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Erinnerung und Authentizität: Zur Zeitphilosophie bei Husserl, Bergson und Heidegger mit einem Exkurs zu Proust
Erinnerung und Authentizität: Zur Zeitphilosophie bei Husserl, Bergson und Heidegger mit einem Exkurs zu Proust
Erinnerung und Authentizität: Zur Zeitphilosophie bei Husserl, Bergson und Heidegger mit einem Exkurs zu Proust
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Erinnerung und Authentizität: Zur Zeitphilosophie bei Husserl, Bergson und Heidegger mit einem Exkurs zu Proust

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About this ebook

"Obwohl Prousts souvenir involontaire ein allerpersönlichstes Erleben zeitigt und auf einzigartige Weise mit der individuellen Lebensgeschichte verknüpft ist, ist sein Auftreten nicht an einen einsichtigen Willensakt, sondern an die radikale Unverfügbarkeit des Zufalls gebunden."
Dass Erinnerung in zeitlichem Sinn einen besonderen Zugang zu Authentizität darstellt, ist die leitende Hypothese für die Erörterungen zur Zeitphilosophie von Husserl, Bergson und Heidegger und diese gewinnt in der Interpretation von Prousts Roman "A la recherche du temps perdu" von Seiten der Dichtung zusätzliche Plausibilität.
LanguageDeutsch
Release dateNov 18, 2015
ISBN9783739263694
Erinnerung und Authentizität: Zur Zeitphilosophie bei Husserl, Bergson und Heidegger mit einem Exkurs zu Proust
Author

Hendrik Peter Nicolas Scholl

Hendrik Scholl studierte Humanmedizin und Philosophie an der Eberhard Karls Universität Tübingen und der Brown University in Providence, Rhode Island. Schon früh interessierte er sich für Erkenntnistheorie und später für Wahrnehmung und das menschliche Sehsystem. Er habilitierte im Fach Augenheilkunde an der Universität Tübingen und arbeitete als Heisenberg‐Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der Universitäts‐Augenklinik der Universität Bonn, bevor er als Professor of Ophthalmology 2010 an die Johns Hopkins University, Baltimore, Maryland, USA, berufen wurde. Am Wilmer Eye Institute leitet er die Klinik für Netzhautdegenerationen, die Visuelle Neurophysiologie und das Zentrum für Stammzelltherapie und okuläre regenerative Medizin.

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    Book preview

    Erinnerung und Authentizität - Hendrik Peter Nicolas Scholl

    Für Friederike

    Inhaltsverzeichnis

    Einleitung

    I. Teil

    EDMUND HUSSERL: Das Problem der vollkommenenen Selbstgegebenheit in der lebendigen Gegenwart. Authentizität in der Nachträglichkeit als differentieller Wiederholung.

    1. Authentizität als vollkommene Selbstgegebenheit

    2. Zeitlichkeit als Ermöglichungs- und Hinderungsgrund authentischer Selbsterfassung

    3. Retentionalität als Ursprung der lebendigen Gegenwart

    II. Teil

    HENRI BERGSON: Das Phänomen der Zeitlichkeit zwischen durée concrète und temps homogène. Authentizität im souvenir pur.

    1. Das Zeitphänomen in statischer und dynamischer Sicht: temps homogène versus durée concrète

    2. Der Intellekt als handlungsrelativer Selektionsapparat in der Dialektik von souvenir pur und perception pure

    3. Die philosophische Intuition als unmittelbare Authentizität

    4. Die Kritik Sartres und die Zeitlichkeit des Pour-soi

    III. Teil

    MARTIN HEIDEGGER: Die ekstatisch-horizonthafte Struktur der Zeitlichkeit. Authentizität als existenziale Selbstidentifizierung in der Verklammerung von Zukunft und Gewesenheit.

    1. Wege mit Heidegger aus dem Reflexionsmodell der traditionellen Theorie des Selbstbewußtseins und sein Neuentwurf von Authentizität

    2. Heideggers ekstatisch-horizonthafte Zeitlichkeit und sein temporaler Entwurf von Authentizität

    Exkurs

    MARCEL PROUST: A la recherche du temps perdu. Authentizität im souvenir involontaire.

    1. Bausteine für eine strukturelle Analyse des souvenir involontaire

    2. Prousts wiedergefundene Zeit im souvenir involontaire

    Literaturverzeichnis

    Einleitung

    Authentizität als Leitbegriff einer philosophischen Untersuchung über den Zeitbegriff anzusetzen bedarf einer Erläuterung. Begriffsgeschichtlich ist die Forschungslage desolat, und so zirkulieren Meinungen, die einer philosophischen Fundierung entbehren. Der Begriff der Authentizität erfährt auf der einen Seite eine affirmativ geprägte Verwendung, welche ihn mit der Aura eines ‘ganz Anderen’ belegt und ihn als Chiffre für das Unsagbare zirkulieren läßt, auf der anderen Seite eine Ablehnung, die sich mit der Geste der Selbstverständlichkeit des Anstößigen artikuliert. So sehr dem Begriff die Würde eines philosophischen noch aberkannt wird, so ist ihm die Wertschätzung auf dem Gebiet des Ästhetischen in übersteigerter Form zugekommen. Das Ideal des Authentischen suggeriert, als gebe es Gehalte jenseits von Zeit und Geschichte, „das zeitlos Wirkliche hinter seiner rationalisierenden, kulturgeschichtlichen Verkleidung"¹, und dem Künstler wird in seiner gesellschaftlichen Randstellung ein privilegierter Zugang zu den natürlichen Paradiesen des Authentischen zugesprochen.²

    Und doch kann Authentizität sehr wohl als philosophischer Begriff fruchtbar gemacht werden, wird damit doch der „Wunsch nach einem Durchbrechen der Oberfläche der Repräsentation, nach einfacher, reiner Unmittelbarkeit des Daseins, nach der Echtheit des Ansich jenseits der gesetzesmäßigen Abstraktheit"³ ausgedrückt und somit ein oder das Grundanliegen von Philosophie überhaupt. Im folgenden soll aber gerade die Unterbestimmtheit des Begriffs eine Chance bieten, und zwar für das philosophisch ‘technische’ Verfahren, Verschiedenes unter einen Grundbegriff zu subsumieren, gleichzeitig aber nicht die besondere Individualität preiszugeben mittels einer durch inhaltliche Vorentscheidungen zu engen Fassung eben dieses Grundbegriffs. Zweifelsohne bezeichnet Authentizität einen wesentlichen Bedeutungsaspekt moderner Subjektivität.⁴ Gleichwohl präsentiert sich deren Fassung (oder Überwindung) keinesfalls in identischer oder auch nur homogener Weise. Ist Authentizität also die vollkommene reflexive Selbstgegebenheit der letztfungierenden transzendentalen Subjektivität nach Husserl, das intuitive Erfassen des Bewußtseins seiner selbst in der durée concrète nach Bergson, die existenziale Selbstidentifizierung des jeweilig existierenden Daseins nach Heidegger oder die Restauration des vrai moi im souvenir involontaire nach Proust? Es gilt also, mit einem noch ‘unfertigen’ Verständnis von Authentizität an die Texte heranzugehen und dem Ansatz der jeweiligen Zeitphilosophie zu folgen, um dann möglichst immanente Zusammenhänge (und Unstimmigkeiten) aufzuzeigen, inwiefern nämlich die Frage nach der Zeit das der jeweiligen Philosophie zugrunde liegende Telos berührt.

    Authentizität soll im folgenden als Formalanzeige für dasjenige fungieren, was in der jeweilig dargestellten Philosophie als Horizont für die Frage nach der Zeit auftritt. Wenn Bernet behauptet:

    Die traditionelle Behandlung logischer Probleme (z. B. Satz des Widerspruchs, copula im prädikativen Satz), psychologischer Probleme (res cogitans im Verhältnis zur res extensa), metaphysischer Probleme (Scheidung von essentia und existentia) und theologischer Probleme (Begriff der Schöpfung) setzt eine bestimmte Auffassung der Zeit voraus.

    so gilt zweifelsohne der Umkehrschluß, daß nämlich die jeweilige Zeitauffassung von eben dem genannten logischen, psychologischen, metaphysischen und theologischen Gedankengut durchsetzt ist. Beides bestimmt sich wechselseitig. Die Frage nach der Zeit ist dabei immer mehr in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Dies bezeugt schon die Tatasache, daß wesentliche Impulse für das Projekt einer Philosophie der Zeit in das 20. Jahrhundert gehören: Bergson, Husserl und Heidegger. Gerade wenn die Philosophie der Moderne es auf eine Neufassung von Subjektivität angelegt hat, so erwächst daraus auch die Einsicht, daß dies nur über eine Beschäftigung mit dem Problem der Zeit erfolgen kann. Aber die Frage nach der Zeit führt schon mit ihrer Formulierung in ein Dilemma, das Augustinus folgendermaßen beschreibt:

    Denn was ist ‘Zeit’? Wer könnte das leicht und kurz erklären? Wer vermöchte es auch nur gedanklich zu begreifen, um sich dann im Wort darüber auszusprechen? Gleichwohl, was ginge uns beim Reden vertrauter und geläufiger vom Munde als ‘Zeit’? Beim Aussprechen des Wortes verstehen wir auch, was es meint, und verstehen es gleichso, wenn wir es einen andern aussprechen hören.

    Was ist also ‘Zeit’? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht.

    Gerade dies bestimmt das Phänomen der Zeit als philosophisches: zu nah und zu fern zugleich zu sein, um es begrifflich angemessen fassen zu können. Und gerade Augustinus hatte die Frage nach der Zeit in den Mittelpunkt seiner Überlegungen über die Schöpfung Gottes gestellt, um von dort aus die Stellung des Menschen innerhalb dieser Schöpfung zu umreißen. Unter diesem Horizont hatte er den Begriff der Erinnerung in den Blickpunkt gestellt und gezeigt, „daß ich nicht denken und nicht wollen kann, wenn ich mich nicht erinnere"⁷. Seine grundlegende Intuition bestand gerade darin, daß das wahre, das allein beständige Ich eben in seinem Erinnern besteht.⁸ Dies bestimmt das Phänomen der Erinnerung als das maßgebliche innerhalb des wechselseitigen Fundierungsverhältnisses von Authentizität und Zeit überhaupt. Daß Erinnerung in zeitlichem Sinn, bei philosophisch verschiedenem Ansatz auf jeweilig unterschiedliche Weise, einen besonderen ‘Zugang’ zu bzw. eine ausgezeichnete ‘Bezüglichkeit’ von Authentizität darstellt, soll die leitende Hypothese für die Erörterungen zur Zeitphilosophie von Husserl, Bergson und Heidegger darstellen und in der Interpretation von Prousts Roman A la recherche du temps perdu von Seiten der Dichtung eine weiteres Quantum an Plausibilität gewinnen.

    Zuvor soll eine kurze Skizzierung der beiden wichtigsten Zeitphilosophien der Tradition, diejenige des Aristoteles und des Augustinus, den geschichtlichen Boden bereiten, auf dem sich die Überlegungen von Husserl, Bergson und Heidegger zur Zeitproblematik abspielen.

    Aristoteles formuliert seine Zeittheorie nicht in der Metapysik, sondern in der Physik – eine bedeutungsvolle Entscheidung. Entsprechend muß er sich mit kurzen Hinweisen auf die Seele begnügen, deren Theorie in eine andere Disziplin gehört. Dem Sachgebiet entsprechend ist ihm die Zeit etwas Reales, nämlich physikalischer Phänomenbestand. Dieser wiederum erscheint auf dem Hintergrund der Problematik der Zeitmessung, also dem Abzählen von Einheiten eines selbst Kontinuierlichen. Freilich ist dabei nicht mechanisierte Messung mit Instrumenten gemeint. Vielmehr denkt Aristoteles die Zeit als „eine rhythmische Durchgliederung und damit Durchrationalisierung der Naturvorgänge"¹⁰.

    Aristoteles eröffnet seine Untersuchungen zur Zeit in Physik D mit der ontologischen Frage, ob die Zeit „zum Seienden gehört oder zum Nichtseienden"¹¹. Erste Versuche einer Antwort führen ihn sogleich in die Aporie:

    Daß sie (die Zeit) nun also entweder überhaupt nicht wirklich ist oder nur unter Anstrengungen und auf dunkle Weise, das möchte man aus folgenden (Tatbeständen) vermuten: Das eine Teilstück von ihr ist vorübergegangen und ist (insoweit) nicht (mehr), das andere steht noch bevor und ist (insoweit) noch nicht. Aus diesen Stücken besteht sowohl die (ganze) unendliche, wie auch die jeweils genommene Zeit. Was nun aus Nichtseiendem zusammengesetzt ist, von dem scheint es doch wohl unmöglich zu sein, daß es am Sein teilhabe.¹²

    Interessanterweise stellen Vergangenheit und Zukunft für Aristoteles nicht Zeitmodi dar, sondern ‘Teile’ der Zeit, d. h. „mögliche Entitäten, deren Nichtsein auch das Nichtsein der Zeit mit sich bringt"¹³. Allerdings scheint Aristoteles die Gegenwart als Zeitteil zu unterschlagen. Für die Gegenwart steht bei ihm das Jetzt (nun):

    Das ‘Jetzt’ aber ist nicht Teil: der Teil mißt (das Ganze) aus, und das Ganze muß aus den Teilen bestehen; die Zeit besteht aber ganz offensichtlich nicht aus den ‘Jetzten’.¹⁴

    Das Jetzt ist für Aristoteles ein unbestimmbares, unmeßbares Quantum an Zeit. Es definiert als dauerloser Grenzpunkt die Zeitteile Vergangenheit und Zukunft als deren Grenze; es ist selbst aber nicht begrenzt, was das Argument für dessen Nichtexistenz darstellt: „Gegenwart ist keine mögliche Entität, kein mögliches Subjekt ontologischer Prädizierung."¹⁵ Auf diese Weise verschärft sich das Problem des Seins der Zeit sogar noch. Aristoteles hat aber die Problematik nicht als unlösbar erachtet. Im weiteren Verlauf der Untersuchung fragt er nach dem Wesen -Phänomen als „Meßzahl der Bewegung hinsichtlich des ‘davor’ und ‘danach’"¹⁶. Tatsächlich stellen die Begriffe davor und danach bereits temporale Bestimmungen dar, eine ursprüngliche Entwicklung des Zeitbegriffs aus nicht-temporalen Bestimmungen erbringt die aristotelische Definition demnach nicht.¹⁷ Mithilfe des Bewegungsbegriffs versucht Aristoteles zu belegen, daß die Zeit ein Kontinuum ist:

    Da nun ein Bewegtes sich von etwas fort zu etwas hin bewegt und da jede (Ausdehnungs-)Größe zusammenhängend ist, so folgt (hierin) die Bewegung der Größe: Wegen der Tatsache, daß Größe immer zusammenhängend ist, ist auch Bewegungsverlauf etwas Zusammenhängendes, infolge der Bewegung aber auch die Zeit: Wie lange die Bewegung verlief, genau so viel Zeit ist anscheinend jeweils darüber vergangen. Die Bestimmungen ‘davor’ und ‘danach’ gelten also ursprünglich im Ortsbereich; da sind es also Unterschiede der Anordnung; indem es nun aber auch bei (Raum-)Größen das ‘davor’ und ‘danach’ gibt, so muß notwendigerweise auch in dem Bewegungsverlauf das ‘davor’ und ‘danach’ begegnen, entsprechend den (Verhältnissen) dort. Aber dann gibt es auch in der Zeit das ‘davor’ und ‘danach’, auf Grund dessen, daß hier ja der eine Bereich dem anderen unter ihnen nachfolgt.¹⁸

    Wie kann aber die Zeit, die doch kontinuierlich ist, in diskrete Abschnitte unterteilt werden? Auch bei der Beantwortung dieser Frage orientiert sich Aristoteles an der Raumanalyse: Das Jetzt teilt und verbindet die Zeit in derselben Weise, wie der Punkt räumliche Ausdehnung teilt und verbindet. Wie hängen nun Zeit und Bewegung im Sinne der Zeitmessung zusammen? Für Aristoteles bestimmen sich Zeit und Bewegung wechselseitig. Beide haben aber ihr letztes Maß in der einförmigen Kreisbewegung. Die Himmelsbewegungen erlauben durch ihre Regelmäßigkeit sie als paradigmatisch für alle Formen der Bewegung anzusetzen und die Messung der Zeit an ihnen auszurichten.

    Aber das heißt nicht, die Aristotelische Zeitauffassung sei primär astronomisch oder kosmologisch im Sinne der Bindung der Zeit an faktische Sternenbewegung. Formell konstituierend für die Zeit als Zahl ist die Tätigkeit der Seele. Hier, in der Physik, präzisiert Aristoteles nicht, ob er an die Himmelsseele oder an die einzelne Menschenseele denkt; aber aus De caelo kennen wir seine Ansicht von der Himmelsseele. Diese ist nicht dasselbe wie die platonische Weltseele, aber sie hat eine ähnliche Funktion: Ohne die Himmelsseele gibt es keine Sternbewegung, ohne die Sternenbewegung kann sich nichts bewegen oder verändern, also kann ohne die Seele nichts gezählt werden. Ohne die Einzelseele kann keine Zahl, also auch keine Zeit sein, wohl aber ein hypokeimenon, ein Substrat der Zeit, welches keine Vorform der Zeit ist, sondern die Naturveränderung, die zahlenhaft ist aufgrund der Tätigkeit der Himmelsseele.¹⁹

    Aristoteles lehnt zwar einerseits die Identifikation der Zeit mit der Sternenbewegung ab; andererseits stellt dann aber doch die ewige Kreisbewegung das Maß der Zeit dar. Allein die Seele kann diesem Maß Zahlcharakter verleihen. Entsprechend schreibt Aristoteles in der Physik:

    Ob andrerseits, wenn es Bewußtsein (davon) nicht gäbe, die Zeit vorhanden wäre oder nicht, das könnte man wohl fragen: wenn das Dasein von jemand, der zählen kann, ausgeschlossen wäre, dann könnte auch unmöglich etwas sein, das gezählt werden kann, also dann klarerweise auch nicht Zahl; Zahl ist doch entweder das Gezählte oder das Zählbare. Wenn aber nichts anderes von Natur begabt ist zu zählen als das Bewußtsein (des Menschen), und von diesem (besonders) das Verstandesvermögen, dann ist es unmöglich, daß es Zeit gibt, wenn es Bewußtsein (davon) nicht gibt, außer etwa als das, was als Seiendes der Zeit zugrundeliegt, etwa wenn es möglich ist, daß es Veränderungsvorgänge ohne Bewußtsein (davon) gibt.²⁰

    Auch wenn Aristoteles das Kontinuum Zeit im Horizont der mathematischen Bestimmung der Kontinuität des Raumes ansetzt, so ist doch die Zeit als Maß der Bewegung im Allgemeinheit verbürgenden Sinn der Zahl gerade nicht im Raum vorhanden, sondern in der Seele:

    Zählen und Gezähltes bewegen sich im inneren Raum der Seele. Die Zeit ist also eigentlich stets empfundene Zeit, und zeitlich empfunden werden letztlich die Empfindungen selbst, die Bewegungen der Seele. Die Lektüre der Aristotelischen Zeitanalyse scheint uns also hart an die Grenze des Kantischen Begriffs der Zeit als reine Selbstaffektion zu führen²¹.

    Die aufgezeigte Struktur des Selbstangangs, welche sowohl die Zeit als Maßzahl der Bewegung als auch die Seele als Vermögen zur Zahl betrifft, bezieht sich aber nicht auch auf das Phänomen der Bewegung. Die Bewegung als hypokeimenon der Zeit wird von Aristoteles gerade als unabhängig von der (menschlichen) Seele gedacht:

    Zwar ist die Zeit als Zeit von der Seele abhängig – nicht aber das Substrat der Zeit, die Bewegung. Diese ist außersubjektiv wirklich... Offenbar gilt daher die ‘Subjektivität der Zeit’ für die Zeit nur als Maß.²²

    Läßt sich nun aber doch auch ein Zusammenhang zwischen der menschlichen Seele und der Bewegung aufweisen? Flasch interpretiert das Verhältnis von kosmischer Bewegung und menschlichem Seelenvermögen bei Aristoteles als eine Korrespondenz zweier Seelen, nämlich der einen kosmischen und der jeweiligen menschlichen:

    Der Himmelskörper wird von einer Seele bewegt, die in ihrer Begierde nach dem höchsten, unwandelbaren Prinzip den Himmel zur Rotation bringt; dadurch gewinnt der Kosmos seine rhythmischen, das Ewige nachahmenden Bewegungen. Die (Menschen-)Seele zählt diese und gewinnt so die Zeit. Die Seele vollzieht, nach Aristoteles, das kosmische Urbild geordneter Bewegung in den Erfahrungszeiten nach.²³

    In der Metaphysik taucht das Modell des Selbstangangs an entscheidender Stelle wieder auf, nämlich bei den theoretischen Überlegungen zum unbewegten Beweger. Dessen

    Wirklichkeit (wirkliche Tätigkeit) ist zugleich Lust. Und deshalb ist Wachen, Wahrnehmen, Vernunfttätigkeit das Angenehmste, und durch diese erst Hoffnungen und Erinnerungen. Die Vernunfttätigkeit an sich aber geht auf das an sich Beste, die höchste auf das Höchste. Sich selbst erkennt die Vernunft in Ergreifung des Intelligiblen; denn intelligibel wird sie selbst, den Gegenstand berührend und erfassend, so daß Vernunft und Intelligibles dasselbe sind.²⁴

    Selbstangang ist demnach das Charakteristikum der Vernunft überhaupt:

    Sich selbst also erkennt die Vernunft, wenn anders sie das Beste ist, und die Vernunfterkenntnis (bzw. -tätigkeit) ist Erkenntnis ihrer Erkenntnis (-tätigkeit).²⁵

    Nun unterscheidet Aristoteles eine menschliche und eine göttliche Vernunft. Die menschliche vollzieht sich in der Zeit, die göttliche in der Ewigkeit:

    Wie sich die menschliche Vernunft... in einer gewissen Zeit verhält...: so verhält sich die Vernunfterkenntnis ihrer selbst (der göttlichen Vernunft) die ganze Ewigkeit hindurch.²⁶

    Zwischen göttlicher Ewigkeit und menschlicher Zeit existiert ein Fundierungsverhältnis insofern, als menschliche Vernunft gerade in der Partizipation an der göttlichen Vernunft besteht. Entsprechend wird bei Aristoteles Zeit von der Ewigkeit her gedacht und bewertet.²⁷ Was folgt nun daraus bei Aristoteles für den menschlichen Lebensvollzug? Diese Überlegungen stellt Aristoteles im zehnten Buch der Nikomachischen Ethik an, und zwar im Rahmen seiner Hypothese, Theorie stelle die höchste Form der Praxis dar. Dort schreibt er:

    Aber das Leben, in dem sich diese Bedingungen erfüllen, ist höher, als es dem Menschen als Menschen zukommt. Denn so kann er nicht leben, insofern er Mensch ist, sondern nur insofern er etwas Göttliches in sich hat. So groß aber der Unterschied ist zwischen diesem Göttlichen selbst und dem aus Leib und Seele zusammengesetzten Menschenwesen, so groß ist auch der Unterschied zwischen der Tätigkeit, die von diesem Göttlichen ausgeht, und allem sonstigen tugendmäßigen Tun. Ist nun die Vernunft im Vergleich mit dem Menschen etwas Göttliches, so muß auch das Leben nach der Vernunft im Vergleich mit dem menschlichen Leben göttlich sein.

    Man darf aber nicht jener Mahnung Gehör geben, die uns anweist, unser Streben als Menschen auf Menschliches und als Sterbliche auf Sterbliches zu beschränken, sondern wir sollen, soweit es möglich ist, uns bemühen, unsterblich zu sein, und alles zu dem Zweck tun, dem Besten, was in uns ist, nachzuleben. Denn wenn es auch klein ist an Umfang, so ist es doch an Kraft und Wert das bei weitem über alles Hervorragende. Ja, man darf sagen: dieses Göttliche in uns ist unser wahres Selbst²⁸.

    Über die Seele als das Vernunftvermögen des Menschen stehen zeitlich sich erstreckender Lebensvollzug und göttlich ewige Selbstbewegung in Zusammenhang. Die Bewegung der menschlichen Seele soll der Bewegung des selbst unbewegten Bewegers, der göttlichen Vernunft, entsprechen. Selbstangang als Vernunfttätigkeit bringt in einen authentischen Bezug zum Göttlichen. Wurde in der Metaphysik die Parallele zwischen menschlicher und göttlicher Vernunft im Sinne des Selbstangangs nur aufgezeigt, so ergibt sich in der Nikomachischen Ethik daraus eine Forderung für den Lebensvollzug, nämlich diesen prinzipiell möglichen Bezug auch eigens praktisch zu verwirklichen, d. h. den göttlichen Teil der Seele, nämlich das Vernunftvermögen, eigens fungieren zu lassen.

    Unter sichtlichem Einfluß von Aristoteles

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