Rekrut am Rande eines Völkermords: Als deutscher Soldat im türkischen Heer im ersten Weltkrieg
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Volker Schoßwald
Volker Schoßwald stammt aus Schweinfurt, machte Abitur und Zivilldienst in Uffenheim, studierte in Erlangen und Tübingen und wirkte als Pfarrer und Religionslehrer in Würzburg, Nürnberg und Schwabach. Musikalisch ist er mit seiner Band "EzzedlaAbba" ("Jetzt aber" auf fränkisch) und als Kabarettist "Popenspötter" unterwegs. Hörbeispiele für alle Lieder finden sich auf http://soundcloud.com/volky-polky.
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Rekrut am Rande eines Völkermords - Volker Schoßwald
Finale:
1 Ein abenteuerlustiger Müllersohn
Abkommandiert in die Türkei schrieb der deutsche Soldat Peter Engel am 6. April 1915 in sein Tagebuch¹:
Ein Müllersohn aus dem hessischen Pfungstadt, ein Gymnasiallehrer, der 1913-14 in Frankreich unterrichtete, kam im patriotisch stimulierten ersten Weltkrieg 1915 ins südöstliche Kriegsgebiet: als deutscher Soldat zum türkischen Heer. Für Peter Engel war dies zugleich aufregend und exotisch; im Vordergrund stand das Abenteuerliche, weniger das Gefährliche. Er schrieb Briefe nach Hause und führte Tagebuch. Leider ist nicht alles erhalten, weil auch damals bereits Zensur bei den Soldaten durchgeführt wurde. Doch drei Tagebücher sind gerettet. Das Lesen macht etwas Mühe, denn er hat sie mit Bleistift klein gefüllt. 2014 tauchten sie zwischen alten Familiendokumenten wieder auf und können nun einen eigentümlichen Einblick in eine Welt geben, die ansonsten in deutschen Geschichtsbüchern kaum erscheint, vermutlich, weil sie zu weit weg war und auch nicht kriegsentscheidend schien. Angesichts der weltpolitischen Rolle, die die Türkei in unseren Jahrzehnten aufgrund ihrer geopolitischen Lage spielt, könnte man die Bewertung jener Gegend auch modifizieren.
Ein handgeschriebenes Tagebuch ist nicht leicht zu lesen, noch dazu, wenn die Schrift immer wieder leicht verwischt ist. Auch die Ortsnamen waren oft nicht auf dem Atlas wieder zu finden. Vieles war nach dem Gehör geschrieben, oft genug wurden altertümliche Ortsnamen verwendet; kein Wunder, denn nach dem Krieg und bei der „ethnischen Umgestaltung" der gesamten Region wurden auch die Namen verändert, oft genug ein Beleg für vorausgegangene brutale Kämpfe zwischen ethnischen Gruppierungen oder gar Genoziden. Immerhin kann man Eskişehir oder Adana auf der Landkarte auch heute entdecken. Und wenn man den Verlauf der Bagdadbahn rekonstruiert, dann ergibt sich manch plastisches Bild, nicht zuletzt bei der gewundenen Fahrt durch die hundert Tunnels.
Heftig war der technische Kontrast am Jahrhundertbeginn. Von Büffeln ist die Rede, wenn man unterwegs ist. Ochsen ziehen Karren oder auch Geschütze. Zugleich wird die Bahn gebaut mit einer unglaublichen Zahl von Tunnels. Straßen werden für Autos fertig gestellt und die Elektrizität hält Einzug. Flugzeuge kommen zum Einsatz. Von Frankreich ist die Rede, das der eigenen Erfahrung viel näher ist als die derzeitige räumliche Umgebung, und von Bagdad, das eine Symbolbedeutung hat. Russland mit dem Bürgerkrieg und den revolutionären Umbrüchen findet Erwähnung und Beirut, der arabische Nachbar. Das Thema „Unabhängigkeit Deutschlands durch Rohprodukte kommt ebenso zur Sprache wie die „Armenier als Sündenbock der Türken
. Die Landschaft schildert Peter Engel und man spürt die Faszination eines jungen Mannes, der im dörflichen Kontext in der Nähe des weltoffenen Darmstadt aufwuchs, in der Fremde, die er mit seinen eigenen Kategorien zuordnen will.
1.1 Der Autor: Peter Engel und sein familiäres Umfeld
Peter Engel gehörte zu den aktiven Wandervögeln der zweiten Generation, den jungen Revolutionären² und zu den Mitbegründern des Jugendherbergswerkes. Er war der älteste Sohn des Müllers Ludwig Engel aus Pfungstadt beim hessischen Darmstadt. Am 12. Juni 1889 geboren, studierte er nach seiner Matur in Gießen und München. Nach dem Abschluss besuchte er zunächst in Darmstadt die Realschule, dann die Oberrealschule in Offenbach.
An der Bergstraße in Hessen gab es schon immer eine kulturelle Nähe zu Frankreich: Peters Vater Ludwig wurde Louis genannt, ein Regenschirm war ein Parapluie und statt auf dem neuzeitlichen Bürgersteig bewegte man sich auf dem Trottoir. Frankreich war präsent, auch wenn es in manchen Köpfen noch der „Erzfeind" war, den man 1871 besiegt hatte. Peter Engel ging als Lehrer nach Frankreich (Ecole d’Acquitaine, Paris, Boulogne sur mer, Lamotte a Beuvon (ca. 170km südlich von Paris)). Unmittelbar vor Kriegsbeginn kehrte er wieder ins Deutsche Reich zurück.
Peter Engel als Student
Obwohl er gerade noch in Frankreich gelebt hatte, meldete sich der 25-jährige als Kriegsfreiwilliger und damit gegen Frankreich. Zahllose seiner Altersgenossen – unter ihnen sein Studienfreund und späterer Schwager Eugen Trümmer – taten dies auch. Infolge dieses Andrangs konnte man Peter Engel zunächst wegen körperlicher Bedenken zurückstellen – zu seiner großen Enttäuschung. Vorerst arbeitete er als Gymnasiallehrer in Alsfeld und Gießen. Sein Bruder Karl, immerhin der jüngere, hatte bereits seit dem 2. August 1914 das große „Glück, zu den (nach ihrer Sicht) „Auserwählten
zu gehören, die für den Kaiser kämpfen durften. Immerhin hatte auch Karl im Ausland, sprich in England gelebt, war 1912 aus London zurückgekehrt und hatte sein Einjähriges bei den Fliegern gemacht. Auch Peters Schwager Eugen war im Feld, zunächst im Osten, dann gegen die Franzosen, sogar vor Verdun. Er hatte noch mehr „Glück, er durfte auf dem „Feld der Ehre
bleiben³.
Bei den Engländern und den Franzosen hatten die Brüder Engel gelebt, und doch waren sie sofort bereit, gegen diese in den Krieg zu ziehen. Was für sie Pflicht und Ehre war, ist aus heutiger Sicht schändlich: Wie kann man „Hurra" schreien, wenn man gegen die ehemaligen Gastgeber die Waffen richtet?
Im September 1915 wurde Peter erneut gemustert und kam jetzt ins III. Fußartillerieregiment in Mainz. Dann lockte das Abenteuer; er meldete sich zu einer Batterie, die dem türkischen Militärverband eingeordnet war. Mit seiner Einheit zog er folglich in die Türkei und war schwerpunktmäßig im Osten und Südosten stationiert. Unter anderem wurde er mit dem türkischen Halbmond dekoriert. Noch vor Kriegsende kehrte er krankheitsbedingt zurück. Als er seine Malaria in Mainz auskuriert hatte, wurde er dort wieder Lehrer. Noch im Juli 1918 heiratete er Maria Thiel, die er aus Frankreich kannte.
Studienrat Engel nach dem Krieg
1.2 Der engere kulturelle Kontext
Peter Engel stammte aus einer weltoffenen Familie. Er war Lehrer in Frankreich gewesen, sein Bruder Karl hatte in London gewohnt und seine Schwester Betti war als Au-pair-Mädchen einer reichen deutschstämmigen Familie in Mailand gewesen. Später arbeitete sie als Erzieherin in der Odenwaldschule, also nach reformpädagogischen Methoden, die sie in Italien in einer Montessori-Einrichtung⁴ auch quasi original kennenlernen konnte.
Der Vater hatte eine zentral gelegene Mühle in Pfungstadt, war auch Kirchenvorsteher und zeitweilig Bürgermeister des Ortes. Die Mutter kam ebenfalls aus einer angesehenen Familie, ein Schwager gründete das später überregionale erfolgreiche Unternehmen „Spar". Pfungstadt liegt nahe bei Darmstadt, einem kulturellen Mittelpunkt um die Jahrhundertwende.
Großherzog Ernst Ludwig von Hessen hatte Kunst und Kultur in Darmstadt sehr gefördert; auf die Jugend der Familie Engel machte besonders der Jugendstil großen Eindruck, das Ornamentale⁵. Seit 1899 gab es dort auch eine Künstlerkolonie mit sieben aufstrebenden jungen Menschen. Die Überschrift über diese Aktion hieß „Mein Hessenland blühe und in ihm die Kunst". Der Schwerpunkt lag auf der Architektur, neuen Formen des Zusammenlebens. Mit Kriegsbeginn brach diese Aktion ab. In der jungen Generation der Müllersfamilie blieb die Liebe zum Jugendstil lebendig.
Das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erschien als Zeit des Friedens mit dem Selbstbewusstsein, ein hohes kulturelles Level erreicht zu haben. Die Jugend fand eigene Richtungen und Peter Engel engagierte sich beim angesagten Wandervogel, war bei den Begründern der Jugendherbergen in Deutschland. Wanderlieder, zur Klampfe gesungen gehörten zu den Treffen der jungen Menschen. Und auch die Familie – nach damaligen Selbstverständnis ging das weit über die Kleinfamilie hinaus – traf sich zu fröhlichen, jugendbewegten Festen im befreiten Stil. Anthroposophische Gedanken und Praktiken wurden ebenso goutiert wie aufkommende neue Kunst. Weltoffen und freiheitlich schien alles zu blühen, bis der Kaiser zu den Waffen rief. Freilich hatten auch die Wandervögel Wurzeln in der Romantik, die in eine nationalistische Richtung gingen. War Nationalismus noch 80 Jahre zuvor revolutionär, weil er die Kleinstaaterei bekämpfte, wurde er nun reaktionär, weil er den Blick scheuklappenmäßig auf das „Reich" verengte.
Das nahe gelegene Darmstadt war ins Weltgeschehen stärker eingebunden als seine Größe nahelegt. So war die frühere Großherzogin Alice⁶ eine Tochter der Queen Victoria, starb allerdings bereits 1878 mit 34 an Diphtherie. Am 6.6.1872 war ihre Tochter Alix⁷ in Darmstadt geboren worden. Alix heiratete 1894 den späteren Zar Nikolaus II⁸ und wurde damit die letzte Kaiserin von Russland. In der Zeit, in der Peter Engels Tagebuch spielt, war die Zarin in Russland sehr umstritten, weil sie eine Deutsche und zudem eine Enkelin von Queen Victoria war. Manche hielten sie für eine Spionin, sie war aber mehr eine Spiritistin und unterhielt eine geistige, zugleich politisch relevante Beziehung zu Rasputin. Immerhin hatte der „Wunderheiler vor dem Kriegseintritt Russlands gewarnt und gar gesagt: „Der Krieg ist eine schlechte Sache …. Mögen die Deutschen und die Türken sich gegenseitig zerfleischen: sie sind blind, denn es ist zu ihrem Unglück.
⁹ Freilich stießen seine Warnungen außer bei der Zarin auf taube Ohren.
Nachdem Nikolaus II im Februar 1917 abgedankt hatte, wurde die Familie im August nach Sibirien deportiert – Cousin George V von England hatte sich geweigert, sie aufzunehmen. Im Zuge der Oktoberrevolution wurden sie nach Jekaterinburg verschleppt und am 17.7.18 ermordet. Soviel zu Darmstadt, der Weltgeschichte und der Behauptung, Blut sei dicker als Wasser.
Darüber ist im Tagebuch des Pfungstädter Müllersohnes nichts zu finden; viele Hintergründe wurden freilich erst viel