Überschreitungen: Biblische Glaubenserfahrungen als Schlüssel heutiger Sinnsuche
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Stefan Knobloch spürt deshalb den heutigen bedrängenden Ungewissheiten, aber auch den hoffnungsvollen Aufbrüchen für authentische und Leben ermöglichende Glaubensformen nach. Er konfrontiert sie mit biblischen Erfahrungen und zeigt, wie auf unscheinbare Weise Grenzen überschritten werden und so Sinn neu erfahrbar wird.
Ein eindringliches Plädoyer, in unruhigen, lauten Zeiten die Leben öffnende Kraft des Säuseln Gottes wahrzunehmen.
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Book preview
Überschreitungen - Stefan Knobloch
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Cover
Haupttitel
Inhalt
Über den Autor
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
Stefan Knobloch
Überschreitungen
Biblische Glaubenserfahrungen als Schlüssel heutiger Sinnsuche
Matthias Grünewald Verlag
Impressum
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Alle Rechte vorbehalten
Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
© 2016 Matthias Grünewald Verlag der Schwabenverlag AG, Ostfildern
Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
Hergestellt in Deutschland
ISBN 978-3-7867-3076-7 (Print)
ISBN 978-3-7867-3077-4 (eBook)
Inhalt
Cover
Navigation
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Buch lesen
Erstes Kapitel: Die gegenwärtige Zeit – „Brutstätte der Ungewissheiten"
Empfundene Bedrängnisse
Ein Zug zum Spirituellen
Metaphysisches Bedürfnis und Ritualisierungen
Das Phänomen des Pilgerns
Kirche – eine Zombie-Institution?
Der Gläubige – ein Erinnerungsmensch
Zweites Kapitel: Signaturen der Gegenwartsgesellschaft
Die Big-Data-Welt
Kolonialisierung der Öffentlichkeit durch die Privatsphäre
Das heutige Raum-Zeit-Verhältnis
Komplexes Unbehagen an der gegenwärtigen Weltlage
Labyrinthische Welt
Drittes Kapitel: Wegmarkierungen
Hermeneutik
„Ortswechsel"
Glaubensprozess
Transzendenzsehnsucht
Die „Vielleicht-Position"
Sensibler Atheismus
Liebe und Solidarität
Viertes Kapitel: Die Bibel – eine Welt interpretierter Erfahrung
Offenbarung
In Sprache gefasste erfahrene Offenbarung
Schrift gewordene interpretierte Erfahrung
Fünftes Kapitel: Grenzen überschreiten in adaptierten biblischen Erfahrungen
Unterbrechungen
Verknäuelungen
Heiliger Boden
Ein stilles, sanftes Säuseln
Aufatmen in Staub und Asche
Neugeboren werden
Hier ist Wasser! Hier ist Leben!
Wer bist du, Herr?
Deine Sünden sind vergeben
Wer ohne Sünde ist …
Ans andere Ufer
Sechstes Kapitel: Du führst mich hinaus ins Weite
Das Fundament: Gen 2,7
Stumpfe Repräsentationscodes
Das linguistische Phänomen des „Es"
Der Geheimnischarakter des Lebens
Das Undenkbare denken
Das reale Leben als Ort der Überschreitungen
Über den Autor
Über das Buch
Hinweise des Verlags
Anmerkungen
Vorwort
„Man vergisst […], dass die klassischen religiösen Texte für alle Zeiten von Bedeutung sein können und eine motivierende Kraft besitzen. […] Ist es vernünftig und intelligent, sie in die Verborgenheit zu verbannen, nur weil sie im Kontext einer religiösen Überzeugung entstanden sind?"
Papst Franziskus, Evangelii Gaudium
Vor mehr als zehn Jahren sprach der Soziologe Zygmunt Bauman von der Gegenwart als einer „Brutstätte der Ungewissheiten". Die Ungewissheiten beziehen sich auch auf die Verlässlichkeit von Institutionen, zumal auch religiöser Institutionen. Die über Jahrhunderte wie in Stein gemeißelten religiösen Traditionen und Normen haben an Glanz verloren, der Einzelne macht sich längst in deutlicher Distanz zu institutionellen Vorgaben auf den Weg eigener, auch religiöser Sinnsuche.
In dieser Situation ist es angezeigt, ohne hier ein geschöntes Bild zu zeichnen oder gar in seichte Frömmelei abzudriften, aus einer zeitgemäßen Perspektive auf die Bibel zu schauen. Aus ihr spricht nicht wie in Stein gemeißelt Gottes Wort zu uns. Die Texte der Bibel stellen Texte von Menschen dar, die in ihnen im Prozess gemeinschaftlichen Glaubens und gemeinsamer Überzeugung ihre Offenbarungs- und Gotteserfahrungen im Horizont ihrer Zeit interpretierten. Und das steht zu jeder Zeit von neuem an. In den Narrationen, in den Erzählungen der Bibel als Texten interpretierter Glaubenserfahrung können und sollen wir unsere heutigen Lebens- und Glaubenserfahrungen spiegeln. Damit ist nicht weniger gesagt, als dass das reale Leben den Text darstellt, aus dem anhand biblischer Erfahrungen die Transparenz auf das Religiöse von selbst erwächst.
Dem liegt in der Bibel eine Überzeugung zugrunde, die in der Genesis in die Worte gefasst ist: „Der Herr blies in die Nase des Menschen den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebenden Wesen (Gen 2,7). Man kann auch sagen, so wurde der Mensch eine lebende Seele. Des Menschen Existenz gründet demnach konstitutiv in der Beziehung zu Gott. Das klingt, wenn man das so hinsetzt, leicht angesäuert. Und doch steht es nicht unter einem Verfallsdatum, das längst überschritten ist.
In unseren Tagen, in denen Institutionen sozusagen unter Generalverdacht stehen, sollen wir nicht auch noch unser Leben unter den Generalverdacht stellen, auch mit ihm habe es nicht viel auf sich. Die Fragen, was heute noch zuverlässige Relevanz gewähre, was heute noch Orientierung gewähre, werden lauter. Die Sinnsuche, auch die Suche nach Spiritualität werden vernehmlicher. In dieser Situation können die Bibel und deren neue Deutung aus der Kompetenz des eigenen Lebens neue Wege aufzeigen. Dabei geht es nicht um empirisch-naturwissenschaftlich gewonnene Einsichten, sondern um Wichtigeres: um das Einpendeln in ein Vertrauen, das die zur Rede stehende Beziehung zu Gott zwar nicht durchschaut, ihr sich aber gleichwohl anvertraut. Überschreitungen werden so möglich, die vom Leben nicht weg-, sondern in seine tieferen Dimensionen hineinführen.
Wer sich entlang der im vorliegenden Band vorgetragenen Überlegungen auf den Weg machen will, dem wünsche ich Geduld, Ausdauer und Vertrauen.
Stefan Knobloch
Passau, im Oktober 2015
Erstes Kapitel:
Die gegenwärtige Zeit –
„Brutstätte der Ungewissheiten"
¹
Wir leben in unruhigen Zeiten. In unruhigeren, als wir das mit dem Ende des Ost-West-Konflikts vor 25 Jahren erwartet hätten. Manche glaubten damals im Überschwang der sich überstürzenden Ereignisse gewissermaßen vom Ende der Geschichte reden zu dürfen. Jetzt würden heile Zeiten einer pax universa, einer pax mundana, eines weltweiten dauerhaften Friedens anbrechen. Es kam anders. Vieles, zu vieles baute sich auf, was die Menschen heute herausfordert, ohne dass sie auf die vielen Fragen und Bedrängnisse einfache Antworten hätten. Welche Bedrängnisse und welche Hoffnungspotenziale nimmt ein erster, längst nicht das Ganze erfassender Blick wahr?
Empfundene Bedrängnisse
Da ist der Klimawandel, den man zwar auf internationalen Klimakonferenzen thematisiert, gegen den aber nur halbherzige Entscheidungen getroffen werden, bei denen meist nationale Interessen die Oberhand behalten.² Allein die Schadstoffemissionen aus der weltweiten Kohleverstromung belasten die Umwelt im Übermaß. Alpengletscher schmelzen ab, der Abschmelzprozess der Eisberge des Nordpols lässt den Meeresspiegel ansteigen. Die Erdbevölkerung hat die 7 Milliardenmarke überschritten. Zumal in den ärmsten Regionen der Erde nimmt die Bevölkerung zu. Mit den Folgen von Unterernährung und Hunger, Mangel an Wasser, medizinischer Versorgung, Bildung und Infrastruktur. Not und Unterdrückung, Kriege und Genozide erzeugen Migrationswellen, die nach Europa, in den EU-Raum und anderswo hereinschlagen. Von der Entwicklung des so verheißungsvoll begonnenen arabischen Frühlings, der „Arabellion, von dem Phänomen der „Gotteskämpfer
des IS-Staates, von den Spannungen zwischen dem Westen, der Nato und Russland und vielem anderen ganz zu schweigen.
Darüber baut sich in unseren Tagen ein diffuses Angstszenario auf. Ein Szenario, das in um sich greifender Unsicherheit gründet, ohne die Unsicherheit wirklich begründen zu können. Mit ihr verbindet sich eine Unzufriedenheit, der ebenso etwas komplex Irrationales anhaftet, ohne dabei gänzlich irrational zu sein. Über weite Strecken aber scheint es ihr an gesundem Menschenverstand und an maßvoller Urteilskraft zu mangeln. Diese diffuse Gesamtlage sucht sich Ventile. Als eines dieser Ventile wird man das Pegida-Phänomen ansprechen dürfen. Eine Initiative, entstanden aus dem Wurzelgrund komplexer Unzufriedenheit, die sich unter dem Motto „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" sammelte und eine Zeit lang Montag für Montag durch Dresdens und andere Innenstädte zog.
Ein Zug zum Spirituellen
Seit geraumer Zeit lässt sich aber auch eine stille Wende zum Spirituellen beobachten. Verdankt sich diese Wende zuletzt einer Mischung aus Angst und Unsicherheit? Befürchtetem Identitätsverlust und Ähnlichem? Manchmal scheint nach dem Spirituellen wie nach einem Konsumangebot gegriffen zu werden, nach dem, was sich gerade so anbietet. Das mag sein, aber dahinter drückt sich mehr aus. Die Menschen suchen nach etwas, das ihnen fehlt. Auf vielen Feldern des Lebens, auch auf dem Feld des Religiösen. Dabei zeigt sich das religiöse Feld in pluraler Vielfalt. Tendenziell geht es den Menschen weniger um verlässliche Zugehörigkeit zu einer religiösen Institution. Sie suchen nach Leben, nach einer Verankerung des Lebens in einer Verlässlichkeit, die trägt, wenn es im Leben schwerkommt und bisherige Vorhalte kaum noch Halt bieten.
Diese Tendenz trifft sich mit der Beobachtung, dass Institutionen wie die Kirche den Menschen vielfach kaum noch wirklich spirituelle Nahrung bieten, von der sie im Leben zehren können. Tomáš Halík hat dafür das ansprechende Bild gefunden, dass das erfahrungsarme Christsein „wie ein lange nicht gegossenes Alpenveilchen im Blumentopf am Fenster"³ vertrocknet. Eine Schweizer Studie⁴ arbeitete auf der Basis der Dimensionen institutionelle Religiosität und alternative Spiritualität vier religiöse Haltungstypen heraus, den institutionellen, den säkularen, den alternativen und den distanzierten Typ. Der erste Typ sei institutionenorientiert, der säkulare Typ traue der Religion nichts mehr zu, der alternative Typ schaue sich nach anderen religiösen Impulsen um und der distanzierte Typ gehe irgendwie leer aus, ohne aber mit der Religion ganz gebrochen zu haben. Ohne diese vier Typen über einen Kamm zu scheren, möchte ich vermuten, dass alle vier auf unterschiedliche Weise für spirituelle Anstöße und Impulse offen sind, wenn sie nur an den richtigen Punkten andocken. An diesen Impulsen, spirituelle Erfahrungen zu wecken, zu hegen und zu pflegen, mangelt es heute weithin.
Papst Franziskus erkannte in seinem Apostolischen Schreiben vom November 2013, Evangelii Gaudium, an der Kirche eine „spirituelle Weltlichkeit".⁵ Sie suche den eigenen „Vorteil, nicht die Sache Jesu Christi. Die „spirituelle Weltlichkeit
speise sich zum einen aus einem „im Subjektivismus eingeschlossenen Glauben. Bei ihm bleibe „das Subjekt letztlich in der Immanenz seiner eigenen Vernunft oder seiner Gefühle eingeschlossen
(EG Nr. 94). Zum andern sei ein „Neu-Pelagianismus zu beobachten, der sich letztlich einzig auf die eigenen Kräfte verlasse und sich anderen überlegen fühle, weil er bestimmte Normen einhalte oder einem gewissen katholischen Stil der Vergangenheit unerschütterlich die Treue halte (vgl. EG Nr. 94). So verforme sich das kirchliche Handeln, sodass es sich neue Schwerpunkte setze und sich zum Beispiel verlagere auf „eine ostentative Pflege der Liturgie, der Lehre und des Ansehens der Kirche […], die wirkliche Einsenkung des Evangeliums in das Gottesvolk und die konkreten Erfordernisse der Geschichte
(EG Nr. 95) aber nicht mehr den Mittelpunkt bilden. Nutznießer eines solchen kirchlichen Manager-Funktionalismus sei „die Kirche als Organisation, aber „nicht das Volk Gottes
(EG Nr. 95). An einer Stelle wird der Papst schalkhaft überdeutlich: „Wie oft erträumen wir peinlich genaue und gut entworfene apostolische Expansionsprojekte, typisch für besiegte Generäle" (EG Nr. 96).
Beim traditionellen Weihnachtsempfang für die leitenden Mitarbeiter des Vatikans, Kardinäle und Bischöfe, verschärfte der Papst im Dezember 2014 seinen Ton noch. Er warnte vor 15 Krankheiten, die die Kirche und den Vatikan befallen hätten. „Geistlicher Alzheimer, „übertriebene Geschäftigkeit
, die Versuchung, sich „unersetzlich zu fühlen, „geistige und geistliche Verhärtung
, „Planungswahn, „Rivalitäten
und „materielles Gewinnstreben. Mit anderen Worten: Die Kirche vertraut statt dem Evangelium und dem Geheimnis Gottes mehr der angstvollen Selbstinszenierung und Selbstfixierung. Und das in Zeiten, in denen Menschen im „Spiritual Turn
mehr, Tieferes im Leben suchen, womöglich auch deswegen, weil ihnen die Kirche lediglich fast food bietet.
Metaphysisches Bedürfnis und Ritualisierungen
An dem Interesse am Spirituellen zeigt sich, dass in der Gesellschaft ein unbefriedigtes Bedürfnis nach Metaphysischem und nach Ritualisierungen besteht. Das metaphysische Bedürfnis⁶ ist in der Postmoderne nicht erstorben. Es ist ein Bedürfnis nach Verlässlichkeit, nach Sicherheit, das sich nicht rasch sättigen lässt, dessen Sättigung gewissermaßen aussteht und das einen unverfügbaren Bezug, wie Karl Rahner sagen würde, zum Transzendenten aufweist. Dieses Bedürfnis artikuliert sich gleichwohl in den Erfahrungsfeldern des Lebens. Es ist keine bloß gedachte Größe, keine bloß gedachte ideelle Gartenlaube. Es durchwirkt hintergründig, bisweilen abgründig die Lebenswelt des Menschen. Schon die Pastoralkonstitution Gaudium et spes hob die Bedeutung der Ereignisse, Bedürfnisse und Wünsche hervor, die die Gläubigen mit den anderen Menschen teilen. Diese Bedürfnisse und Wünsche müssen danach befragt werden, „was darin wahre Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes sind" (GS 11). Dieser Satz unterstellt, dass unsere Bedürfnisse und Wünsche nicht nur kleinteilig auf sofortige Erfüllung hin ausgerichtet sind. In ihnen tun sich wahre Zeichen der Gegenwart und Absichten Gottes kund. Damit ist zugleich gesagt, dass sich Gott und unsere Gegenwart nicht als feindliche Größen gegenüberstehen. Sondern Gott ist in der Gegenwart zu finden. Von daher ist dem metaphysischen Bedürfnis und den Ritualisierungen mehr Beachtung zu schenken, als es bisweilen geschieht.
Vor geraumer Zeit schlenderte ich über den Frankfurter Römer und stieß auf den „Eisernen Steg über den Main. Hier war mein Erstaunen groß. Überall hingen die Brückengeländer entlang kleine, mittlere und große Vorhängeschlösser. Angebracht von jungen Menschen, die sich lieben und die ihrer Liebe Dauer und Verlässlichkeit wünschen, indem sie Schlösserpaare für immer verschließen und die Schlüssel in den Main werfen. Gewiss hat der Main nicht die Tiefe der See, aber mit dem Versenken der Schlüssel greifen sie auf einen nicht verfügbaren Raum aus, dem sie ihre Beziehung anvertrauen. Und das tun sie sinnigerweise auf einer Brücke, die „Eiserner Steg
heißt. Allein der Name schon verheißt Dauer und Verlässlichkeit. Sofern nicht – wäre das vorstellbar? – der Steg unter der Last der Vorhängeschlösser in seiner Statik in Gefahr gerät. Für mich zeichnet sich darin durchaus so etwas wie ein metaphysisches Bedürfnis und wie die Suche nach Ritualisierungen ab.
Das Phänomen des Pilgerns
Im heutigen Pilgerwesen kann man ebenso ein Indiz einer spirituellen Suche erkennen.⁷ Gewiss überlagern und überschneiden sich da die Motive. Zumal wenn sich Menschen auf die große Reise des Jakobsweges begeben (wie Hape Kerkeling vor einer Reihe von Jahren). Hier spielen der Test, was denn körperlich noch geht, die Neugier, in ungewohnter Umgebung interessante Menschen kennen zu lernen, sich eine verdiente Auszeit zu gönnen ebenso herein wie das Bedürfnis, sich seines Lebens zu vergewissern, wovon man und wofür man eigentlich lebt, der Rückblick auf den bisher zurückgelegten Lebensweg, wie die Frage, woraufhin das Ganze eigentlich zustrebt. Und das nicht nur auf den weiten Strecken des Jakobsweges, sondern auch auf den nahen Strecken heimatlicher Wallfahrtswege. Wenn es die anderen sind, die einen motivieren, mitzugehen, die Gemeinschaft, die betet, singt, schweigt und lacht. Es sind der Motive viele.
In all dem ist eine spirituelle Dimension zu greifen, zumal, wenn wir mit Hanns-Josef Ortheil unter spirituell die Fähigkeit verstehen, „die Welt nicht einfach faktisch zu lesen, sondern als bedeutungstragend"⁸ wahrzunehmen. Als bedeutungstragend sowohl die alltägliche Umwelt um uns, der wir oft so wenig Aufmerksamkeit schenken. Als bedeutungstragend die menschlichen Kontakte und Beziehungen, die das Meer der Wirklichkeit an die Küste unseres Lebens spült. Als bedeutungstragend unsere eigene Lebensgeschichte mit der Herkunft aus dieser und keiner anderen Familie. Als bedeutungstragend nicht zuletzt die Sinnsuche unseres Lebens bis hin zur Ausdrücklichkeit der Frage nach der Religion und nach Gott. Insofern uns all das auf unseren Pilgerwegen durch Kopf, Herz und Magen, durch Beine und Blasen an den Füßen gehen kann, hat das Pilgern eine spirituelle Qualität, haftet ihm eine „Spiritualisierung des Gehwegs"⁹ an.
Kirche – eine Zombie-Institution?
Das alles sind Phänomene, die unstreitig zu unserer Zeit, zu unserer Gesellschaft zählen. Zu einer Gesellschaft, die Zygmunt Bauman als „Flüchtige Moderne"¹⁰ und als „Flüchtige Zeiten charakterisiert hat. Er analysiert sie als eine „Brutstätte der Ungewissheiten
¹¹ und nimmt in ihr die Existenz von „Zombie-Institutionen"¹² wahr. Institutionen, die einerseits lebendig scheinen, aber eigentlich tot sind. Muss sich angesichts der kirchenkritischen Töne des Papstes nicht auch die Kirche in unserem Land fragen, ob sie nicht etwas Zombie-Mäßiges an sich hat?
Für einen Journalisten ist es gewiss einfach, mit spitzer Feder darauf hinzuweisen, dass die Kirche in unserem Land bezüglich ihrer Bedeutung Gefahr läuft, einer Selbsttäuschung zu erliegen.¹³ Die Kirchengebäude seien zwar in bestem Zustand, die Kirchensteuereinnahmen seien im Jahr 2014 geflossen wie noch nie. Der Kirchenbesuch aber gehe weiter zurück, die Kirchenaustrittszahlen stiegen trotz des letzten deutschen Papstes, Papst Benedikt XVI., und trotz des von so vielen geschätzten Papstes, Papst Franziskus. Eine Meinungsumfrage des Instituts Allensbach zu zitieren, wonach 68 Prozent der deutschen Katholiken auf die Frage, warum sie katholisch seien, antworten, „weil man dann wichtige Ereignisse im Leben kirchlich feiern kann, zum Beispiel Hochzeit, Taufe, bzw. eine ähnlich hohe Prozentzahl antwortet, „es gehört für mich einfach dazu, das hat in unserer Familie Tradition
–, ist zwar journalistisch effektvoll, besonders wenn der Autor daran die Vermutung anhängt, die Fassade der Kirche werde in den nächsten drei Jahrzehnten zusammenbrechen.¹⁴ Insgesamt aber bleibt seine Einschätzung sehr an der Oberfläche und wird der Wirklichkeit der religiös suchenden Menschen nicht gerecht. Wobei der Autor selbst zu bedenken gibt: „Die Frage nach dem Woher und Wohin, die Frage nach Gott ist im Menschen angelegt. In den entscheidenden Momenten – also etwa wenn es um Krankheit und Tod geht, um die Abgründe des eigenen Lebens, um Schuld und Scheitern, Hoffnung und Trauer und nicht zuletzt: um die Erfahrung der Liebe – dort dringt