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Geschichten von den Kindern aus der Feldstraße
Geschichten von den Kindern aus der Feldstraße
Geschichten von den Kindern aus der Feldstraße
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Geschichten von den Kindern aus der Feldstraße

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About this ebook

Die Wunder eines modernen Zeitalters prägen das Stadtbild Xpochs: Luftschiffe ziehen im Himmel ihre Kreise, Dampfwagen rattern über die Kopfsteinpflaster und mechanische Rüstungen helfen der Metrowacht, die Ordnung zu bewahren.

Für die Kinder aus der Feldstraße bietet diese Stadt jedoch vor allem die anstrengende Arbeit in der Fabrik und die Prügeleien mit den Nachbarbanden. Gefangen zwischen den Slums der Stadt und den Lümmeln der Nachbarstraße, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die wenige freie Zeit auf der Straße abzuhängen, um wenigstens ihren Eltern entgehen zu können.
Als jedoch ihre Freundin entführt wird, müssen sie ihre eingefahrenen Wege verlassen. Ihre Suche führt sie ein in eine Welt, die sie bisher nur aus Groschenheften kannten. Ein Abenteuer, wie sie es sich immer vorgestellt hatten.
Allerdings sind Abenteuer niemals ungefährlich, wie auch die Feldstraßler bald feststellen müssen.

LanguageDeutsch
Release dateDec 13, 2015
ISBN9781311172853
Geschichten von den Kindern aus der Feldstraße
Author

Peter Singewald

Aufgewachsen im Mittleren Westen der bundesdeutschen Republik, erkannte Freya Singewald schon früh, dass sie nicht ganz normal war. Vielleicht hätte ihr ein Hund geholfen, öfter vor die Tür zu kommen. Stattdessen halfen ihr Fantasy Rollenspiele und ein C64 dabei, eine normale Sozialisierung zu vermeiden und ihre Gedanken fest in dem zu verankern, was damals noch eine Subkultur war und heute fest in Fernsehen, Film und Literatur verankert ist: Science Fiction und Fantasy in all ihren Spielarten.Aus den Spielen entstanden Geschichten, aus den Geschichten wurden Manuskripte, aus den Manuskripten schließlich E-Books.Bei so einer kaputten Sozialisation ist es dann kaum noch von Bedeutung, dass ihr Selbstbild nicht mit dem Übereinstimmte, was auf der Geburtsurkunde stand.Heute lebt sie mit ihrer Frau und drei Kindern in einem kleinen Dorf zwischen Hannover und Hildesheim und verdient ihren Lebensunterhalt mit Programmieren, wenn sie nicht gerade Bücher liest oder schreibt.

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    Geschichten von den Kindern aus der Feldstraße - Peter Singewald

    Geschichten von den Kindern aus der Feldstraße

    Von Peter Singewald

    Published by Peter Singewald at Smashwords

    Copyright 2013 Peter Singewald

    Copyright © 2013 Peter Singewald, Heisede

    http://www.xpoch.de

    https://www.facebook.com/peter.singewald

    Für Anja, Daniel, Jens, Marco und Philipp, ohne die diese Geschichten niemals geschrieben worden wären.

    TEIL 1: Die geraubten Kinder von Xpoch

    Erstes Kapitel

    In dem ein Blick auf Xpoch geworfen wird, einige Akteure vorgestellt werden und es zum Streit kommt.

    Ein sonniger Tag in Xpoch bedeutete nur selten, dass man die Sonne auch sehen konnte, es sei denn man genoss die Freiheit der Dächer. Der Smog, der sich in die Stassen senkte, legte sich schon früh morgens als schmierige Schicht auf die Fenster und erlaubte fast nie einen klaren Blick auf den Himmel. Auch auf den Dächern war der Dunst und Rauch der Kamine noch als ein klebriger Nebel zu spüren, wenn man jedoch auf einen der höheren Kamine kletterte oder sogar eine der Schienenbahnstationen erklomm, dann konnte man tatsächlich in die Sonne blicken, was jedoch nur wenige Xpochler taten, da die meisten die Sonne nur noch als ein unbestimmtes Gebilde am Himmel verstanden, welches wenig mit dem geringen Tageslicht und der Dunkelheit bei Nacht zu tun hatte.

    Natürlich musste man festhalten, dass dies nur für jene Xpochler galt, die sich, ihrer Ansicht nach, tatsächlich als Xpochler bezeichnen durften, nämlich die Einwohner der Stadt Xpoch, und nicht die Bürger des Reiches gleichen Namens. Offiziell war der Titel für jene volkreiche Nation „Die Vereinigten Reiche von Xpoch, wenn man den ganzen Einflussbereich von König Jalin II. und Königin Rintja, der Schönen, benennen wollte. „Das Königreich von Xpoch hingegen war das Kerngebiet, welches sich von der Bucht von Roxvani im Süden bis hoch zur Mauer von Breiscol die Küste entlang zog. Aber alle, auf die es ankam (und das waren in den Augen der Einwohner von Xpoch nur sie selber) nannten auch das Königreich und die vereinigten Reiche Xpoch und durften sich daher auch nicht wundern, wenn es zu Verwirrungen bei der Benennung der Einwohner kam.

    Der Tag, an dem diese Geschichte beginnt, war einer dieser schönen, sonnigen Tage. Es war Mai, und Sonntag, was diesen Tag für viele der Einwohner Xpochs automatisch zu einem schönen Tag machte, selbst wenn es junge Hunde regnete. Die Hetradoniden hatten mit der Intervention des Königs diesen Tag der Woche als Festtag gegenüber den Bonzen durchgesetzt. Dadurch konnten selbst die weniger betuchten Bewohner der Neustadt diesen Tag genießen. Nur die Menschen und Nichtmenschen aus dem Ingenfeld und dem Ingensumpf waren zu arm, um irgendeinen Tag genießen zu können.

    Es war ein ständiger Streitpunkt zwischen Ingenfeldern und Neustädtern, ob die Feldstraße zum einen oder zum anderen gehörte. Und wie bei vielen solchen Disputen, war das Ergebnis, dass sich die Feldstraßler in der unschönen Situation fanden, nicht wirklich irgendwo dazuzugehören, obwohl der Stadtzensus sie eindeutig der Neustadt zuschlug.

    Die Feldstraße lief parallel zur Kurzengasse, wo des Nachts besser gestellte junge Männer und einige Mannweiber politische Theater und unpolitische Varietés besuchten. Die Rückwand der Häuser der nördlichen Straßenseite teilten sich diese jedoch bereits mit den elenden Häusern der Barezzistiege, die man über den abschüssigen Iridisweg erreichte und welche eindeutig zum Ingenfeld gehörte.

    Interessanter Weise hätten gerade jene Leute, die die Kurzengasse frequentierten, bestätigt, dass die Feldstraße zur Neustadt gehört, denn niemand von ihnen wäre zu einer jener Damen ins Ingenfeld gegangen, während die neustädtischen Damen noch akzeptabel waren.

    Die Kinder der Feldstraße hatten sich, wie alle Kinder der ärmeren Viertel in Banden zusammengetan, um ihre gemeinsamen Interessen zu vertreten. Natürlich hätten sie es niemals so ausgedrückt. Sie hätten viel mehr gesagt: „Wir aus'r Feldstraße müssn zusamm’stehn", was wohl ihr Interesse bereits deutlich genug ausdrückte, wenn auch ihre Aussprache etwas zu wünschen übrig ließ. Aber was hätten sie tun sollen, eingeklemmt zwischen der Brennerbande, die die Kinder des Brennerbogens und der zuführenden Straßen vereinte, und den unbenannten jugendlichen Schlägertrupps des Ingenfeldes, gab es nur den Schutz in der Gemeinschaft.

    Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass auch die Kinder aus den besseren Gegenden oft genug in Gruppen herumliefen, kleine Kriege gegen andere solche Gruppen ausfochten und auch sonst alle Anzeichen von Banden an den Tag legten. Nur hätten sie sich niemals so genannt. Sie trugen vielmehr aufregende Namen wie „die Kinderarmee des Burgdorfes oder „die Altstadträcher. Den Unterschied konnten nur diejenigen beurteilen, die im einen Fall auf angerichtetem Schaden sitzen blieben, im anderen eben nicht.

    Die Feldstraße hatte viele Kinder hervorgebracht, die meisten davon unerwünscht. Sie liefen tagsüber auf den Straßen herum und verschwanden nachts in Kammern, damit die Mütter ihren Geschäften nachgehen konnten. Die älteren arbeiteten Tagsüber in den Fabriken, um bei der Miete ihren Anteil zu leisten. Manche wurden ein bis zweimal die Woche zur königlichen Schule getrieben, andere machten sich einen freien Vormittag, wenn sie sicher sein konnten, nicht erwischt zu werden, denn von den Lehrern kümmerte es keinen, ob ein Schüler mehr oder weniger da war. An solchen Tagen galt es für die Schüler daher nur, jedem aus dem Weg zu gehen, den es interessierte, wo man sein sollte.

    Die Kinder unter fünf Jahren galten gemeinhin als zu klein selbst für die Fabriken. Meist mussten sie auf sich selbst aufpassen, denn wer nicht arbeitete lag aus dem einen oder anderen Grund im Bett.

    Aber obwohl es so viele Kinder in der Feldstraße gab, waren sie doch immer in der Unterzahl gegenüber den anderen Banden, denn was ist eine einzige Straße gegen einen halben Stadtteil?

    Man konnte also verstehen, dass die Feldstraßler ein grimmiger Haufen waren, der keine Rücksicht auf irgendwelche Formen und Nettigkeiten nahm, sobald ein Kampf ausbrach.

    *

    Ist es wichtig, dass es der 23. Mai war? Wenn es nach Malandros Meinung ging, hätte es jeder andere Sonntag sein können. Es war nicht so, dass nicht auch er Sonntage allen anderen Tagen vorzog. Aber was sollte man als fünfzehnjähriger schon an einem solchen Tag tun? Die elenden Kinderspiele hingen ihm zum Hals raus, blieb man zuhause oder auf der Straße fanden Mütter oder Väter immer etwas zu tun. Verließ man jedoch sein sicheres Revier, so lief man Gefahr, dass einem eine andere Bande auflauerte. Zumindest den Vormittag über hatte man jedoch in dieser Hinsicht Ruhe, denn es galt der Tempelfriede, den alle Kinder und Jugendlichen einhielten. Zu groß war die Angst, von Bertis, oder schlimmer noch, den Priestern aufgegriffen zu werden, wenn man sich in dieser Zeit in Feindseligkeiten verstrickte.

    Jeder nannte die Männer der Metrowacht hinter ihrem Rücken Bertis. Die Kinder aus der Feldstraße hatten den Namen mit der Muttermilch aufgesogen und hätten nur verwirrt gekuckt, wenn jemand sie gefragt hätte, warum sie die ehrenwerten Wachtmeister so nannten oder wie dieser Name entstanden sein mochte. Hätte man ihnen gesagt, dass der Name hängen geblieben war, nachdem in den Anfängen der kleinen, reformierten Stadtwache die Hälfte aller Metrowächter aus der Familie Albrecht stammte, es wäre ihnen herzlich gleichgültig gewesen.

    Für die Priester hingegen verwendete niemand Spitznamen. Das wäre in den Augen vieler nicht nur Ketzerei, sondern auch Hochverrat gewesen, seitdem der König auch das Oberhaupt der Xpochschen Kirche Hetradons geworden war.

    Nach dem Besuch im Tempel, nachdem sich die Mitglieder der einzelnen Banden gemustert hatten und einander aus dem Weg gegangen waren, versammelten sich jene Kinder aus der Feldstraße, die sich als die Feldstraßenbande bezeichneten vor dem Haus, in welchem Malandros Familie im zweiten Stock hauste.

    Neben Malandro selbst waren dort noch seine beiden besten Freunde Tiscio und Skimir, den eigentlich alle Kim nannten. Sie bildeten das Führungs-Triumvirat dieser kleinen Bande und jede Entscheidung wurde letztendlich von ihnen getroffen. Walmo war der Nächste in der Hackordnung, obwohl er älter war als Kim. Sein jüngerer Bruder Walter war stets auf seiner Seite, hielt sich aber ansonsten so gut wie aus allem heraus. Er blieb meist im Hintergrund und schwieg zu allen Diskussionen. In einem Kampf war er jedoch unverzichtbar, denn er galt trotz seines Alters als einer der wildesten Ringkämpfer der Gegend. Über die beiden war auch ihre achtjährige Schwester Walde in die Bande gekommen, und da kleine Mädchen ungerne allein sind, hatte sie ihre beste Freundin Alna mitgebracht. Niemand hatte das Herz, einem der Mädchen zu sagen, dass sie zu klein waren, in der Bande mitzumachen, vor allem weil ihre älteren Brüder sonst nicht aufgehört hätten, zu nerven.

    Malandro präsidierte über seine Kumpane, was gelegentlich zu gewissen Spannungen führte, aber ihm war es als einzigem gelungen eine Lehre bei einem Handwerker zu erhalten. Die anderen hatten nur Arbeit in den Swucks-Werken bekommen, was ihm einen gewissen gesellschaftlichen Vorrang einbrachte. Und er nutzte seine einzigartige Stellung gnadenlos aus, wann immer er konnte.

    „Habt ihr die Brenner gesehen? Kim, immer ein wenig nervöser als die anderen, brach die Stille. Mit den „Brennern waren die Mitglieder der Brennerbande gemeint, denen die Feldstraßler vor dem Tempel ausgewichen waren.

    „Die wolln doch irgendwas."

    Etwas genervt schaltete sich Tiscio ein: „Das sagste jedes Mal, und ..."

    „Weil‘s stimmt!"

    „Natürlich wolln se was, aber nich vorm Tempel." Die beiden sahen sich herausfordernd an und Malandro hielt den Zeitpunkt für gekommen, einzuschreiten. Es bedurfte nicht viel, um Tiscio zur Weißglut zu reizen und Kim war zu gut darin, den Ofen zu schüren.

    „Genug, ihr Nuttnasen, es is Sonntag und wir wolln was tun." Die beiden Streithähne blickten sich noch einmal mit wütenden Augen an, ließen dann aber voneinander ab und würden in den nächsten Minuten bereits wieder die besten Freunde sein.

    „Hat wer Vorschläge?" Malandro brauchte nicht lange auf eine Antwort zu warten.

    „Dachen „Stecken „Marquin „Kloppen

    Alle durcheinander, einer lauter als der andere, keiner am anderen interessiert. Aber eine kleine Stimme erweckte doch aller Aufmerksamkeit: „Könn wer zu den Skletten? Walde sprach und alle hörten zu. Die beiden Kücken, Alna und sie, genossen eine Art Nestschutz in der Bande. Sie wurden immer etwas freundlicher behandelt als die Großen und oft ernster genommen als es ihr Alter erfordert hätte. Trotzdem blickten sie jetzt alle etwas irritiert an, bis Walmos Gesicht aufhellte und er fragte: „Meinste die großen Skelette? Im Museum? Wo wer mal mit Muddern warn?

    Walde nickte, obwohl ihr die Verwirrung deutlich anzusehen war. Mit „Museum" wusste sie nichts anzufangen, aber sie ging einfach davon aus, dass ihr ältester Bruder sie verstanden hatte. Er war ja so klug. Vielleicht nicht so klug wie Malandro, den die beiden Mädchen als den ältesten und gebildetsten anhimmelten.

    Die Bande brauchte nicht lange zu überlegen, ob sie dorthin gehen wollten. Es war viel mehr eine Frage, ob sie es sich leisten konnten, die Schienenbahn zu nehmen oder ob sie die ganze Strecke zu Fuß gehen mussten. Zum Wochenende hatten zwar alle ihren Lohn erhalten, aber das Meiste davon behielten die Eltern für Miete und Unterhalt ein. Kim, Tiscio und Malandro wussten sehr genau, für was der Unterhalt für ihre Väter und Mütter verwemdet werdem würde. Sie machten sich aber nie Gedanken darüber, dass es eigentlich ungerecht war, dass sie Geld anschleppten, welches für Besäufnisse ausgegeben wurde, die wiederum dazu führten, dass sie verprügelt wurden. So war es eben.

    Aber auf dieselbe Weise machten sie sich keine Gedanken darüber, dass sie ihre Familien über ihren tatsächlichen Verdienst belogen und so immer ein wenig Taschengeld über das benötigte Fahrtgeld zur Arbeit hinaus zur Verfügung hatten.

    Trotzdem war jeder Groschen teuer und die sieben, die jeder von den größeren sich wöchentlich ergaunerten, mussten auch für die Fahrten von und zur Arbeit reichen. Malandro hatte zusätzlich noch andere Ausgaben, über die er als Gentleman, als der er sich empfand, jedoch schwieg. Deshalb fiel die Entscheidung am Ende doch leicht und sie gingen zu Fuß, auch wenn dies bedeutete, dass sie dem Brennerbogen gefährlich nahe kamen. Am Ende waren sie aber schnell genug bei der Universität und damit auf neutralem Grund, so dass sie ausatmen konnten.

    Das Museum, das sie besuchten, war das Naturkundemuseum. Welches andere hätte es auch sonst sein sollen. Die Jungs hatten auch einmal das Armeemuseum in Burgdorf sowie die Königliche Kunstausstellung besucht. Einige der alten Bilder und Statuen in letzterem hatten ihren Reiz gehabt, besonders für die pubertierenden Jungs. Aber die Mädchen hatten sich gelangweilt und deswegen waren sie nie wieder dorthin gegangen. Was schade war, denn die Abwechslung wäre sehr willkommen gewesen und hätte vermutlich dazu geführt, dass sie öfter ein Museum besucht hätten. Denn die Museen hatten einen großen Vorteil gegenüber allen anderen Beschäftigungen, denen sie am Sonntag hätten nachgehen können: Sie standen jedem menschlichen Bürger Xpochs offen, solange man sich sittsam benahm. Das wichtige Wort in diesem Satz war nicht einmal sittsam sonder menschlich.

    Ursprünglich hatte jeder sie besuchen dürfen, aber die Ausstellungsstücke hatten zu ein paar Unstimmigkeiten geführt. Neben den Skeletten und ausgestopften Präparaten von einheimischen Tieren konnte man auch drei gar scheußlich anzusehende, ausgestopfte Wolfsmenschen in ewiger Angriffspose wie auch eine Reihe Skelette verschiedener halbmenschlicher Rassen betrachten. Nachdem es einige unschöne Auseinandersetzungen mit den Minderheiten Xpochs (vor allem den Wolfsmenschen) gegeben hatte, war das Museum für alle Nichtmenschen gesperrt worden.

    Die Wolfsmenschen, neben denen eine kleine Tafel stand, die behauptete, dass sie sich selbst Chuor nannten, interessierten die Feldstraßler allerdings weniger, da Alna Angst vor ihnen hatte. Alna hatte vor allen Wesen Angst, die auch nur entfernt nach Hunden aussehen - ein Vergleich, den man in Xpoch allerdings besser für sich behielt, besonders wenn ein Chuor es hören konnte.

    Seltsamerweise hatte sie vor dem Gentur, der ausgestopft in voller Panzerung mit aufgerissenem Maul einen eigenen Raum belegte, keine Angst. Hätte man die Ausstellungsstücke berühren dürfen, sie hätte sich wahrscheinlich eher an ihn gekuschelt. Auch hier gab ein kleiner Text Auskunft, dass dieses Tier, welches einem säbelbezahnten Höhlenbären nicht unähnlich war, von den neben ihnen aufgestellten Chuor als Reittier verwendet worden waren. Die Größe und Brutalität, die dieses Wesen verkörperte, beeindruckten die Feldstraßler, aber für die Jungs - oder jungen Männer, als die sie sich selber gerne sahen - waren zwei andere Räume noch bedeutsamer. Der erste war das Daemonium, ein Raum ohne vollständige Skelette oder Präparate, dafür aber mit vielen Einzelteilen, wie z.B. Krallen, Hörnern, Zähnen und auch drei Schädeln, die man von hingerichteten Dämonen hatte ergattern können. Auf Grund der besonderen Fähigkeiten der Dämonen war es nicht gestattet, komplette Körper zur Schau zu stellen, aus Angst, dass sie sich von alleine heilen würden. Und das war das letzte, was man sich bei einem verurteilten und hingerichteten, verbrecherischen Dämon wünschte.

    Das wichtigste Skelett des Museums war jedoch jenes der ausgestorbenen Flugechsen, die gemeinhin als Drachen bezeichnet wurden. Es füllte einen Raum so groß wie ein Tempel und die Verehrung die ihm entgegengebracht wurde, von andächtigen Kindern wie von Erwachsenen gleichermaßen, entsprach der Stimmung in den Gotteshäusern. Wenn es im Museum ansonsten schon ruhig und gesittet zuging, so wagte man in diesem Raum nur zu schleichen und hielt für gewöhnlich beim Betreten den Atem an. Nur einmal hatte Tiscio gewagt eine abfällige Äußerung in diesem Saal zu machen und war mit bösen Blicken augenblicklich zum Schweigen gebracht worden.

    Nun standen sie wieder vor dem gewaltigen Skelett, dessen Kopf drei Mann hoch über ihnen hing. In sein Maul hätte die gesamte Bande gepasst und es wäre noch Platz für ein paar Brenner gewesen. Die Jungs hatten bei der letzten Parade zum Geburtstag des Königs aufmerksam die vorbeimarschierenden Truppen beobachtet, bis die Rüster erschienen waren, jene bis zu fünf Schritt hohen dampfgetriebenen Rüstungen, die ihren Trägern übermenschliche Kräfte verliehen, sie schützten und die gleichzeitig mit den größten, transportablen Waffen ausgestattet waren, die man in Xpoch finden konnte. Einige Überlegungen hatten sich ihnen aufgedrängt, vor allem, wie vieler Rüster es wohl bedurft hätte, um ein solches Monstrum, wie es vor ihnen hing, zu besiegen. Die Diskussionen waren erst wirklich beendet worden, als sie das nächste Mal vor dem Skelett gestanden hatten. Da war sie schließlich übereingekommen, dass alle Rüster Xpochs nicht ausgereicht hätten. Und damit hatten sie Recht, wenn auch aus einem anderen Grund, als sie annahmen.

    Während sie andächtig vor dem Drachen standen oder langsam um das Skelett schlichen, achtete keiner auf die kleinen, für die die immensen Ausmaße dieses Wesens nicht fassbar und daher bedeutungslos waren. Walde krabbelte auf das Podest und berührte ganz vorsichtig das einzige Bein, an welches sie heran kommen konnte.

    Die Großen bemerkten ihre Tat erst, als ein Museumswärter recht barsch losblaffte: „He, du kleine Pussel! Nimm sofort deine Finger da weg." Erst wandten sich alle Blicke dem Wärter zu, dann Walde, die bereits wieder vom Podest herunterglitt und mit gesenkten Augen verschämt vor dem Wärter stehen blieb.

    Nach der Standpauke, die sie über sich ergehen lassen mussten, hielten es alle Mitglieder der Bande für angebracht, das Museum zu verlassen.

    Solange sie noch in den Säulenhallen des Museums waren, schwiegen sie missmutig und zogen die Kleinen hinter sich her. Draußen angelangt schlug der Missmut jedoch wellen und die Großen machten ihrem Ärger Luft.

    „Bastige Uniform!"

    „Was machen wer getze?"

    „Weiß ich doch nich."

    „Hättst du nicht aufpassen könn?"

    „Wieso ich?"

    „Sie is deine Schwester?"

    „Du hättst ja selber mal drauf achten können, dass keine Uniform reinkommt."

    Und das war wohl das Problem mit kleinen Geschwistern in einer Bande. Niemand wäre auch nur auf die Idee gekommen, seine Wut an Walde oder Alna auszulassen. Aber Walmo und Walter waren ein naheliegendes Ersatzziel für Spott und Wut.

    Es fehlte nur noch ein böses Wort in Tiscios Richtung, um den Topf vollständig zum Überkochen zu bringen. Malandro nahm bereits einen Platz am Schlagarm seines Freundes ein, um im Zweifelsfall eingreifen zu können, während Walmo sich daran machte, allen Erwartungen zu entsprechen: „Ein Glück, dass ihr so tolle Eltern habt, dass se ..."

    Malandro konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, womit sie Glück gehabt haben könnten, denn Walmo schien sehr begierig darauf zu sein, von seinem Freund eine Jachtreise zu bekommen. Aber er würde es glücklicherweise niemals erfahren, denn in diesem Moment rief eine nur zu bekannte Stimme vom Fuß der Stufen herauf.

    „Da sind ja die sutje Ingener. Wollen se euch nich mal mehr zu den Knochen lassen?"

    Tollsachs Budever. Ein Name, der nicht gerade Furcht auslöste, bei den Feldstraßlern aber doch ein gesundes Maß an Respekt und Abscheu hervorrief. Und wo Tollsachs war, da waren seine verlausten Brennerfreunde nicht weit. Was für ein unglückliches Zusammentreffen.

    Der Brennerbogen war die nächste große Straße auf der neustädter Seite der Feldstraße und zog sich durch einen guten Teil des Viertels, was so viel bedeutete wie, dass sich die Leute dort mehr als Neustädter fühlten als jene, die auf der Grenze wohnten. Alle waren sich dieses kleinen Unterschieds von 30 Schritten bewusst. Nicht nur, dass in der Brennerstrasse die Häuser besser waren, auch die Diebe verrichteten seltener ihr Handwerk in den Wohnungen. Und im Unterricht waren die Lehrer natürlich netter zu den Brennern als zu den Feldstraßlern. Ein Umstand der gerade bei Tiscio nicht selten zu erheblichen Ausbrüchen in den Pausen und darauf folgenden Verweisen geführt hatte. Deshalb gab es kaum etwas Schlimmeres als den Brennerburschen zu begegnen, wenn man eh schon schlecht gelaunt war und auch noch Zeit totschlagen musste. Zu keiner anderen Bande waren Fronten so klar und unnachgiebig gezogen wie zu Tolsachs und seinen winselnden Speichelleckern.

    „Na, seid ihr auf eure dreckigen Mäuler gefallen? Aber was kann man schon andres von euch Hurenkindern erwarten. Kein Korn Verstand im Kopf." Tiscio machte einen hastigen Schritt auf Tolsachs zu, Walmo und Skimir hatten jedoch bereits darauf gewartet und hielten ihn zurück. Stattdessen stellte sich Malandro vor die Bande und blickte auf ihre alten Widersacher, bemüht, die richtigen Worte zu finden.

    „Es is Sonntag und wir ham alle unsre besten Klamotten an. Was meinste, wer von uns zuhause mehr Prügel kriegt, wenn da was reißt?" Es war keine besonders gute Antwort, denn es war durchaus nicht erwiesen, ob nicht die Feldstraßler die brutaleren Mütter und Väter zuhause hatten, wenn sie denn tatsächlich beides hatten. Aber es war wenigstens ein Versuch, es nicht gleich zur Schlägerei kommen zu lassen, mehr als sie bei jeder anderen Gelegenheit probiert hätten.

    Aber alles, was er hätte sagen können, wäre vermutlich von ihren Feinden sehr bewusst missverstanden worden.

    Die Brennerbande breitete sich aus, bis sie ein einer Art Bogen standen, Tolsachs in der Mitte, die anderen ein wenig nach hinten versetzt. Nur Lier, die kleine Schwester von Elstadt und damit wohl das Brennergegenstück zu Walde und Alna, hielt sich hinter den anderen. Ohne die Blicke von ihren Gegnern zu lassen, bezogen die Feldstraßler eine ähnliche Aufstellung, nur dass bei Ihnen zwei Küken hinter der Reihe blieben. So standen sie sich nun gegenüber, während die braven Sonntagsausflügler von und zum Museum versuchten, einen Bogen um den aufkeimenden Konflikt zu machen. Xpochler wussten, wie Gruppen jugendlicher Schläger aussahen.

    Malandro betrachtete sich die anderen und stellte mit Genugtuung fest, dass ihre Chancen, mit nur ein paar blauen Flecken und Schrammen aus der Sache zu kommen, ziemlich gut standen. Fünf gegen fünf. Die Brenner hatten nicht einmal die Hälfte ihrer Bande hier und, auch wenn alter auf der Straße nicht viel aussagen mochte, die Feldstraßler waren älter, größer und stärker. Es war also vollkommen idiotisch von den Brennern, einen Streit anzufangen. Sie konnten nur verlieren ... wenn dies nicht ein Hinterhalt war.

    Etwas besorgt sah sich Malandro um und versuchte auf dem Platz vor dem Museum, zwischen den Statuen und den Fußgängern den Rest der Brennerbande auszumachen. Dass er niemanden sah, beruhigte ihn keinesfalls. Er musste also den Gelassenen spielen und versuchen, sie alle da herauszumanövrieren. Über die Schulter sagte er deswegen: „Wir gehn jetzt zur Schienenstation. Den erstaunten Blick von Tiscio bekam er in diesem Moment nicht mit, genauso wenig, dass Skimir seine Zwille bereits in der Hand hinter seinem Rücken hielt. Die Rufe der Brennerburschen wie „Feiglinge! „Hahnepampel! und „Döllmer machten den Rückzug nicht leichter, aber Malandro hoffte, dass die beiden größten Streithähne unter seinen Freunden, Walmo und Tiscio, sich lange genug beherrschen können würden. Erst als er seine ersten Schritte rückwärts gemacht hatte und die beide Mädchen schon ein wenig vor gelaufen waren, sah er, wie Skimir seine Schleuder nach vorne brachte. Es war einer jener Augenblicke, die man später versuchte zehn Minuten lang zu erklären, obwohl sie keine zehn Sekunden gedauert hatten.

    Malandro hatte wohl bemerkt, dass die Brenner unruhig darauf drängten, ihnen nachzugehen und sie vielleicht sogar anzugreifen. Tolung, Tolsachs rechte Hand, machte schließlich den ersten Schritt. Schikmo, der Bruder von Netbeth, die Malandro eigentlich ganz hübsch fand, hielt ihn aber zurück, indem er ihn mit der rechten Hand an der Brust stoppte, gerade so wie Tiscio von Walmo und Skimir zurückgehalten worden war. Es war jedoch sein Unglück, dass Skimir so schnell mit seiner Schleuder war. Oder vielleicht war es auch Skimirs Unglück. Doch gleichgültig wessen Unglück es war oder wem man die Schuld schließlich geben sollte, der Stein flog. Malandro meinte sogar noch, ihn zu sehen und hätte später Stein und Bein geschworen, seinen Flug mit den Augen verfolgt zu haben. Ein Flug, der an der Hand Schikmos endete und sie mehrfach brach.

    Die Welt schien stehen zu bleiben. Alle hatten es gesehen. Alle meinten das Knacken der Knochen gehört zu haben. Alle wussten, dass Skimir ein ungeschriebenes Gesetz der Jugendbanden gebrochen hatte. Niemand benutzte eine Waffe in einer Schlägerei. Niemand. Egal, wie sehr sie sich alle hassen mochten, niemand benutzte eine Waffe, um einen anderen zu verletzen.

    Der Schmerzensschrei Schikmos, der erst nach dem langen Entsetzen einsetzte, riss sie schließlich aus ihrer Starre. Es gab nichts mehr zu sagen und fluchtartig verließen die Kinder aus der Feldstraße den Platz vor dem Museum

    Zweites Kapitel

    In dem die Feldstraßler einer Frau begegnen.

    Sie gönnten sich erst eine Pause, als ihnen das Gewirr im Tempelbezirk keine andere Wahl mehr ließ.

    Der Tempelbezirk, ein Überbleibsel einer heidnischeren Zeit, als die Menschen noch viele Götter verehrten, und gleichzeitig ein Zeichen für die Bedeutung der Stadt, in der sie lebten, denn mit dem Handel, den Kriegen und den Kolonien waren auch die Flüchtlinge gekommen, die ihre Götter verehren wollten und vom Senat der Stadt und dem König das Recht dazu erhalten hatten.

    Jeder konnte hier einen Schrein eröffnen und seinen Glauben predigen, solange er nicht über die Staatskirche herzog oder zu offensichtlich blasphemische Reden führte. Auf den Straßen hieß es, dass man es allerdings selbst hier vermeiden sollte, mit Zauberwerk zu glänzen, da man angeblich sonst in den Arbeitslagern oder in einem der Abwasserkanäle landete. Da jede Form von Magie als Häresie angesehen wurde, war es jedoch wahrscheinlicher, dass man in den Gefängnissen der Hetradostei landete, wo die Staatskirche kleine, feuchte Zellen für Häretiker bereithielt.

    Wie alles in Xpoch war jedoch auch dieses Gesetz nicht ohne Ausnahme. Den Dämonen, die zum Stadtbild gehörten wie die blassäugigen Inselelfen, die winzigen Osispun oder auch der gelegentliche Zwerg, sah man es nach, dass sie Zauber verwendeten, um ihre Gestalt menschlicher erscheinen zu lassen. Aber einem Dämon Häresie vorzuwerfen wäre auch etwas lächerlich gewesen.

    Es gab einige alte Tempel der alten Götter, die hier schon immer gestanden hatten und die die Könige selbst in der Zeit, als man dem Königshaus nachgesagt hatte, mit dem Teufel im Bunde zu stehen, nicht schleifen ließ. Es waren aber vor allem die jungen, charismatischen Männer und Frauen, die hier als Priester irgendeiner unbekannten Religion auftraten, die die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Viele Xpochler kamen hierher und ließen sich einfach von den offensichtlich Irrgläubigen amüsieren und manch ein Prophet fand sich schnell als Ziel des allgemeinen Spotts wieder.

    Doch andere Einwohner suchten tatsächlich nach etwas, dass sie im Glauben an Hetradon nicht finden konnten. Vielleicht Erleuchtung, vielleicht Frieden, vielleicht auch so etwas wie Verständnis und Zuwendung.

    Warum die Könige gegen den Willen der Priesterkonklave diese heidnischen Bräuche erlaubten, ja scheinbar sogar förderten, verstanden weder die Kinder aus der Feldstraße noch ihre Eltern oder ihr Lehrer, den ein mutiger Schüler vor zwei Jahren gefragt hatte. Sie mieden für gewöhnlich diesen Bezirk. Um jedoch Verfolger abzuschütteln, konnten sie keine geeignetere Strecke zurück in die Neustadt nehmen. Nicht, dass sie das Gedränge hier gemocht hätten. Sie hatten die Taschen voll mit dem Lohn, den Mütter und Väter ihnen gelassen oder die sie vor ihnen verheimlicht hatten. Sie hatten ihre guten Klamotten an und keinem von ihnen war daran gelegen, das eine zu verlieren und das andere ruiniert zu bekommen. Hinzu kam, dass die beiden kleinen zwar scheu alles betrachteten, dennoch neugierig genug waren, an irgend einer Ecke stehen zu bleiben, um sich eines der vielen Wunder zu betrachten, mit denen die Propheten versuchten, Gläubige zu gewinnen.

    Die Großen hatten daher alle Hände voll zu tun, die beiden Mädchen mit sich zu ziehen und mit der freien Hand ihr Hab und Gut zu schützen.

    Vor ein einigen Jahren hatten sie ein paar Mal versucht, sich ein kleines Zubrot zu verdienen, indem sie die Taschen einiger Bürger erleichterten. Sie hatten allerdings schnell gemerkt, dass, gleichgültig, welcher Bande der Tempelbezirk tatsächlich gehören mochte, die kleinen Diebe aus Ingensumpf und Ingenfeld ihn als Ihr Revier für ihre Raubzüge betrachteten und ihn gegen Konkurrenz zu verteidigen wussten. Nach ihrem dritten Versuch war Walmo mit gebrochener Nase, Tiscio mit einer verstauchten Hand und sie alle mit vielen blauen Flecken nach Hause gehumpelt.

    Auch jetzt konnten sie einige Ingenkinder ausmachen, die sich aber von den grimmigen Gesichtern der Feldstraßler abschrecken ließen, solange die Bande zusammenblieb und keine Dummheiten machte.

    Malandro schritt voran, so gut es eben ging, die anderen folgten ihm mit allen Möglichkeiten, die ihnen zur Verfügung standen. Sie stießen, kniffen und traten sich den Weg frei, um mithalten zu können. Alle zwei bis drei Kreuzungen blieb Malandro stehen und sie sammelten sich von neuem, denn wenn sie irgendwie hoffen konnten, wenn schon nicht ungeschoren dann doch ohne größere Verletzungen nach Hause zu gelangen, dann nur in der Gemeinschaft.

    Schließlich musste Malandro jedoch vergeblich an einer Kreuzung warten, denn der Tross kam nicht hinterher. In höchster Alarmbereitschaft, die Hände um einen Stein geschlossen, den er schnell im Gehen aufhob, ging er auf seinen Spuren zurück. Kinder und Halbstarke waren schwer zu entdecken in dem Gedränge. Trotzdem versuchte er die Menge mit seinen Blicken zu durchdringen.

    Er brauchte jedoch nicht weit zu gehen. Er fand seine Freunde vor einer Gasse zwischen zwei Schreinen. Eine junge Frau hatte sich vor Walde gehockt. Sie hielten sich die Hände, gerade so, als wenn sie sich seit Jahren kennen würden, als wenn eine geliebte, alte und weise Tante oder vielleicht Großmutter mit ihrer Nichte oder Enkelin sprach. Verwirrt kam Malandro dem Paar näher. Wieso hatte er an eine alte Frau denken müssen, so jung wie sie aussah?

    Als er nur noch zwei Schritte entfernt war, richtete die Frau ihren Blick auf ihn, stand auf und nickte ihm zu.

    „Du brauchst keine Angst zu haben, ich habe eben nur mit der kleinen Walde gesprochen. Ich habe jetzt aber leider keine Zeit mehr." Damit deutete sie auf einige Menschen, überwiegend Frauen, die in der Gasse unter einem Baldachin auf Kissen saßen.

    „Was seid ihr für ne Priesterin", brachte Malandro schließlich heraus. Sie lächelte und er konnte plötzlich all die Falten sehen. So viele Falten um Augen und Mund. Falten, die er nicht mit seinem ersten Eindruck von einer jungen Frau in einklang bringen konnte.

    „Ich bin keine Priesterin und bevor du fragst, ich diene auch keinem Gott. Ich helfe nur Menschen, die Hilfe benötigen, und ich glaube, ihr werdet bald meine Hilfe brauchen. Kommt doch morgen Abend noch einmal hierher, damit wir in Ruhe sprechen können. Sie hockte sich wieder hin: „Es geht um Walde. Und schon stand sie wieder, nickte den anderen zu und ging zu dem zurück, was man vielleicht ihre Gemeinde nennen konnte.

    „Halt, was solln das heißen?"

    Immer noch lächelnd drehte sie sich ein letztes Mal um und erwiderte nur kurz: „Nicht jetzt. Kommt bitte später wieder, jetzt ist nicht die Zeit." Und damit ließ sie sie stehen und die Jungs wussten, dass es vergeblich war, jetzt weiter in sie zu dringen. Nur Walde lächelte ein kleines Lächeln, gerade so, als hätte ihr jemand einen leckeren Bonbon gereicht, den sie immer noch zufrieden mit der Zunge im Mund hin- und herschob.

    Sie lächelte den ganzen Weg zurück, sie lächelte sogar noch als sie abends ins Bett ging. Und sie lächelte am nächsten Morgen, als sie Walmo fragte, wann sie wieder zu der netten Frau gehen würden.

    Drittes Kapitel

    In dem die Feldstraßler etwas über die Zukunft erfahren, einen Drumkum abhalten und wieder zur Arbeit gehen.

    Es fiel ihnen nicht schwer, Gründe zu finden, um nach der Arbeit nicht nach Hause gehen zu müssen. Es würde schwerer werden, diese Gründe ihren Eltern gegenüber klar zu machen. Tiscio und Skimir waren sich sicher, dass sie nicht ohne Prügel davon kommen würden. Aber während der Fahrt auf den Schienen hatte Walmo beide Male, zur Arbeit und wieder zurück, nur von Waldes Begeisterung über diese Frau im Tempelbezirk erzählt. Er hatte sie bedrängt, angefleht und schließlich mit dem Versprechen auf zwei Bier bestochen. Nur damit sie an diesem Abend wieder in den Tempelbezirk gehen würden.

    Skimir, Tiscio und Walter stiegen an der Haltestelle Universität aus der Schiene und gingen direkt vom Hochbahnsteig zu einer Trinkhalle, wo sie Walmos Geld ausgaben und auf seine Rückkehr warteten.

    Für Walmo war das Ganze ein wenig ärgerlich, denn er musste weiterfahren, seine Schwester holen und erneut Geld für die Schienen ausgeben. Dabei saß ihm die ganze Zeit die Angst im Nacken, dass die Brenner ihm auflauern könnten. Es wäre ungewöhnlich gewesen, wenn sie es auf dem Heimweg getan hätten, aber sie befanden sich im Krieg und das konnte man nicht ernst genug nehmen. Skimir hatte die Regeln gebrochen. Die Feldstraßler hatten einen Brenner so schwer verletzt, dass er wohl seine Arbeit verlieren würde. Viel schlimmer konnte es außerhalb der Ingen kaum noch werden. Hatten die Brenner sie bisher nur damit aufgezogen, dass die Feldstraßler eigentlich keine richtigen Neustädter wären, mussten sie sich nun selbst fragen, ob sie ihren eigenen Ansprüchen genügten. Sie fragten sich das natürlich nicht in so vielen Worten, aber ein ungutes Gefühl hatte sich bereits bei ihnen eingestellt.

    Am Ende hatten sie es jedoch geschafft, waren im Tempelbezirk, erneut im Gedränge. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, bis Walmo mit Walde zurückgekehr war, und die Welle der Vorwürfe der drei, die das Geld viel zu schnell durchgebracht hatten, verebbte nur langsam. Natürlich hatte Walmo seine Schwester nicht einfach abholen können, ohne seinen Eltern irgendeine Geschichte erzählen zu müssen. Daher hatte er gewartet, bis seine Eltern im Alkoholrausch dahingedämmert waren. Allerdings hatte Walde ihren Bruder ziemlich erschreckt, als sie sich angezogen im Bett aufgesetzt hatte, um ihn anzulächeln. Erst als er die Pfennige in den Aufgang zur Schiene steckte, Geld, dass ihm zusammen mit dem, das er seinen Freunden gegeben hatte, in der kommenden Woche fehlen würde, dämpften dies die Erinnerung an das Gefühl, von dem er nicht einmal seinen Freunden gegenüber eingestanden hätte, dass es schon ziemlich nah an Furcht war.

    Es konnte schließlich niemand von ihm erwarten, dass er so etwas tatsächlich zugegeben hätte. Angst vor seiner kleinen Schwester. Lächerlich.

    Im Tempelbezirk fanden sie sich in demselben Gedränge wieder, durch das sie sich schon am Sonntag gequetscht hatten. Die Zusammensetzung der Menge hatte sich jedoch geändert. Strömten am Wochenende mehr Schaulustige zwischen den Schreinen, Ständen und kleinen Tempeln umher, Schaulustie, die sich über die abweichenden Sekten, häretischen Glaubensgemeischaften und skurrilen Religionen amüsierten und mokierten, waren die Gläubigen und Suchenden in den späten Stunden endlich unter sich.

    Dennoch kamen die Feldstraßler viel leichter durch die Gassen, denn die Menschen blieben in ihren kleinen Gruppen und das marktschreierische Gehabe so manches Priesters war verstummt.

    Es war sehr leicht das Lager jener Frau wiederzufinden, Schrein konnte man es ja kaum nennen. Sie ließen sich einfach von Walde ziehen, wo die Jungs sie doch eigentlich vorsichtig dorthin führen wollten, denn die Angst der Feldstraßler hatte sich kaum verringert. Brenner und Ingener konnten überall auf dem Weg lauern, auch wenn sie nicht hätten sagen können, warum sie ihnen gerade hier auflauern sollten. Trotzdem huschten ihre Blicke von einem Gesicht zum nächsten und versuchten jeden Schatten zu durchdringen. Ihre angespannte Haltung und ihr ängstliches Gehabe hatte schon mehrere Bertis auf sie aufmerksam werden lassen, so dass ihnen zwischenzeitlich immer wieder einer jener Herren mit Raupenhelm folgte. Ironischerweise bemerkten die Feldstraßler gerade diese echten Verfolger nicht, vielleicht weil sie sich immer von ihnen verfolgt fühlten.

    Als sie schließlich bei dem kleinen Lager zwischen zwei Schreinen anlangten, saß die Frau auf einem Kissen und unterhielt sich angeregt mit einem jungen Mann, der ihr gegenüber hockte. Sie blickte kurz auf und schenkte den Neuankömmlingen ein Lächeln. Und man musste wirklich von einem Geschenk sprechen, denn der Freundlichkeit und Gelassenheit, die daraus sprach, gelang es, dass sich die Feldstraßler plötzlich sicher fühlten und in Ruhe warten konnten, bis der junge Mann sich verabschiedete. Es war das erste Mal seit dem Museum, dass sie nicht ständig über ihre Schultern sahen.

    Schließlich erhob sich der Mann und mit ihm stand auch die Priesterin auf. Es schien ihnen in diesem Moment richtig, sie als solche zu betrachten, natürlich, schließlich saß sie im Tempelbezirk. Ohne es jedoch genau sagen zu können, wussten sie, dass da mehr war als nur der kleine Platz zwischen den Schreinen, der sie zur Priesterin machte.

    „Wie schön, dass ihr gekommen seid. Wieder ihr beruhigendes, einladendes Lächeln. Sie machte die zwei Schritte auf sie zu und hockte sich als erstes vor Walde nieder. „Konntest du deine Freunde überreden. Das Lächeln verwandelte sich für einen Augenblick in ein schelmenhaftes zwinkern, welches von Walde zum Staunen Tiscios, der es als einziger sehen konnte, erwidert wurde. Die Priesterin stand wieder auf und deutete mit offenen Armen auf die Kissen auf der Erde. „Setzt euch unter mein Dach und seid meine Gäste." Nur zögernd zogen die Feldstraßler an ihr vorbei und konnten dabei genau die Falten und Runzeln in ihrem Gesicht sehen, die aber von ihrer freundlichen und, wenn schon nicht für die Kinder und Halbstarken so doch für alle anderen, jugendlichen Art verborgen wurden. Zuminbdest war es das, was sie annahmen. Sie setzte sich ihnen gegenüber auf ein altes, abgewetztes Kissen und wischte mit einem nicht mehr ganz sauberen Tuch einige Tassen aus. Anschließend schenkte sie, immer noch lächelnd, jedem ein wenig Pañas ein - das sanfte Zeug, nicht das gegorene oder jenes, welches einen durch die Nacht brachte, ob man wollte oder nicht.

    „Ich kann mich nur wiederholen: Schön, dass ihr da seid. Ich vermute ihr Großen brennt darauf, zu erfahren, warum ihr hergekommen seid."

    Tiscio blickte sie entgeistert an: „Was solln das heißen. Is das hier so'n Wahrsagertheater?"

    Die Frau lachte hell auf. „Keineswegs. Entschuldige, wenn ich es vielleicht ungeschickt ausgedrückt habe. Vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen. Mein Name ist Vilet Freifrieder, und alle außer den Bertis und einigen Priestern hier nennen mich Vilet." Sie streckte Ihnen die Hand entgegen und nach anfänglichem Zögern nahmen die Jungs, einer nach dem anderen. Vilets Hand war sauber gewesen, als sie sie ihnen gereicht hatte, aber sie machte sich nichts aus dem Schmutz, den die jungen Männer ihr von der Arbeit mitgebracht hatten.

    „Und zu eurer Beruhigung: Ich bin weder Priesterin noch Wahrsagerin, ich habe nur manchmal Ahnungen. Wenn ihr mich vielleicht irgendwann besser kennt, dann werde ich euch gerne mehr dazu erzählen, nun soll jedoch erst einmal reichen, dass ich mir das nicht ausgesucht habe, ich keinem Gott diene und dass es euch nichts kostet, außer der Zeit, die ihr mit mir hier verbringt. Das einzige, was ich von euch will, ist, dass ihr mir einen Moment lang zuhört. Dafür biete ich euch, sozusagen als Entschädigung, Hilfe bei Schwierigkeiten an, die auf euch zukommen, und meine Freundschaft."

    „Wir stecken schon inner Kacke." Es platzte aus Tiscio heraus, ohne dass er es sich hätte verkneifen können. Trotzd des Kraftausdrucks lächelte Vilet ihn verständnisvoll an.

    „Das glaube ich. Als ihr hier vorbei lieft, saht ihr so aus, als würde man euch jagen. Habt ihr etwas angestellt? Und bevor noch Walmo oder Skimir Tiscio davon abhalten konnten, erzählte er der Priesterin alles: Wie sie ins Museum gegangen waren, wie sie rauskamen, und ihnen die Brenner aufgelauert hatten, wie sie sich zum Kampf bereit gemacht hatten und wie dieser Döllmer Skimir („Du nennst mich Döllmer? Wart' nur ab.) den Stein geschleudert hatte und sie jetzt im Krieg war.

    Vilet lächelte nicht mehr, sondern sah sie mit Bedauern an. „Sind die Brenner eine Bande, mit der ihr verfeindet seid?"

    „Unsre Nachbarn. Die andren sind die Ingner, diese Rattenfresser." Alle Feldstraßler nickten zustimmend.

    „Ich weiß nicht, ob ich euch gegen sie helfen kann. Ich glaube, das ist etwas, was ihr besser selber klärt, ohne dass sich jemand von außen einmischt."

    „Und was machen wir dann hier?" Skimir wollte sich gerade erheben, da fasste Walmo ihn an der Schulter und hielt ihn fest.

    „Sie hat Recht. Wenn wir ‘nen Priester holen, dann werden uns alle auslachen. Außerdem sind wer wegn Walde hier."

    Skimir grummelte etwas, beruhigte sich aber genauso schnell wieder, wie er sich erregt hatte. Vilet betrachtete sie ernst.

    „Eure Gechichte macht das, was auf euch zukommt, nicht leichter. Aber es hilft nichts. Sie beugte sich zu Walde hinüber. „Du weißt schon, dass uns etwas verbindet, nicht wahr? Walde nickte eifrig. „Aber du weißt nicht, was es ist. Eines Tages wird jemand zu dir kommen und dir das Selbe anbieten, was mir angeboten wurde. Und du wirst ja sagen und eine meiner Nachfolgerinnen werden, noch nicht nächstes Jahr, wenn ich hier nicht mehr sitze, aber wohl auch nicht erst, wenn du erwachsen bist. Verstehst du?" Walde nickte erneut. Diesmal waren ihre Augen ernst und es bestand kein Zweifel daran, dass sie es tatsächlich verstand.

    „Du musst vorsichtig sein. Es gibt Menschen, die dir ein Leid antun wollen." Damit wendete sie sich wieder an die Großen: „Ihr müsst auf sei aufpassen. In den nächsten Tagen wird etwas passieren, ich weiß nicht genau, was. Aber

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