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Improvisation als soziale Kunst: Überlegungen zum künstlerischen und didaktischen Umgang mit improvisatorischer Kreativität
Improvisation als soziale Kunst: Überlegungen zum künstlerischen und didaktischen Umgang mit improvisatorischer Kreativität
Improvisation als soziale Kunst: Überlegungen zum künstlerischen und didaktischen Umgang mit improvisatorischer Kreativität
Ebook360 pages5 hours

Improvisation als soziale Kunst: Überlegungen zum künstlerischen und didaktischen Umgang mit improvisatorischer Kreativität

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About this ebook

Unsere Musikkultur verlangt, dass wir Musik vorplanen, üben und ihre Ausführung perfekt beherrschen. Improvisieren, die Kunst, mit ungeplanten und unvorhersehbaren musikalischen Situationen umzugehen, stellt dies in Frage. Wer sich darauf einlässt, erfährt einen Kosmos von schöpferischen Momenten, in dem Musik als etwas ganz Eigenes erlebbar wird. Jenseits rein musikstilbezogener Improvisationsanleitungen und "Methods and Tools" beschreibt dieses Buch die allgemeinen Voraussetzungen, die intensivem und qualitätvollem Improvisieren zugrunde liegen. Dabei steht im Fokus das Improvisieren als ein Spiel mit dem Unvorhergesehenen und Unerhörten.

Improvisieren lernen kann nur gelingen, wenn auch die Probe oder der Unterricht dem Improvisieren angemessen gestaltet wird. Deshalb stellt dieses Buch Überlegungen zur Unterrichtsgestaltung, Lehrkompetenz und Ensembledynamik vor. Aber nicht nur in der Schule und Musikschule, sondern auch in nichtschulischen Bereichen kann Improvisation die Vision von Musikmachen als für alle zugängliche "soziale Kunst" einlösen, die unsere erstarrte Musikkultur ergänzt und professionelle und nichtprofessionelle MusikerInnen erfüllt und bereichert.

Reinhard Gagel ist Improvisor/Researcher, Musikpädagoge und aktiver Improvisationsmusiker. Er leitet den Fachbereich Improvisation und Komposition an der Rheinischen Musikschule der Stadt Köln. Als Lehrbeauftragter für Gruppenimprovisation und Didaktik der Improvisation lehrt er an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien.
LanguageDeutsch
PublisherSchott Music
Release dateDec 9, 2015
ISBN9783795786663
Improvisation als soziale Kunst: Überlegungen zum künstlerischen und didaktischen Umgang mit improvisatorischer Kreativität

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    Book preview

    Improvisation als soziale Kunst - Reinhard Gagel

    Literaturverzeichnis

    Wie über Improvisieren und Lernen nachdenken?

    Was ist Improvisation? – Ein Erklärungsprinzip.

    (frei nach Gregory Bateson)

    Wer sich aufmacht, übers Improvisieren nachzudenken, muss sich klar sein, dass er es mit einem definiert labilen Geschehen zu tun hat, dessen Charakter flüchtig und einmalig ist. In jeder Improvisation entsteht etwas, das im Ganzen oder in Details unvorhersehbar ist. Jede Improvisation unterscheidet sich per Definition von der nächsten und entzieht sich so einer allgemein gültigen Bewertung.

    Es ergeben sich damit gleich am Anfang einige Grundprobleme. Wir können ja nicht jede Improvisation in ihrer jeweils eigenen Unverwechselbarkeit betrachten. Wir müssen vielmehr ein Verfahren finden, mit dem Einzelfälle sich verbinden lassen und übertragbare Aussagen möglich werden. Dabei gibt es folgende Schwierigkeiten:

      Wenn ich dies tue, muss ich Begriffe verwenden, die die spezielle Eigenheit in Frage stellen. Ich widerspreche dem Einmaligen durch Verallgemeinerung.

      Mit vorbestimmten Kriterien lege ich Charakter und Ergebnisse einer Improvisation im Vorhinein fest.

      Unvorhergesehenes kann eigentlich aus Prinzip nicht im Vorhinein beschrieben werden.

    Viele Musikerinnen und Musiker erleben in ihrer künstlerischen Praxis, dass ihre Beschäftigung mit Improvisation in höchstem Maß individuell und scheinbar nicht übertragbar bzw. verallgemeinerbar ist. Jeder Improvisator hat seinen eigenen Weg, sich zu qualifizieren, als individuellen Prozess „von innen heraus. Improvisieren kann dieser Auffassung nach nicht gelehrt werden: Wenn eine Lehrkraft überhaupt gebraucht wird, dann im jeweils besonderen „Meister-Schüler-Verhältnis. Improvisatoren lernen voneinander in Workshops, aber nicht in der Musikschule. Institutionen widersprechen dem Gedanken einer „freien Musik. Eine weitere Meinung improvisierender Musikerinnen und Musiker ist, dass Nachdenken über Improvisation aus all diesen Gründen nicht funktionieren kann, und sie sind Anhänger eines Practicing-Ideals: handwerkliche Verfeinerung am Instrument gepaart mit „Rauslassen in der Improvisationssituation. Spieltechniken, Patterns und Licks beherrschen bedeutet aber nicht automatisch, gut zu improvisieren.

    Improvisierend nachdenken: ein neues Paradigma

    Wenn ich im Folgenden hier übers Improvisieren reflektiere, muss ich fragen: Wie kann das gehen, ohne den genannten Charakter der Improvisation zu verletzen und ohne einem einfachen Practicing-Ideal nachzuhängen? Dazu müssen wir Folgendes bedenken:

      Das Denken und Sprechen übers Improvisieren sollte der Einmaligkeit und Unvorhersehbarkeit des musikalischen Prozesses gerecht werden.

      Die Erkenntnisse sollten auf eine Weise verallgemeinerbar sein, die keine Ergebnisse determiniert (Wege oder Formen festlegt) und keine dem jeweiligen Prozess fremde Logik aufzwingt.

      Es sollte deshalb darum gehen, nicht in einer Theorie zu erstarren, sondern einen anderen Weg zu wählen.

    Wir untersuchen Improvisieren als ein Zusammenwirken von beweglichen Elementen, die in der Improvisationssituation zu Ergebnissen bzw. zu musikalischen Strukturen führen. Diese Elemente lassen sich beschreiben und die Bewegungen, die zwischen ihnen wirken, bestimmen: als Kommunikationen. Grundüberzeugung dieser Überlegungen ist, dass musikalisches Improvisieren aus der Kommunikation der handelnden Menschen und aus der Wechselwirkung der Parameter des Klangmaterials entsteht. Dabei kommt dem zeitlichen Faktor dieses Wirkens eine hohe Bedeutung zu. Improvisierende bewegen sich in Echtzeit, ihre Bewegungen sind real, ihr Handeln ist situativ. Unter dieser Perspektive können wir Aussagen erhalten, die dem Improvisieren angemessen sind. Wir können den Prozess der improvisatorischen Strukturbildung mit offenem Ausgang differenziert reflektieren.

    Systemtheorie

    Wollen wir diesem Prozesscharakter des Gegenstands gerecht werden, dann müssen wir eine Theorie zur Hilfe nehmen, die prozessorientiert ist. Das ist die Theorie von Systemen.

      Systemforschung geht grundsätzlich davon aus, dass innerhalb von Systemdynamiken nichtkausale Zusammenhänge herrschen und unvorhergesehene Ergebnisse entstehen. Das beschreiben einige Autoren mit dem Begriff der „Emergenz".

      Systemforschung beschreibt elementar Systeme, bestehend aus Elementen, die wechselwirken und die sich selbst organisieren. Dabei spielt die Kommunikation der Elemente eine besondere Rolle.

      Systemforschung benennt das Ergebnis von Emergenz als Strukturbildung im sensiblen „Dazwischen von Chaos und Ordnung. Ein anderer Begriff dafür ist „Komplexität, der zudem die Qualität des Prozesses beschreibt.

      Die systemische Psychotheorie der Affektlogik hilft erklären, wie „Einfälle und „Sprünge (elementare Kategorien des improvisatorischen Prozesses) aus bioenergetischen Wechselwirkungen im handelnden Menschen entstehen.

    Improvisieren als soziale Kunst

    Damit haben wir eine Grundlage. Denn nun ist es möglich, Einzelfälle und individuelle Kompetenzen über Elemente und ihre Bewegungen zu definieren. Diese können lernend erforscht, erfahren und differenziert werden, ohne dass eine lineare, kausale Logik bestimmte Ergebnisse determiniert. Mit diesen Begriffen können wir auch über Lernen und Lehren von Improvisation nachdenken. Es können dann Elemente von Planung und Durchführung von Unterricht und Proben benannt werden, mit denen ein dem Improvisieren angemessenes Lehren ermöglicht wird. Zuletzt können wir das System Improvisation auch als so beweglich einstufen, dass es als soziale Kunst verstanden werden kann. Diese Kunstausübung ermöglicht die spontane musikalische Ausdrucksfähigkeit, das Entstehen von Werken aus der musikalischen Kommunikation und die Beteiligung Vieler am schöpferischen Prozess.

    Die Struktur des Textes

    In diesem Text gehe ich das „System Improvisation" auf verschiedenen Ebenen an. Diese Ebenen sind nicht hierarchisch, sondern sie wirken vielfältig aufeinander ein und durchdringen sich in einem endlos geflochtenen Band.

      Ebene 1: Das Betriebssystem der Improvisation. Hier benenne ich Grundprinzipien der systemischen Dynamik des Wandels: Emergenz, Selbstorganisation, Wechselwirkung, Kommunikation, Komplexität. Ein Kapitel wird sich der Affektlogik widmen.

      Ebene 2: Wirkfaktoren. Hier beschäftige ich mich mit Haltungen, Handlungen, Wahrnehmungen und Körperlichkeit in der Improvisationssituation: Interaktion, Klangmaterialbeschaffenheit, Hören, Gesten und Präsenz.

      Ebene 3: Erläuterung der Wechselwirkungen an modellhaften Praxissituationen. Dabei beschreibe ich künstlerische Prozesse verschränkt mit didaktischen Reflexionen. Alle Modelle sind praktische Unterrichts- und Übungsvorschläge.

      Ebene 4: Didaktische Überlegungen zum Lernen und Lehren der Improvisation. Hier stelle ich aus den vorigen Kapiteln abzuleitende Konsequenzen für den pädagogischen Umgang mit Improvisation dar. Neben praxisorientierten Folgerungen finden sich auch allgemein didaktische Überlegungen zu einem schöpferisch-experimentellen Musikunterricht.

      Ebene 5: Improvisieren als soziale Kunst. Hier beschreibe ich Anwendungsmöglichkeiten in kulturellen Kontexten und entwickle Visionen einer Beschäftigung mit Improvisation in gesellschaftlichen Zusammenhängen und Institutionen.

    Ich wünsche mir, dass dies dazu beträgt, das Gelingen bzw. Misslingen von Improvisationen besser zu verstehen. Ich möchte kompetent machen dafür, Musik alleine und mit anderen spontan und selbstverständlich zu improvisieren. Ich möchte anregen, Improvisieren zu unterrichten und seine Qualitäten zu erleben und zu steigern. Ich möchte vorschlagen, mit Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen, mit Nichtinstrumentalisten, mit Schülerinnen und Schülern, Studierenden und Profis an dem Erlebnis des Improvisierens teilzunehmen. Wenn wir verstehen, wie improvisatorische Dynamik funktioniert, können wir mit großem Gewinn spielen, proben, lernen und lehren.

    Grundlegende Überlegungen zum „Betriebssystem" des improvisatorischen Prozesses

    Das Unvorhergesehene in der Improvisation – Emergenz

    Definitionen: Das Unvorhergesehene der Improvisation

    Um Improvisation zu definieren, wird sie meist der Komposition gegenübergestellt. Aus dieser Dichotomie werden Kriterien abgeleitet, die die eine gegen die andere abgrenzen: Nicht-Schriftlichkeit gegen Notation, Formlosigkeit gegen Form, Moment gegen Architektur, Echtzeit gegen Zeitplanung. Die Kompositions- und Improvisationspraxis der vergangenen Jahrzehnte hat dazu beigetragen, diese dichotome Unterscheidung zu differenzieren und das starre Gegenüber in vielfältig verzahnte Komplexe aufzulösen.¹

    Solche Übergänge sprechen für das Interesse der Improvisatoren und der Komponisten am jeweils anderen. In der Nachbarschaft solcher „Rekonfigurationen und „Grenz-Revisionen (Wilson 2003 a, S. 46 ff.) befindet sich auch die lexikalische Begriffsdefinition „Improvisation" im MGG. Sie differenziert zunächst allgemein, ohne auf Stile u. Ä. einzugehen, Improvisation in Hinsicht auf Durchdringungen, Verzahnungen und Mischungen. Vor allem baut sie auf dem Begriff des „Unvorhergesehenen auf, der die besondere Qualität von Improvisation folgendermaßen benennt: „Improvisation bedeutet im allgemeinen Sprachgebrauch unvermutetes, unvorbereitetes, (im lat. Wortsinne adjektivisch: improvisus, adverbial ex improviso) unvorhergesehenes Handeln, genauer: eine Handlung (u. U. auch das Ergebnis einer Handlung), die in wesentlichen Aspekten als unvorhergesehen (eventuell auch unvorhersehbar, lat. improvisibilis) erscheint – und zwar nicht nur für die von der Handlung betroffene(n) Person(en), sondern auch für die handelnden Person(en). (MGG 2003)²

    Mit dieser Definition wird ein Vorstellungs- und Wortfeld erschlossen, in dem Unvorhergesehenes, Unvorhersehbares, Unerwartetes, Unvermutetes, Unvorbereitetes, aber auch der besondere Einfall und individuelle Spontaneität für die Improvisation als charakteristisch angesehen werden. Hier wird der kreative „Sprung des Handelns ins Zentrum der musikalischen Definition gerückt. Er erzeugt die „neue Qualität, welche nicht vorhersehbar aus dem „Nichts auftaucht. Auch die Praktiker freier Improvisation verwenden ähnliche Begriffe zur Beschreibung ihrer Kunstpraxis: „In einem Konzert der ausschließlich improvisierten Musik werden die Klänge und Ideen der beteiligten Spieler unvorhersehbar im Sinne von unabgesprochen, ohne vorbestimmten Plan zusammengesetzt, also per Definitionem ‚komponiert‘. Je nach Haltung des Spielers und nach Raumästhetik wird, gesteuert von spontanen Einfällen als Ergebnis der Umstände und Möglichkeiten der Konzertsituation sowie der geistigen und körperlichen Verfassung der Spieler, Impulsen gefolgt, die zu klanglichen oder performativen Ereignissen führen. Die eingetretenen Ereignisse lassen sich nicht an einem präexistenten Prinzip messen, sondern stehen als Performanceereignis für sich selbst. (Hübsch 2003)

    Das Zusammensetzen der Klänge geschieht durch eine Ensemble von Spielerinnen und Spielern ohne Vorabsprache und ohne Vorplanung. Da kein „präexistentes Prinzip die Spieler leitet, scheint für die Beteiligten unvorhersehbar, was geschehen wird. Dabei ist aber zu unterscheiden zwischen „aus dem Unvorhergesehenen und „ins Unvorhergesehene. Niemand kann das, „was unvorhergesehen kommt, vorhersehen. Es kann von außen oder aus dem Inneren des Spielers oder der Spielerin kommen. Wer dies zulässt oder gar herausfordert, der gibt die genaue Realisation einer Vorplanung auf. Er muss akzeptieren, was dann geschieht. Unerwartetes bricht unter Umständen in Geplantes ein, durchkreuzt alle Pläne, es überrascht und man hat darüber keine Macht mehr. Man gibt die Kontrolle auf. Ein solches Spiel mit dem Unvorhergesehenen und ins Unvorhergesehene ist wesentliches Merkmal einer improvisatorischen Handlungsweise.

    „Die einfachste Anweisung für freie Improvisation, könnte man sie in Worte fassen, wäre vielleicht diese: Alles kann geschehen – und geschieht – jederzeit." (Rzewski 2000, S. 43) Die Frage ist, ob Unvorhergesehenes sich einfach nur als Zufall oder Schicksal ereignet. Mit den Begriffen Intuition oder (göttlicher) Eingebung haben vor allem Künstler ihren schöpferischen Umgang mit dem Neuen versehen. Hier soll interessieren, ob im Lichte neuerer Forschung etwas an der Natur des Improvisierens zu benennen ist, das für Unvorhersehbares – besser Unerhörtes – verantwortlich ist. Kann man gar Spuren finden, warum und wie sich Unerwartetes ergibt? Kann man es eventuell sogar herausfordern? Dabei werden wir uns mit Improvisation als einem System beschäftigen.

    Improvisation – ein offenes System

    Mit Unvorhersehbarkeit muss man immer rechnen, aber man kann sie auch ins Kalkül ziehen, geradezu herausfordern. Am extremsten geschieht das in der Musizierpraxis, in der Musikerinnen und Musiker ohne vorherige Absprache miteinander spielen, also im Ensemble frei improvisieren. Solche Praxis lässt musikalische Gebilde gewissermaßen „auftauchen", so wie aus der Tiefe des Wasser etwas nach oben kommt, dessen Ursprung wir nicht verfolgen konnten.³ Damit sind Strukturbildungen gemeint, die nicht voraussagbar sind, „passiv" entstehen, als hätte es mit den Spielern, die diesen Prozess gestalten, nichts zu tun. Wie aber kann so etwas gelingen? Wie können Musikerinnen und Musiker, die aktiv spielen, dies erreichen? Welche musikalischen Konstellationen, welche Musizierpraxis, welche Klangmaterialien erzeugen solche Phänomene?

    In verschiedenen Forschungsrichtungen, die sich mit der Evolution, der Entstehung von physikalischen und biologischen Strukturen oder mit betriebswirtschaftlichen Vorgängen befassen, gibt es ähnliche Fragestellungen.⁴ Dort wird unter der Prämisse geforscht, dass Unvorhergesehenes und Unvorhersehbares in der Entwicklung von Prozessen eine erhebliche Rolle spielen. Es wird Fragestellungen nachgegangen, woher es kommt, dass Entwicklungen und Vorgänge nicht erklärliche Sprünge machen. Die Erfahrung von auftauchenden Formen und überraschenden Umschlägen hat der improvisierende Musikpädagoge Wolfgang Stroh folgendermaßen beschrieben: „In freien Gruppenimprovisationen ist der Umschlag in eine andere Qualität aufgrund einer infinitesimalen quantitativen Veränderung⁵ ebenfalls nicht selten. Scheinbar unstrukturierte, chaotische Phasen können urplötzlich in sich zusammenbrechen und einem Thema, einer Pause, einer einfachen Struktur Platz machen. Immer wieder erleben Musikerinnen und Musiker in freien Improvisationsgruppen derartige, rational kaum erklärbare Phänomene. Systemtheoretisch kann man solche ‚Wunder‘ durchaus als den qualitativen Umschlag eines dynamischen Systems deuten und verstehen. Darüber hinaus hat dieser Mechanismus aber auch eine tiefenpsychologische Dimension: Das kollektive Unterbewusstsein aller Mitwirkenden ‚weiß‘, wann ein Break angesagt ist und stattfinden muss. Durch viel gemeinsame Übung und genaue Kenntnis der Gruppe kann die Handhabung derart kollektiver Impulse des Unterbewusstseins durchaus bewusst gelernt werden." (Stroh 1994, S. 221)

    Die Beschreibung Strohs fokussiert den Begriff des „Umschlags als Einbruch des Unvorhergesehenen. Auffallend ist, dass dies als eine Art Hereinbrechen beschrieben wird, als etwas außerhalb jeder einzelnen Verantwortung Stehendes, das überdies auch noch „Unstrukturiertes, Chaotisches in „geordnete Strukturen umschlagen lässt: Plötzlich ist da ein Zusammenklang, ein gemeinsamer Einsatz, eine Pause usw. aufgetaucht. Verantwortlich für solche rational (oder linear) nicht erklärbaren Veränderungen ist ein „kollektives Unterbewusstes, das in der Lage scheint, Menschen quasi unbewusst gestalten zu lassen. Stroh erlebt, dass die musikalischen Strukturen durch kollektive Kommunikation entstehen und versteht die Art und Weise der Produktion und die musikalische Strukturbildung innerhalb eines systemischen Zusammenhangs eng verzahnt.

    Der Jazzautor Joachim Ernst Behrendt hat ebenfalls in diese Richtung gedacht: „In diesem Sinne ist auch eine Gruppe improvisierender Musiker ein ‚System‘. Sie kann – wenn sie wirklich ‚zusammen‘ ist, reagieren, sich bewegen und sich verändern wie ein einziges Wesen. Wie ein Schwarm⁶ Vögel oder Fische. Was in solchen Gruppen geschieht, gehorcht eher den Gesetzen der Synchronizität als denen der Kausalität und kann deshalb nicht in allen Details erklärt werden." (Behrendt 1985, S. 409)

    Für die faszinierende Erfahrung, dass autonome Personen wie ein „Wesen" reagieren, benutzt Behrendt den Begriff des Systems, das Phänomen unvorhergesehener Entwicklungen versucht er – ähnlich wie Stroh – mit einem Begriff aus der Tiefenpsychologie zu erklären. Synchronizität meint zeitlich synchrone Ereignisse, die nicht als Ergebnis von Ursache und Wirkung erfasst werden können, dennoch als sinnhaft erlebt werden. „Ein System (von griechisch σύσημα, altgriechische Aussprache sýstema, heute sístima, ‚das Gebilde, Zusammengestellte, Verbundene‘; Plural Systeme) ist eine Gesamtheit von Elementen, die so aufeinander bezogen sind und in einer Weise wechselwirken, dass sie als eine aufgaben-, sinn- oder zweckgebundene Einheit angesehen werden können und sich in dieser Hinsicht gegenüber der sie umgebenden Umwelt abgrenzen. Systeme organisieren und erhalten sich durch Strukturen. Struktur bezeichnet das Muster (Form) der Systemelemente und ihrer Beziehungsgeflechte, durch die ein System entsteht, funktioniert und sich erhöht." (Wikipedia, Stand: Mai 2010)

    In improvisatorischen Prozessen wirken systemisch gesehen physikalisch/akustische Elemente, deren klangliche Parameter aufeinander bezogen sind und miteinander wechselwirken. Es bilden sich in einer bestimmten Zeitdauer Strukturen aus, die auseinander hervorgehen und voneinander abgeleitet sind (klangliches System).⁷ Musikalische Strukturen werden wiederum geschaffen von Menschen, die aufeinander achten und reagieren und aus diesem Verständnis immer neue Strukturen konstruieren (soziales System). In den Gehirnen der Handelnden laufen neuronale Prozesse ab, die in Wechselwirkungen von Wahrnehmung und Aktion musikalische Bedeutung schaffen (neuronales System) und diese wiederum in Aktionen umsetzen.

    Die Strukturbildung improvisatorischer Prozesse ereignet sich also in einem systemischen Zusammenhang, der durch folgende Merkmale gekennzeichnet ist:

      Musikalische Strukturen entstehen durch aufeinander bezogene Aktionen und Kommunikationen. Menschen hören aufeinander, sie weben das in den je eigenen Sinnhorizont ein und setzen dies nicht in Gedanken oder Sprache, sondern in Töne um.

      Alle an diesem Prozess Beteiligten, die Handelnden mit ihren musikalischen Handlungen, das musikalische Material und seine hörbare Klangbildung wirken aufeinander ein. Die Spielerinnen und Spieler kommunizieren in andauernden Wechselwirkungen mit den anderen.

      Es lässt sich nicht genau bestimmen, welches Element letztlich für die Strukturbildung und für Veränderungen oder Variationen im System verantwortlich ist.

    Emergenz

    Da vielfältigste Faktoren im Spiel sind, sind solcherart ablaufende Prozesse durch einen hohen Grad an Unvorhersehbarkeit gekennzeichnet. Diese entstehen aus Sicht der Systemforschung aber nicht durch Synchronizität, sondern durch Emergenz: „Emergenz ist die spontane Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen auf der Makroebene eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente. Dabei lassen sich die emergenten Eigenschaften des Systems nicht – oder jedenfalls nicht offensichtlich – auf Eigenschaften der Elemente zurückführen, die diese isoliert aufweisen." (Wikipedia, Stand: 21.5.2010)

    Das Phänomen der Emergenz ist alltäglich: Es kommt mehr heraus, als man erwartet hat, weil etwas entgegen aller Voraussicht geschieht. Man kann das, was herausgekommen ist, nicht einfach und lückenlos logisch zurückverfolgen. Aber es ist nicht reiner Zufall oder ein Schicksal dafür verantwortlich. Dort, wo viele Faktoren im Spiel sind, geschieht Emergenz: Unvorhergesehenes, Unerwartetes, zufällige und nebensächliche Ereignisse können so als Folge dynamischer Vorgänge in einem System erfasst werden.⁸ Man kann den Vorgang, die Faktoren und Kräfte, die wirken, aufschlüsseln: „Entstehung meint eher Auftauchen (émergence), das Prinzip und das einzigartige Gesetz des Aufblitzens. […] die Entstehung vollzieht sich immer innerhalb eines bestimmten Kräfteverhältnisses. Die Analyse der Entstehung muss das Spiel dieser Kräfte aufzeigen, ihren Kampf untereinander, ihren Kampf gegen widrige Umstände […] Die Entstehung ist also das Heraustreten der Kräfte auf die Szene, ihr Sprung aus den Kulissen auf die offene Bühne. […] Niemand ist verantwortlich, niemand kann sich ihrer rühmen, sie entsteht in einem leeren Zwischen." (Foucault in: Wägenbaur 1999)

    Das Aufblitzen und der Sprung auf die offene Bühne sind Improvisatoren vertraut. Das charakterisiert ihre Kunst: das Erfinden vor einer Zuschauerschar und der blitzartige Einfall. Was so improvisatorisch entsteht, lässt sich weder im Prozess noch im Nachhinein lückenlos begründen, und es ist überdies fraglich, ob man es überhaupt auf Gründe zurückführen kann. Deshalb spricht Foucault von der Analyse des „Spiels der Kräfte", nicht von der Analyse von kausalen Wirkungsketten. Dann muss man z. B. diese Fragen klären:

      Welche „Kräfte" sind es in der Musik, die miteinander kämpfen?

      Wie kann niemand verantwortlich sein, um sinnvolle musikalische Ergebnisse zu erreichen, und trotzdem aktiv gestalten?

      Unter welchen Umständen werden Menschen auf die offene Bühne kommen und dem Gesetz des Aufblitzens und unerwarteten Ergebnissen ihren Lauf lassen können?

    Emergenz ist zwar ein überraschendes, plötzliches Ereignis, aber doch von der Bereitschaft und der Fähigkeit, sie wahrnehmen und entwickeln zu wollen und zu können, abhängig. Man muss etwas jenseits vertrauter Wahrnehmungs- und Deutungsmuster wahrnehmen können. „In dem Moment, wo ich etwas anders sehe, ist etwas Neues da. Man kann dazu ‚Emergenz‘ sagen und damit allgemein verständlich bleiben. Man könnte aber auch den Standpunkt der Selbstorganisation ins Spiel bringen: Dieses selbstorganisierte System ist in neue Eigenwerte geschwungen, über die es vorher nicht verfügte. Und somit sind neue Erkenntnisse zu beobachten, es ist etwas emergiert. Aber nicht dort – nein hier, in mir ist etwas neu konfiguriert, und ich empfinde das als eine neue Einsicht. Emergenz ist meine Fähigkeit, neu sehen zu können." (von Foerster 2005, S. 44)

    Unvorhergesehenes muss auch der Improvisierende zulassen können, die Krücken der Noten wegwerfen, um sich musikalisch zu bewegen. Improvisierende Musikerinnen und Musiker haben das Interesse, Emergenz an sich heranzulassen. Sie wollen „in neue Eigenwerte schwingen. Sie wollen mit ihren kreativen Fähigkeiten das Spiel der Kräfte beeinflussen. Da das nicht selbstverständlich ist, muss man Improvisation unterstützen. Improvisatorisch Interessierte und erfahrene Improvisationspädagogen können diese Prozesse durch geeignete Methoden vermitteln und in Gang setzen. In solch einem Zusammenspiel von Kunst und Pädagogik können dauerhaft Sprünge ins „Neue gelingen und es kann für die von der Handlung Betroffenen und für die Handelnden Überraschendes, Verblüffendes, Unerwartetes geschehen. Der Komponist und Improvisator Frederic Rzewski hat das so zusammengefasst: „In jedem Augenblick wird die Schöpfung neu dargestellt. Das Universum der Improvisation entsteht fortwährend neu; oder besser: In jedem Augenblick wird ein neues Universum erschaffen. Wenn auch die Ereignisse einander ordentlich zu folgen scheinen, jedes irgendwie aus dem vorhergehenden entstehend, gibt es doch keinen Grund, warum es notwendigerweise so sein muss. In jedem Augenblick kann sich ohne irgendeinen Grund etwas ereignen, das keinerlei Beziehung zum vorausgehenden Ereignis hat. In diesem Universum ist jeder Augenblick eine Entelechie,¹⁰ die Ursache und Wirkung in sich selbst beschließt. Für die freie Improvisation ist diese Autonomie des Augenblicks, in dem die Dinge sich aus unerfindlichen Gründen ereignen und nirgendwohin führen, von grundlegender Bedeutung." (Rzewski 2000, S. 43)

    Selbstorganisation

    Nun soll das Zusammenwirken der Elemente eines Systems genauer betrachtet werden. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Selbstorganisation, die sich sowohl in allgemeinen als auch in musikalischen Systemen beobachten lässt. „Improvisation ist ein Spiel des Geistes mit sich selbst, in welchem einer Idee gestattet wird, auf das Spielfeld zu kommen, um für einen Augenblick in hübschen Mustern herumgekickt zu werden, bevor eine andere Idee an ihre Stelle tritt. Der erste Einfall ist absichtslos, ein Irrtum, ein falscher Ton, ein Verspielen, bei der der Ball vorübergehend verloren geht, das momentane Auftauchen eines unbewussten Impulses, der normalerweise unterdrückt wird. Das Spiel, dem er ausgesetzt wird, besteht nun darin, den verspielten Ball elegant zurückzuholen, durch einen zweiten ‚falschen Ton‘ den ersten richtig aussehen zu lassen, um zu rechtfertigen, dass der Einfall überhaupt ausgedrückt werden durfte." (Rzewski 2000, S. 43)

    Nehmen wir den ironischen „Spielbericht auf, dann sehen wir improvisierte Musik als einen Vorgang der spielerischen Selbstorganisation, in der musikalische Bedeutung, also sinnvolle Strukturen aus dem „Herumkicken erzeugt werden. Selbstorganisation nenne ich die Art und Weise, wie ein improvisierendes Ensemble aus sich heraus Formen und Strukturen schafft. Alle Elemente einer musikalischen Improvisation, alle musikalischen Kommunikationsangebote, aber auch alle Fehler, Missgriffe, Intonationsunschärfen usw. werden als Faktoren einer gemeinsamen Strukturbildung erlebt und gestaltet. Jeder Impuls und jede Reaktion, jedes Abwarten und jedes Initiativsein dient der Selbstorganisation des musikalischen Prozesses. Je besser wir dies als Prinzip verstehen, desto mehr erfahren wir darüber, wie im Zusammenspiel von Menschen und Klängen sinnhafte musikalische Struktur entsteht. Wir können Aussagen machen darüber, warum die Spielerinnen und Spieler erfüllt und voller Intensität sind und Improvisationen stimmig werden. Es lohnt sich, Selbstorganisation zu beschreiben.

    Selbstorganisation schafft Bedeutung – emergent

    „Als Selbstorganisation wird in der Systemtheorie hauptsächlich eine Form der Systementwicklung bezeichnet, bei der die formgebenden, gestaltenden und beschränkenden Einflüsse von den Elementen des sich organisierenden Systems selbst ausgehen. Im politischen Gebrauch bezeichnet Selbstorganisation die Gestaltung der Lebensverhältnisse

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