauptmann von Schwaz und spätere Sicherheitsdirektor von Tirol, Anton v. Mörl, schreibt in sein Tagebuch: „Silvester sehr still gefeiert. Die Unsicherheit der Währung, die große Arbeitslosigkeit und die vollständige Unklarheit über die Zukunft drücken auf die Stimmung."47 In den meisten Tiroler Gemeinden und wohl auch in Wörgl wird – trotz aller Feiern, des üblichen Umtrunks zu Mitternacht und der Böllerschüsse – zumindest bei den Nachdenklichen und Verantwortungsträgern eine ähnliche Gefühlslage vorzufinden gewesen sein.

    Vor allem die soziale Lage ist bedrückend. Zum Ende des Jahres 1932 hat das Sozialministerium die 28. Novelle zur Sozialversicherung (in den Augen der Sozialdemokraten eine „Hinrichtlinie") erlassen.48 Sie sieht in vielen Bereichen Verschlechterungen vor, „ so dass man überhaupt nur noch verhungern konnte."49 In rein ländlichen Gebieten – und das trifft auf Tirol besonders zu – wird überhaupt keine Unterstützung (Notstandshilfe) mehr gezahlt.50

    Diese Gesetzesnovelle ist eine schwere Last, denn Wörgl ist 1932 eine Industriegemeinde mit ehemals vielen florierenden Betrieben gewesen: Zellulose- und Zementfabrik, die Brauerei Zipf und das Bundesbahnheizhaus – aber alles kommt nach und nach zum Stillstand. Von den Arbeitern in Wörgl und Umgebung werden in den Jahren 1930 und 1931 an die 1.500 Mann arbeitslos. In der Gemeinde selbst sind es Anfang 1932 ca. 400 Arbeitslose, davon 200 bereits Ausgesteuerte.51

    Die ersten Wochen, ja Monate der Amtszeit des neuen Bürgermeisters von Wörgl verlaufen nach außen hin unspektakulär. Denn, wie Stefan Zweig in seinem Vorwort für die „Sternstunden der Menschheit geschrieben hat: Die Geschichte „reiht als Chronistin nur gleichgültig und beharrlich Masche an Masche, Faktum an Faktum, denn alle Spannung braucht Zeit der Vorbereitung, jedes wirkliche Ereignis Entwicklung.

    Für das Wörgler Währungsexperiment gilt freilich auch, was Tocqueville52 über den Ursprung der Französischen Revolution geschrieben hat, dass sie nämlich keineswegs „aus dem Nichts eine neue Welt erschaffen hat, sondern mehr oder minder plötzlich und wie durch ein Wunder alles zur Reife brachte, was schon vorher keimte und heranwuchs."

    Unterguggenberger bezieht also Anfang Jänner 1932 das Bürgermeisterzimmer im Gemeindeamt. Er ist „ein Mann von hoher Intelligenz und praktischem Sinn, wie es der amerikanische Universitätsassistent Cohrssen in der Zeitschrift „New Outlook formuliert. Er studiert morgens einmal flüchtiger, dann wieder ausführlicher die Tageszeitungen, die insgesamt wenig Erfreuliches zu berichten haben. Er kämpft sich durch die Erlässe, Gesetze und Verordnungen, die wöchentlich auf seinen Schreibtisch gespült werden. Er korrespondiert mit der Bezirkshauptmannschaft Kufstein, mit der Landesregierung in Innsbruck. Er bekommt jeden Tag die wichtigsten Neuigkeiten aus Tirol und natürlich aus Wörgl auf den Tisch. Und was er nicht so erfährt, das hört oder sieht er, wenn er durch die Straßen und Gassen geht oder sich auf den Heimweg macht. Die Menschen sprechen ihn an, tragen ihre Wünsche vor, erzählen ihm von ihren Sorgen und Nöten.

    Unterguggenberger verbringt vom frühen Morgen an den ganzen Vormittag im Amt. Mittags kommt ihn öfters seine Tochter Lia zum Mittagessen holen. „Meistens hat mir die Mutter den Auftrag gegeben, gleich nach der Schule hinüber zu gehen ins Gemeindeamt. Da bin ich dann in den ersten Stock hinaufgestiegen. Ich hab’ das eigentlich ganz gerne gemacht. Der Vater hat ja immer so furchtbar viel zu tun gehabt. Er wäre wohl immer zu spät gekommen, wenn ich ihn nicht geholt hätte, und das Essen wäre kalt geworden."53

    Aber selbst auf den knapp zehn Minuten auf dem Weg nach seinem kleinen Haus in der Jahnstraße 3 wird er in die Pflicht genommen.

    „Unterguggenberger, einen Augenblick bitte. Der Bauer kommt über die Straße gelaufen. „Ich hätt’ da eine Bitte wegen des Feldweges neben unserem Hof, der soll doch …

    „Ja, ja, ich weiß schon. Komm’ heute Nachmittag ins Amt. Wir brauchen die Pläne dazu, sonst hilft’s nichts."

    „Danke, Unterguggenberger. Bis dann also!"

    „So ging’s immerzu, erinnert sich die Tochter Unterguggenbergers, Lia, später. „Fast alle im Dorf gingen zu ihm, um sich einen Rat oder Hilfe zu holen. Immer sagten sie: Du bist unser Michl, du machst es schon für uns.54

    Abb. 2: Bürgermeister Unterguggenberger mit seinem Töchterchen Lia

    Routinemäßig und so wie gehabt finden in Wörgl die Gemeinderatssitzungen in den Gasthäusern statt. In ihnen geht es schwergewichtig nur um eines – um das Budget für das laufende Jahr, das schon längst erstellt sein sollte. Aber das Zahlenwerk will ob der drückenden Schuldenlast und der sinkenden Einnahmen nicht und nicht gelingen. Es liegt nicht am Parteienhader, nicht an den ideologischen Gegensätzen der im Gemeinderat vertretenen Fraktionen, dass der Haushalt für 1932 bisher nicht zustande gekommen ist. Nein, eigentlich müsste sich die Gemeinde Wörgl bankrott erklären beziehungsweise müsste bald das Konkursverfahren über sie eröffnet werden.

    Was heute nicht vorstellbar scheint, war damals, in den 1930er Jahren, durchaus möglich. „Laut dem Amtsblatt der Klagenfurter Zeitung ist über das Vermögen der Gemeinde Eisenkappel der Konkurs eröffnet worden."55 „Die Stadtgemeinde Donawitz geht mit 200.000 Schilling Schulden in Konkurs."56

    Was Eisenkappel und Donawitz 1933 tatsächlich widerfährt, hängt 1932 mittelfristig auch drohend über Wörgl. Die Gemeinde im Unterinntal steht bei der Innsbrucker Sparkasse mit unvorstellbaren 1,3 Millionen Schilling in der Kreide und kann nicht einmal den Zinsendienst für den laufenden Kredit bedienen, von Kapitaltilgung gar nicht zu reden.57 Völlig aussichtslos daher, von einem neuen Darlehen zu träumen, das eine Atempause verschaffen würde. Auch keine andere Bank in Österreich fände sich dazu bereit.

    Sicher, es gibt viele und große Steuerschuldner in der Gemeinde, manche haben noch nicht einmal die Abgaben des Jahres 1929 entrichtet.58 Aber diese Außenstände Wörgls mit Zwangsmitteln einzutreiben, würde nur zu neuer Arbeitslosigkeit führen. Es würde eine Reihe von Gewerbebetrieben und Geschäften, die Steuerschulden haben, zusperren müssen. Aber weder diesen Bankrott noch den der Marktgemeinde will irgendjemand in Wörgl; und so suchen alle Parteienvertreter nach einem Ausweg, der sich freilich nicht und nicht zeigen will.

    Unterguggenberger absolviert in diesen ersten Wintermonaten des Jahres 1932 auch seine „Antrittsbesuche" bei den Bürgermeistern der Nachbargemeinden, in Kirchbichl, Häring, in Langkampfen. Was er sieht und hört, ist wenig erfreulich. Die Lage dort ist auch um nichts besser als in Wörgl.

    Wie in den Nachbargemeinden muss sich auch Unterguggenberger als der neue Bürgermeister von Wörgl in den ersten Wochen und Monaten seiner Amtszeit die Klagen der Gastwirte und Beherbergungsbetriebe seines Ortes anhören. Alle sind ratlos und verzweifelt wegen der bisher dürftig verlaufenen Wintersaison. Wie es aussieht, werden diesmal noch weniger Gäste aus dem Ausland, vor allem aus Deutschland, kommen. Kein Wunder, die deutschen Behörden heben seit 1930 von ihren Bürgern bei allen Auslandsreisen eine Gebühr von 100 Mark ein.59 Etwas mehr als ein Jahr später wird Hitler freilich durch die sogenannte 1.000-Mark-Sperre das Zehnfache verlangen.

    Unterguggenberger hört sich auch das altbekannte Jammern über die miserablen Straßen in Wörgl an, die streckenweise nur noch aus Schlaglöchern bestehen, er hört die Klagen über die mangelnde Beleuchtung, die außerhalb des Ortszentrums ganze Viertel im Dunkel lässt. Die einzige „öffentliche" Beleuchtung an klaren Abenden ist der Mond.

    Über dieser ersten Phase der Amtszeit Unterguggenbergers, die in Routine abzulaufen scheint, liegt auch eine merkwürdige Stille, zumindest was das Schwundgeld-Projekt betrifft, das der Bürgermeister in seinem Kopf hat und das er auf den Weg bringen will.

    Diese Stille steht im scharfen Gegensatz zu der Hektik, die ihm die alltäglichen Sorgen und Probleme der Gemeinde und ihrer Bürger aufzwingen. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht eine neue Hiobsbotschaft auftaucht, und sei es nur aus dem Nachbarort Kirchbichl, in dem viele Wörgler Arbeit in der dortigen Zementfabrik haben: „Vor einem Jahr, so berichten die Tiroler Zeitungen, „erfolgte in Kirchbichl die Sperre des Zementwerkes Bruckermühle und damit die Auflassung der Egger-Lüthigrube in Häring. Durch diese Maßnahme glaubte man dem verminderten Konsum entsprechend Rechnung getragen zu haben und hoffte, dass wenigstens der uneingeschränkte Betrieb in Kirchbichl aufrecht erhalten werden kann. Diese Hoffnung erwies sich als trügerisch und im Laufe des Jahres musste auch ein Teil der Kirchbichler Belegschaft entlassen werden. Die jetzt bevorstehende fast vollständige Stilllegung des Werkes ist geradezu niederschmetternd. Denn dadurch sind jetzt rund 700 Arbeiter auf der Straße und wo sollen diese in unserer Gegend Beschäftigung und Verdienst finden?

    Und wie sieht der noch amtierende Bundeskanzler Karl Buresch die allgemeine Lage? Buresch erklärt auf einer Versammlung im niederösterreichischen Gänserndorf: „Es hat im Laufe der letzten Monate wiederholt so ausgesehen, als ob in Österreich alles zusammenbrechen sollte, Währung, Staatshaushalt, die ganze Wirtschaft. Nunmehr können wir sagen: Die größten Sorgen sind vorbei und die Kümmernisse sind überwunden."60 Es sind Worte aus einer „wirklichkeitsleeren Welt", in die Berufspolitiker damals wie heute geradezu zwangsläufig hineingeraten.61 Unterguggenberger und die Menschen in Wörgl, Kirchbichl, Langkampfen und Häring haben jedenfalls eine radikal andere Wahrnehmung als der Bundeskanzler der Republik Österreich.

    Der Wörgler Bürgermeister Unterguggenberger spürt in diesen ersten Monaten seiner Amtszeit vermutlich ganz intensiv: Er ist in einer für ihn neuen Lage, die er sich so nicht vorgestellt hat. Er kennt zwar als Vizebürgermeister und Mitglied des Gemeinderates aus all den vorangegangenen Jahren die sich ständig verschlimmernde Lage. Er weiß um das von Jahr zu Jahr wachsende Budgetdefizit seiner Gemeinde, die drastisch sinkenden Steuereinnahmen. Er weiß um die Aussichtslosigkeit, durch öffentliche Aufträge die anschwellende Zahl der Arbeitslosen, der Notstandshilfebezieher und jener „Ausgesteuerten", die überhaupt keine öffentliche Unterstützung mehr erhalten, zu senken. Er weiß um diese Armen von Wörgl und Umgebung, die in immer größeres Elend absacken und denen die herrschenden Verhältnisse und die Politik anscheinend keine Perspektive für eine bessere Zukunft zu bieten haben.

    Diese Menschen leiden nicht nur äußere, sondern auch innere Not. Sie empfinden Scham und Verzweiflung: „Der Bettel, den wir vom Staat bekommen, reicht für ein paar Tage, aber die Scham, auf diese kleine Unterstützung angewiesen zu sein, reicht für mehr als ein ganzes Monat."62

    Leiser Zorn über die Unbegreiflichkeiten einer Wirtschaft, die sich um Menschen scheinbar nicht kümmern will, ist in diesen Menschen, mit denen Unterguggenberger und auch die anderen Gemeinderäte und die beiden geistlichen Herren der katholischen Kirche in Wörgl gut mitfühlen können.

    Am Stadtrand von Wörgl steht die große Zellulosefabrik, die dem französischen Konzern Darbley gehört hat. Noch im Februar 1932, also vor einem Jahr, hatten hier fast 350 Menschen Beschäftigung. Seit Dezember 1932 ist freilich die Fabrik wie ausgestorben, ein industrielles Geisterschloss, in dem nur noch 11 Menschen für einen kärglichen Lohn („zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben") arbeiten. Sie bewachen die stillgelegten Maschinen, die auf den Abtransport warten, und die gespenstisch leeren, riesigen Hallen. Dasselbe Bild bietet sich in der Brauerei Zipf.

    Da läuft doch etwas entschieden falsch. Unterguggenberger hat das autobiographische Buch des amerikanischen Industriellen und Autofabrikanten Henry Ford mehrmals aufmerksam und mit Begeisterung die Sätze gelesen: „Welchen Nutzen hat eine Industrie, wenn sie so ungeschickt geleitet wird, dass sie nicht allen Beteiligten eine menschenwürdige Existenz zu schaffen vermag?"63

    In den 1930er Jahren wird allenthalben deflationistische Wirtschaftspolitik64 betrieben, natürlich auch in Österreich. Unterguggenberger wird diese später sehr eindrucksvoll und griffig beschreiben und „seine sozialdemokratische Partei angreifen, welche die Abbauprogramme der Regierungen – trotz aller verbalen Kritik – letztlich unterstützt oder zumindest nicht verhindert. „Abbaupolitik, Sparmaßnahmen, Preissenkungen, Personal- und Lohnabbau und Produktionssperren aller Art werden verordnet. Das Sinnvolle solcher Maßnahmen liegt auf der Hand und sieht etwa so aus: Ich schränke mich ein und gehe barfuß (hilft das dem Schuster?). Ich schränke mich ein und reise nicht (hilft das der Bundesbahn?). Ich schränke mich ein und esse keine Butter (hilft das dem Bauern?).65

    Die Folgen der Deflationspolitik sind für einen, der Augen hat zu sehen, der Ohren hat zu hören und der willens ist, sich zu informieren, jederzeit erfahrbar.

    So schreibt ein Hugo A. aus Innsbruck dem „Stempler, dem „Organ der Arbeitslosen, folgenden Brief: „Ich bin seit Oktober 1931 arbeitslos. Seit Dezember 1931 stehe ich in Notstandsunterstützung. Ich bekomme in der Woche 13,23 Schilling. Mietzins zahle ich 48 Schilling monatlich. So bleibt mir zum Leben für mich und meine Lebensgefährtin 1,20 Schilling in der Woche. Ich bin schon zweimal delogiert worden, weil ich die Miete nicht bezahlen konnte. Ich stelle an den Ministerrat die Bitte, er möge mir raten, wie zwei Personen pro Woche für 1,20 Schilling leben sollen." Damals kostet ein halbes Kilogramm Kaffee-Ersatz 1,56 Schilling, ein Ei 11 Groschen, ein Kilogramm Erdäpfel 20 Groschen.

    Ein anderes Schicksal: „Ich war früher Kaufmann, habe durch die Geldentwertung mein ganzes Vermögen verloren. Von 1923 bis 1930 suchte ich vergeblich eine Stelle, war dann von Mai bis Oktober Verkäufer, dann wurde ich wegen schlechten Geschäftsgangs wieder abgebaut. Ich bekam 84 Tage Arbeitslosenunterstützung, wurde dann aber abgewiesen. Aus Verzweiflung über meine Not unternahm ich einen Selbstmordversuch, wurde aber gerettet. Zuletzt war ich Nachtaufseher in einer Wärmestube, bekam dann acht Wochen Arbeitslosenunterstützung, wurde dann aber wieder abgewiesen. Ich bin 50 Jahre alt, habe eine schwer herzkranke Frau, stehe ohne jede Hilfe da. Was soll ich machen? Ich lebe derzeit mit meiner kranken Frau wie ein Hund von Abfällen."66

    „Die Armut war unter den Arbeitslosen so arg, dass mir Gendarmen, die Hausdurchsuchungen vorgenommen hatten, erzählten, sie hätten in den Wohnungen mancher Arbeitsloser nichts gefunden als einen Strohsack und einen Sessel."67

    Am 23. April schreibt das Tiroler Sonntagsblatt, das Unterguggenberger regelmäßig liest, vom Selbstmord eines 54-jährigen Bauernknechtes aus der Umgebung Wörgls, der wegen „Schwermut und wirtschaftlicher Not Hand an sich gelegt hat".

    Viele Menschen, vor allem die Arbeitslosen in Wörgl und Umgebung, hoffen, dass der neue Bürgermeister Unterguggenberger ihr Schicksal irgendwie doch noch wenden wird können, dass er etwas ändern kann, vielleicht ein „Wunder" wirken wird.

    Unterguggenberger kennt eine Reihe dieser Arbeitslosen persönlich, sie tauchen ja gelegentlich als Bittsteller in seiner Amtsstube auf. Da sind Männer, geschickt meist von einer verzweifelten Frau, die sich mit Aushilfsarbeiten abrackert und die dennoch den Hunger ihrer Kinder nicht stillen kann. Aber er kann ihnen nur Vertröstungen oder bestenfalls vage Hoffnungen mitgeben, muss sie wieder nach Hause schicken, wo sich manche von ihnen in diesen Wintermonaten voll angekleidet zu Bett legen müssen, um in ihren ungeheizten Behausungen nicht zu erfrieren.68 Er kann ihnen keine Arbeit verschaffen, die ihnen wieder Würde und Sinn zurückgeben würde. Denn es können derzeit weder vom Bund noch vom Land und schon gar nicht von der Gemeinde Geldmittel zur Verfügung gestellt werden, um ein Arbeitsbeschaffungsprogramm zu starten oder durch soziale Zuwendungen diese Not zu lindern.

    Aber Unterguggenberger scheint nun fester denn je entschlossen, das wirtschaftspolitische Experiment, das ihm vorschwebt, endlich auf den Weg zu bringen. Er weiß, das geht natürlich nicht mit den Ideen der „Säulenheiligen seiner sozialdemokratischen Partei zusammen. Das ist für die Überzeugungsarbeit, die ihm und seinem Team bevorsteht und über die er sich keiner Illusion hingibt, sogar von Nutzen. Der Wörgler Bürgermeister und einstige Gewerkschaftsfunktionär hat den einst so berühmten Satz seiner sozialdemokratischen Gesinnungsgenossen im freiwirtschaftlichen Sinne umgeschrieben: „Alle Räder stehen still, wenn das Geld nicht kreisen will.69 Er wird in einem Brief an den sozialdemokratischen Grazer Bürgermeister Vinzenz Muchitsch schreiben: „Der voll verantwortungsbewusste Führer kennt keine Heiligen mit Ewigkeitsgeltung. Wir verehren Karl Marx als den Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus – aber nicht im blinden Glauben, sondern mit Überlegung. Was wir als falsch erkannt haben, muss fallen, was unzureichend ist, muss ergänzt werden."70

    Unterguggenberger will auch seinen verehrten Silvio Gesell, aus dessen Gedankengebäude er eine einzige Idee herausnimmt und modifiziert in der Praxis anwenden will, nicht auf ein Podest stellen. Er will ihn nicht zu einem Idol erheben, auch wenn schon am 22. Jänner 1932 im Gemeinderat seinem Antrag stattgegeben wurde, die bisherige Schulstraße in Wörgl nach Silvio Gesell zu benennen.

    Fast alles an Gesells Theorien, so dürfen wir annehmen, gefällt Unterguggenberger. Aber mit manchem könnte er sich überhaupt nicht einverstanden erklären. Etwa, wenn Gesell fordert: „Das Volk muss bewaffnet sein! In jedes Haus gehört ein Gewehr mit Munition. In jedes Dorf gehört neben die Feuerspritze ein Geschütz … Sorgen wir dafür, dass jeder Bürger, jede Bürgersfrau, jeder Knabe, jedes Mädchen bewaffnet sei – bis an die Zähne. Auf die Waffen allein ist wirklich Verlass (…). Es muss etwas Neues geschehen, und gegen dieses Neue wird sich der Kapitalismus stemmen. Wenn das Kommando ‚Vorwärts auf der ganzen Linie‘ des

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