Heimatkinder 4 – Heimatroman: Unsere Heimat ist Westerheide
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In einem flachen Bungalow saß rauchend ein hagerer, großer Mann, dessen nachtschwarzes Haar mit eisengrauen Fäden vermischt war, und betrachtete ein verblasstes, postkartengroßes Foto.
Moskitonetze schützten das Fenster, und über dem Bungalow stand ernst und fern das Kreuz des Südens. Der Mann hieß Dr. John Rapur. Er war fünfundvierzig Jahre alt, Bakteriologe, in Bombay geboren, in England studiert, Mitglied einer Forschungsgesellschaft, die sich mal in Afrika, mal auf Ceylon, mal in Paris, mal in New York aufhiel
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Heimatkinder 4 – Heimatroman - Myra Myrenburg
Heimatkinder –4–
Unsere Heimat ist Westerheide
Die schwere Entscheidung einer sorgenden Mutter
Roman von Myra Myrenburg
In einem flachen Bungalow saß rauchend ein hagerer, großer Mann, dessen nachtschwarzes Haar mit eisengrauen Fäden vermischt war, und betrachtete ein verblasstes, postkartengroßes Foto.
Moskitonetze schützten das Fenster, und über dem Bungalow stand ernst und fern das Kreuz des Südens. Der Mann hieß Dr. John Rapur. Er war fünfundvierzig Jahre alt, Bakteriologe, in Bombay geboren, in England studiert, Mitglied einer Forschungsgesellschaft, die sich mal in Afrika, mal auf Ceylon, mal in Paris, mal in New York aufhielt.
Er betrachtete das Bild lange, und dann sagte er leise: »Wo bist du jetzt, Lisa? Wie lange habe ich nichts mehr von dir gehört? Zehn Jahre? Zwölf Jahre? Fünfzehn Jahre?«
Und wieder schaute er auf das lachende, runde Mädchengesicht, sinnend, kopfschüttelnd.
Er hatte nicht gewusst, wo Lisas Foto geblieben war, und heute, ausgerechnet heute hatte er es gefunden. John Rapur glaubte an schicksalhafte Fügungen, und es war ihm, als wolle das Bild zu ihm sprechen.
Hatte es eine besondere Bedeutung, dass er es heute aus einer Mappe genommen hatte, in der er alte Notizen aufbewahrte? War es ein Zeichen des Himmels oder nur ein Zufall? John wusste es nicht.
Draußen erklangen die Geräusche der tropischen Nacht, vertraut und bekannt. Irgendetwas summte um den Lampenschirm. John nahm seine Brille ab und legte das Foto vor sich auf den Schreibtisch. Achtzehn war sie gewesen und das Liebenswerteste, was ihm in Europa begegnet war. Sein erstes Mädchen. Seine erste Liebe. Wie tragisch war ihnen alles erschienen, wie unsagbar ernst und schicksalhaft.
Er sah sie aus dem Zug steigen, der sie jede Woche einmal nach London brachte. Er sah sie im Rahmen des weißen Klinikzimmers erscheinen, wo er mit Lungenentzündung lag. Er sah sie am Tisch sitzen im Indischen Klub und die knusperigen Tschapatis mit wachsendem Genuss essen. Er sah sie auf der Freitreppe des großen Herrenhauses stehen, wo sie den Sommer verbrachte und er sie besuchte, und er sah sie noch einmal am Kai stehen und winken, als sein Schiff ablegte, das ihn nach Aden brachte und von Aden nach Colombo – sein Schiff, das ihn unweigerlich von ihr wegführte, in die Zukunft hinein, in die Ferne, in ein Leben, das sie nicht teilen sollte, sosehr sie es vielleicht gewünscht hatte. Vielleicht? Er wusste, dass sie sich nichts anderes wünschen und vorstellen konnte, als bei ihm zu bleiben bis ans Ende ihres Lebens.
Aber es hatte nicht sein sollen.
»Werde ich dich je wiedersehen?«, war das Einzige gewesen, was sie über die Lippen brachte, bevor er das Schiff bestieg. Und er hatte nicht antworten können, weil ihm die Kehle zugeschnürt war. Er hatte genickt, heftig genickt.
Ach Lisa – es war nicht fünfzehn Jahre her. Es war zwanzig Jahre her. Ja, zwanzig lange Jahre.
Sie hatten sich täglich geschrieben, ungefähr vier Jahre lang. Inzwischen schloss er sein Studium ab, und sie wurde Dolmetscherin. Sie ging in die Schweiz, er ging nach Singapur. Einmal hatten sie sich treffen wollen, er erinnerte sich nur vage daran. Sie machte Urlaub in Ostafrika, den ersten, den sie sich leisten konnte, und er war gerade in Mumbay. Aber da hatte er Geli kennengelernt, und irgendwie den Mut gefunden, Lisa abzuschreiben. Er erfuhr nie, ob sie trotzdem nach Ostafrika gefahren war. Sie schrieb nicht mehr. Geli war sehr eifersüchtig gewesen, und das hatte er wohl Lisa gegenüber erwähnt.
Was wohl aus ihr geworden war?
Es hatte nur zwei Frauen im Leben des Dr. John Rapur gegeben. Lisa und Geli. Heute gab es keine mehr, denn von Lisa hatte er nie mehr etwas gehört, und Geli war tot. Seit drei Jahren schon.
Nachdenklich versenkte John Rapur das alte Foto wieder in die Mappe, wo es seit zwanzig Jahren gelegen haben mochte. Und er fragte sich, ob er noch irgendeinen Brief von Lisa aufgehoben hatte. Wahrscheinlich nicht. Sicherlich hatte er sie alle vernichtet, als er Geli heiratete. Und es waren mehr als hundert gewesen, bestimmt. Viel mehr. Die große Liebe. Ja. Über Meere und Kontinente hinweg hatte sie geschrieben, unermüdlich, Tag für Tag, Jahr für Jahr, immer in der Hoffnung, ihn wiederzusehen, bei ihm bleiben zu können, irgendwann, irgendwo. Sie wäre mit ihm nach Alaska gegangen oder in die Südsee, keine Frage.
Lisa. Ob ihn ein Mensch je wieder so geliebt hatte und so lieben würde?
John Rapur glaubte es nicht. Und er fragte sich, warum er den Gedanken an Lisa all die Jahre hindurch so verdrängt hatte. Warum zwang man sich eigentlich dazu, einen Menschen zu vergessen, der einen geliebt hatte über die Grenzen des Herkömmlichen hinaus? War das fair und richtig?
Er konnte es heute nicht mehr beurteilen, aber heute lebte Geli auch nicht mehr, und die Situation hatte sich grundlegend geändert.
Ihm fiel ein, dass Lisa immer gesagt hatte: Ich muss wissen, wo du bist und was du machst. Sonst nichts. Mehr wollen wir uns später nicht schreiben, wenn wir vielleicht verheiratet sind und Familie haben. Aber so viel müssen wir voneinander wissen. Das ist wie ein Gesetz, dass man weiß, ob der andere noch lebt, nicht wahr?
Sie hatte so recht gehabt. Und er hatte sich nicht daran gehalten.
Er erinnerte sich noch genau, an Gelis gespanntes weißes Gesicht, als er ihr geduldig erklärte, sie könne jede Zeile lesen, die er an Lisa schreibe. Es stehe nichts darin, was sie stören würde. Nur einfach so von Freund zu Freund – mehr wolle er nicht. Nur ab und zu ein Zeichen geben, ein paar Worte darüber, wo er sich aufhalte, wie es ihm gehe.
»Nein!«, hatte Geli gesagt, kein Wort mehr.
Und er hatte sich danach gerichtet. Hatte nie mehr geschrieben. Nie mehr in all diesen Jahren.
»So sieht die große Liebe aus, kleine Lisa«, murmelte Dr. John Rapur, und ein Anflug von Bitterkeit lag in seiner Stimme, »so hast du sie dir ganz sicher nicht vorgestellt, damals, als wir beide durch den Hyde Park wanderten und das Wort Liebe uns etwas Heiliges war, etwas Unwiederbringliches, Unwiederholbares, Ewiges!«
Das Telefon klingelte.
Sein Assistent fragte an, ob er nicht auf einen Whisky in den Klub herüberkommen wolle, ein paar amerikanische Kollegen für die Tagung morgen seien schon eingetroffen und würden sich freuen, ihn zu sehen.
Aber John Rapur sagte ab.
Er trank ein Glas Whisky in seinem einsamen Bungalow und dachte an das kleine Mädchen mit den ernsten grauen Augen und dem silbrig blonden Haar. Nie mehr hatte er solches Haar gesehen.
Es war fast Mitternacht, als er sich hinsetzte und zuerst die Adresse auf einen weißen Umschlag schrieb, damit er sie nicht wieder vergesse.
Die Adresse des Onkels, bei dem sie aufgewachsen war, wo er sie noch zweimal besucht hatte, nachdem sie in die Heimat zurückgekehrt war.
Und dann, im Schein seiner Schreibtischlampe, vor den Moskitonetzen schrieb er an Lisa. Nicht viel. Nur ein paar Sätze. Sie möge entschuldigen, dass er sich nach so langer Zeit einfach melde. Aber wenn es ihr irgend möglich sei, würde er sich freuen, von ihr zu hören.
Er gab seine Adresse in Mosambik an, wo er noch zwei Monate bleiben würde, klebte den Brief zu und brachte ihn am nächsten Morgen selbst zur Post. Er hatte keine Ahnung, wie viel Porto ein Brief nach Deutschland kostete.
*
Bruno Löwe gürtete seinen Bademantel und betrachtete kritisch sein Gesicht im Spiegel. Siebzig Jahre – na, zu leugnen war es nicht, aber frisch rasiert, wie jetzt, wirkte er immerhin noch nicht so greisenhaft wie manche anderen Leute.
Hochgemut verließ Bruno Löwe sein Badezimmer und hob die Brötchentüte auf, die wie jeden Morgen vor der Haustür lagerte. Dann setzte er sich Kaffeewasser auf und nahm die Decke vom Vogelkäfig.
»Guten Morgen, Rafael«, sagte er und öffnete die kleine Tür, woraufhin Rafael, ein blauer Wellensittich mit gelben Schwanzfedern, eilig herausgehüpft kam.
»Wir beide«, sagte Bruno Löwe, »werden jetzt ganz gemütlich frühstücken, auch wenn die Verlagskonferenz inzwischen ohne uns beginnt, was? Das können wir uns leisten, jawohl. Mit siebzig Jahren braucht man nicht mehr pünktlich zu sein wie die Maurer.«
Rafael schien derselben Meinung, denn er nickte bestätigend mit dem kleinen blau gefiederten Kopf.
»Morgen, Herr Löwe!«, sagte eine lässige Männerstimme, und