In Ängsten - und siehe, wir leben: Lebenserinnerungen eines Wolhynienpfarrers
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About this ebook
Die packenden Lebenserinnerungen des Evangelischen „Wolhynienpfarrers“ Hugo K. Schmidt spiegeln auf jeder Seite diese versöhnliche Einstellung wider. Deutsche waren, bedingt durch ihre Geschichte, stets bereit, mit Fremden zusammenzuleben. Fremdenfeindlichkeit, wie sie die Nazis dem Volk überstülpen wollten, ist für die Deutschen untypisch; mit Recht wollen heute viele, dass Abwehr durch eine „Kultur des Willkommens“ ersetzt wird.
Hugo Schmidt, Nachfahr von schwäbisch-stämmigen Siedlern um die spätere polnische Industriestadt Lodz aus der kurzen Zeit der preußischen Herrschaft um 1806, hatte sich als junger Pastor der Evang.-Augsburgischen Kirche in Polen zum Dienst in den volkskirchlich geprägten Gemeinden Wolhyniens berufen lassen und war dabei ganz der Aufgabe an diesen kernigen Menschen in dem heute ukrainischen Gebiet als einer „ersten Liebe“ verfallen.
Umso verstörendere Migrationserfahrungen erwarteten ihn und weitere ¾ Million „Volksdeutscher“, als Hitler sie nach seinem Pakt mit Stalin im Krieg zur notvollen Umsiedlung „heim ins Reich“ nötigte, um seiner Utopie vom „Lebensraum im Osten“ im eroberten Polen Gestalt zu verleihen, eine beschönigende Beschreibung einer erzwungenen Völkerwanderung, die im strengen Winter 1939-1940 begann und deutsche Volksgruppen vom Baltikum bis Südtirol wie Schachfiguren verschob. Die Zumutungen der Flucht von 1945 waren hier vielfach vorweggenommen: verlustreiche Pferdetrecks, ungeheizte Eisenbahnzüge, Versorgungsmängel, verlogene Propaganda
Dass in solchen Zeiten des lebensverneinenden Chaos gerade auch der Glaube ein besonderer Wert ist, will der Buchtitel mit dem Bibelzitat „In Ängsten – und siehe, wir leben“ unterstreichen. Es preist einen Gott, der den Menschen immer wieder neu zur Umkehr und ins Leben ruft und dem Gewissen ein verlässlicher Ratgeber ist
Hugo Karl Schmidt
Der Autor Hugo Karl Schmidt, 2009 im begnadeten Alter von fast 100 Jahren verstorben, war der erste Pfarrer aus den östlichen Provinzen des zusammengebrochenen Deutschen Reiches, der nach dem Zweiten Weltkrieg in den Dienst der Evang.-Luth. Kirche in Bayern übernommen wurde. Er leitete hier die Pfarrstellen von Roth II und Katzwang. Bis zuletzt setzte er sich auch rührend für seine ehemaligen Gemeindeglieder ein, die er als Pfarrer in Wolhynien und als Superintendent (Dekan) in Rypin im Wartheland (Dobriner Land) betreut hatte und die nach ihrer Flucht 1945 nun in alle Winde verstreut waren. Er ist Gründer des Historischen Vereins Wolhynien und zugleich dessen Ehrenvorsitzender. Sein historisch bedeutsames Hauptwerk ist, neben gut 40 weiteren Veröffentlichungen, das Buch „Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Wolhynien“ (1992). Hugo Schmidt stammt aus einer Siedlerfamilie schwäbischer Herkunft und wurde 1909 in der Industriestadt Lodz im damals russisch beherrschten „Kongress-Polen“ geboren. Die Restitution des polnischen Staates und die Diktatur Józef Pisudskis nötigten den Heranwachsenden, in Polnisch sein Abitur zu machen. Er nahm auch den wachsenden Konflikt zwischen dem strikt katholischen polnischen Nationalismus und dem vom Protestantismus geprägten Deutschtum wahr. Das Theologiestudium führte ihn nach Leipzig und zu Beginn des „Dritten Reichs“ erstmals auch nach Erlangen. Zum Mentor für sein Vikariat wählte Hugo Schmidt den Pfarrer der deutschen Gemeinde von Rozyszcze im damals polnischen West-Wolhynien (heute Ukraine). Nach seiner Heirat ließ er sich in dieser volkskirchlich geprägten Landschaft als Pastor der Gemeinde Tuczyn einsetzen. Die Polen verhafteten ihn bei Kriegsbeginn 1939 und sperrten ihn mitsamt vielen anderen deutschen Intellektuellen im berüchtigten polnischen Konzentrationslager Bereza Kartuska (heute Weißrussland) ein, doch kam er mit Auflösung der äußeren Ordnung frei. Hitlers Geheimabkommen mit Stalin nötigte seit dem eiskalten Winter 1939/40 alle „Volksdeutschen“, ihre Heimat zu verlassen. Die Nazis zerstreuten Schmidts Gemeinde im deutschen „Mustergau“ Wartheland, der nach ihrem Wunsch möglichst religionslos sein sollte. Als Pfarrer von Rypin und inzwischen beauftragter Superintendent von Lipno waren für ihn die Konflikte mit dem System vorprogrammiert. Rechtzeitig vor Kriegsende konnte Hugo Schmidt seine weitläufige Familie und auch sich selbst vor der heranrückenden Roten Armee in Sicherheit bringen.
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Book preview
In Ängsten - und siehe, wir leben - Hugo Karl Schmidt
HUGO KARL SCHMIDT — Aufn. 1945
Inhalt
„In Ängsten - und siehe wir leben" - Die Bewährung des Apostels in seinem Dienst
EINFÜHRUNG: Ein Buch voller Wunder in einer Welt voller Schrecken
Vorworte
Wo die Erinnerungen spielen - Europakarte
ERSTES BUCH: Leben in Łódź
I. Vorfahren väterlicherseits und der Vater Gottfried Schmidt
Kantorlehrer mit schwäbischer Herkunft
„Onkel Adolf"
Der Vater Gottfried Schmidt: Kaufmann, Soldat und Fabrikverwalter in Łódź
- EXKURS: Die Entwicklung der TextilstadtŁódź
II. Vorfahren mütterlicherseits und die Mutter Emilie Seidel
Großvater Gustav Seidel, Tuchmacher und heilkundiges Universalgenie
Großmutter Ernestine Seidel – Enkelin einer schlesischen Adeligen?
„Onkel Max", ein tüchtiger Geschäftsmann und Ratgeber
Die Mutter Emilie Seidel, dichterisch begabt und religiös
III. Kindheitserinnerungen
Eine strenge Erziehung, Betreuung durch Wirtschafterinnen
Kindheit bei der Großmutter bis zum Schuleintritt
Im ersten Weltkrieg trotz Hunger bewahrt
Erste Rückbesinnungen auf das Deutschtum und Althaus’ Predigttätigkeit
IV. Schulzeit in Łódź — 1916-1929
Erste Schulzeit in privaten Vorschulklassen
Großzügiges Wohnen, kindliche Freiheit, aber unsichere materielle Verhältnisse
Die polnische Sprache lernen
Ein mäßiges, aber trickreiches Abiturzeugnis
Geldverdienen mit Nachhilfe
Musik vom „Geigekratzen" bis zur Mädchenchorleitung
Erfahrungen mit EC-Jugendarbeit … prägen die Entscheidung zur Theologie
Deutschtum ohne Fanatismus
Deutsch sein hieß evangelisch-lutherisch sein, polnisch sein hieß katholisch sein
Ein Zuhause auch ohne „Familie"
Ferien in der „Sommerwohnung"
Freundschaft fürs Leben
ZWEITES BUCH: Studieren in Leipzig, Erlangen, Warschau
V. Studienbeginn —1929-1930
Weichenstellung für Leipzig
- EXKURS: Bischof Juliusz Bursche – evangelischer Missionar unter katholischen Polen
Gottes Fügungen ermöglichen das Leben
Teilhabe am Leben einer Kulturstadt
Theologische Anfänge und Anfechtungen
VI. Von Erlangen bis Warschau — 1931-1933
Von Erlangen bis Warschau — 1931-1933
Bei Erlanger Theologen und in der Studentengemeinschaft gut aufgehoben — 1931
- EXKURS: Paul Althaus - ein umstrittener Theologe
Hilfreiches Examen — 1933
Angespannte politische Lage in Deutschland vor Hitlers Machtergreifung — 1933
Kirchenkampf — 1933
Deutschland-Abschluss bei der Singbewegung
Heimkehrschock und Weiterstudium in Warschau 1934
Vortragstätigkeit beim Deutschen Club
Auf der Suche nach Anstellung bei Pfarrer und Gemeinde 1935
Begegnung mit Alfred Kleindienst
- EXKURS: Alfred Rudolf Kleindienst - „Vater der Wolhyniendeutschen"
DRITTES BUCH: Wo liegt bitte Wolhynien?
VII. Wo liegt bitte Wolhynien?
Einführung: Das dramatische Schicksal der Wolhyniendeutschen
Die Geschichte des Wolhyniendeutschtums
Vikarszeit in Rozyszcze - Wolhynien
Ordination für „Hugonowi-Karolowi Schimdtowi" in Warschau — 1935
Als Administrator nach Tuczyn, Kreis Równe - Wolhynien — 1936
- EXKURS: Der Leiter des kirchlichen Außenamtes 1933-45 Theodor Heckel
Heirat in Chodecz — 22. Sept. 1936
Familie Bredow - eine preußisch-polnische Kürschner- und Bäckerfamilie
VIII. Erlebtes und Erzähltes: Amtsleben in Wolhynien und … Tuczyn – 1936-1939
Visitationen mit „pastoralem Gottesdienst"
Ja und Amen trotz langen Predigten
Kindertaufe und Kirchenbücher
Zum Krankenabendmahl oft weite Strecken unterwegs
Am Krankenlager das Evangelium verkündigen
Testamente in der Sterbestunde
Verwechselung bei der Massentrauung
Beerdigungsgebühren für den Kantor
Kirchenmusik als Hilfe zum Gemeindeaufbau
Ein gastfreundliches Pfarrhaus
Freude und Leid im Familienleben — 1937
Schicksalsorte im Leben von Hugo Karl Schmidt, Landkarte
VIERTES BUCH: „… in Schlägen, Gefängnissen, Verfolgungen …"
IX. Der September 1939: Interniert im polnischen KZ
Erlebnisse während des Polenkrieges
Vorwort
- EXKURS: Bereza Kartuska – Synonym für die polnische KZ-Praxis
Der Kriegsbeginn weckte den Hass der Polen gegen die deutschen Siedler
Verhaftet wie Verbrecher
In Ketten verschleppt ins polnische Konzentrationslager
Unterwegs bespuckt und mit Steinen beworfen
Im Konzentrationslager mit Knüppeln geprügelt
Unter der Aufsicht von Sträflings-Kapos
Gequält und gedemütigt von Kriminellen
Hunger und schlimmer Durst
Vertrauensvolles Miteinander der Häftlinge
Freiheit nach Flucht der Wachmannschaften
Auf Eilmärschen zu den Deutschen
Sorgenvolle Begegnung mit anderen Befreiten
Gemeinsamer Beschluss: Zurück nach Wolhynien
Riskanter Rückweg zwischen Polen und Russen
Abenteuerliche Bahnfahrt
Glückliche Heimkehr
FÜNFTES BUCH: „Heim ins Reich" 1940 - eine große Enttäuschung
X. Von Wolhynien in den Warthegau — 1940
Umsiedlung und Krieg waren von langer Hand geplant
Williger Gehorsam ohne Diskussion
Tausende Geburtsurkunden ausgefertigt
Panne bei der Nummernvergabe
Schummeln um der Humanität willen
Währungsreform auf Russisch
Am Trecken gehindert
- BERICHT: Die Umsiedlung 1940, ein von Goebbels inszeniertes Drehbuch
Ein Treck mit 240 Gespannen
Hoffnung und Verzweiflung der Trecker
Vor Zollschluss zum Bug
Bei sibirischer Kälte im „Pullmannzug" zur Grenze
Enttäuschende Ankunft im deutschen Interessengebiet
Tragische Nachwirkungen: Krankheiten und Todesfälle
- EXKURS: Das Wartheland – Aufnahmegebiet der Umgesiedelten
Figuren auf dem Schachbrett der Diktatoren
Schlechte Karten für Polnisch-Sprachige
- EXKURS: Das Geheimnis der „Bugholländer"
Zumutungen für das Deutschsein
,Vier EXKURSE:
Eingeteilt in Volkslisten mit unterschiedlichen Bürgerrechten
Pfarrer zwischen Skylla und Charybdis
Der Nazi-Mitgliedschaft widerstanden
Der Personalausweis genügt nicht zum Nachweis der deutschen Staatsangehörigkeit
Deutsche Umerziehung und Rassereinheit
Die Wolhynier sahen den NS-Staat anfangs meist positiv
Der versprochene Ringtausch der Höfe war eine Fata Morgana
Widerstand gegen die NS-Kirchenpolitik
XI. Als Pfarrer während der Kriegszeit in Rypin
Berufen in eine der „besten Gemeinden" in Polen
Aufzug in Rypin — 1940
- EXKURS: Der Vorgänger Waldemar Krusche
Neue Kirchenzugehörigkeit für die lutherischen Gemeinden
Die Eigenheiten der Gemeinden der Evangelisch-Augsburgische Kirche Polens
Kirchliche Sensibilität des Danziger Konsistoriums trotz NS-Parteizugehörigkeit
- EXKURS: Wie die Nazis der kirchlichen Jugendarbeit Knüppel zwischen die Beine warfenl
SECHSTES BUCH: Schockstarre durch den Terror von Selbstschutz und SS
XII. Das Schreckensregiment der volksdeutschen „Selbstschutz"-Milizen
- EXKURS: Das „Folterhaus des Selbstschutzes" in Rypin – von Jürgen Taegert
- EXKURS: Auch Gemeindeglieder waren beim terroristischen „Selbstschutz"
- EXKURS: Das Wüten des deutschen Selbstschutzes - von Jürgen Taegert
Alltags Mordschützen, sonntags fromme Beter im Gottesdienst?
- EXKURS: Manche Kantorenlehrer hatten zwei Gesichter – von Jürgen Taegert
Als Polnisch-Dolmetscher am Wehrdienst vorbei
Superintendent im Kirchenkreis Leipe 1942 – 1944
Euer Pastor soll sich in acht nehmen, sonst kommt er ins KZ
SIEBTES BUCH: Von Schutzengeln geleitet: „Deutschlandreise" 1945
XIII. Evakuierung und Flucht aus dem Osten - Ereignisse 1944/45
Eine weitsichtige Entscheidung 1944: Trennung und Zuflucht der Familie in Erlangen
Russische Offensive und Vorbereitung der Evakuierung
Glockenläuten wegen Panzeralarm und Räumung der Ortschaft Rypin
Eine Fahrt im Kreise mit den Pfarramtsakten im letzten Zug von Rypin
Rückkehrer fallen der Wut der Polen zum Opfer
Zurück zur Kirchenleitung nach Danzig
Bei der Gemeinde bleiben auch in der Diaspora
„Harre meine Seele" – Trost inmitten Chaos und Elend
- EXKURS: Verpflegung für Flüchtlinge mit der „Reichsurlaubskarte
Übernachtung im pommerschen Gutshof
Gemeinde durch Flucht in alle Winde zerstreut
Fügungen auf dem Weg nach Erlangen: Auf einem Kranwagen der Luftwaffe
Dem größten Bombenangriff auf Berlin um Haaresbreite entgangen
Wiederbegegnung mit dem Vater
Die Bewahrung der Angehörigen
Der Zerstörung des Landeskirchenamtes Ansbach knapp entkommen
- EXKURS: Krach um die Benennung der Bischof-Meiser-Straße
Vertriebenen-Schicksale
XIV. Beruflicher Neubeginn und Kriegsende in Franken März 1945
Amtsaushilfe in Erlangen-Bruck
- EXKURS: Die letzten Kriegsereignisse in Erlangen-Bruck im April 1945
Gottesdienst beim Vordringen der Front
Die weiße Fahne am Brucker Kirchturm
Amtsaushilfe in Erlangen-Altstadt
- EXKUS: Die Erlanger „Stadtrandsiedlung" – ein Arbeiter- und Kirchenprojekt
Wohnung in Erlangen
Familie und Verwandtschaft nach Kriegsende
Gewagte Grenzübergänge auf der Suche nach den Spahljungen
Wohnen in der Stadtrandsiedlung
ACHTES BUCH: Eine Lanze für die Flüchtlinge
XV. Eine Lanze für die Flüchtlinge in der Gemeinde
Vorwort
Wer sind die Flüchtlinge?
Die „reichsdeutschen" Flüchtlinge
Die sogenannten Volksdeutschen Flüchtlinge
Zur Psychologie der Flüchtlinge
Das Trauma von Flucht und Vertreibung
Die Zerreißung der Familien
Der Verlust
Die Entwurzelung
Flüchtlingsnot und christliche Gemeinde
Die Gemeinde als neue Heimat
Gottesdienst und Verkündigung
Eine Anmerkung
XVI. Das Mädchen ohne Füße - Drama einer Flucht 1945 ohne Aussicht
Einführung
Erster Brief - Rummelsberg, den 15. November 1947
Anweisung zum Aufbruch kam zu spät
Von der Roten Armee eingeholt
Zurückgeschickt!
Tod im Winterwald
Zweiter Bericht von Martha Schwarz
Aufgefangen im Abgrund
Was hast du verbrochen?
Nach wilden Gerüchten vom Mob fast zur Erschießung verurteilt
Die Füße selbst amputiert
Pfingsten – Ermutigung gegen Selbstmitleid
Zwei Jahre in der Dorfschmiede unter Obhut von „Vater Brenner",
Abgeschoben und vertrieben aus der Heimat Polen
In Rummelsberg wieder im Leben angekommen
XVII. Familiengeschichtl. EXKURS: Das weitere Schicksal von Brüdern und Schwager
Mein Bruder Otto
- EXKURS: Baruth und das letzte Gefecht der Deutschen
Mein Bruder Johannes
- EXKURS: „Onkel Fredek" – ein Überlebenskünstler voller Geheimnisse
Ein unterhaltsamer Zeitgenosse mit festen Gewohnheiten
Als Dolmetscher in geheimer Mission
Konspirativer Einsatz im Kaukasus
„Feuerwehreinsatz" beim Rückmarsch
Begehrter Dolmetscher bei den Sowjets
Beim Festbankett der Sieger
Verschleppt ins russische Kriegsgefangenenlager
Heimatsehnsucht trotz Reiselust bis ins Alter
Gut aufgehoben in seiner verständnisvollen Familie
NEUNTES BUCH: Erfüllte Zeit
XVIII. Als Pfarrer in Roth – 1947-1965
Lebens- und Dienststationen um Nürnberg nach dem Krieg: Landkarte
Amtsantritt und Arbeit auf der zweiten Pfarrstelle Roth
- EXKURS: Kleine Geschichte der Stadt Roth
- Die gotische Stadtkirche
Freundliche Hausgenossen, aber dicke Luft
- EXKURS: Gerüche von geschichtlicher Brisanz - Roth und das KZ Auschwitz
Familienheimat Roth
August 1961 – Bau der Berliner Mauer und Schließung der deutsch-deutschen Grenze
Eine Riesenlast an Gemeindeaufgaben und Unterricht
Erholung als Kurprediger und weitere Dienste
Bernlohe erhält eine Kirche
Mitarbeit der Ehefrau in der Frauenarbeit
Aufbau von Männerarbeit
Ein Diakon für die Jugendarbeit
Vertretungen und Überlegungen für einen Wechsel
XIX. Zehn Jahre Pfarrer in Katzwang – 1965-1975
- EXKURS: Katzwang -eine evangelische Marienkirche mit katholischem Patronat
Neue Schwerpunkte: Kindergarten, Jugendarbeit, Erwachsenen- und Altenarbeit
Ausbildung und Lebensweg der Kinder:
- Reinhard, der Erzmusikant, ist allzu früh vollendet
- Peter, der Menschenfreund und Arzt, weiß immer auch einen guten medizinischen Rat
- Eva-Marie weiß, was sie will und ist auch der Musik verfallen
- „Dorle" - eine Säule der weltläufigen Familie
- Martin ist ein Original mit politischer und weltanschaulicher Allround-Kompetenz
Gesundheitliche Probleme am Ende der Dienstzeit
Ein aktiver Un-Ruhestand in Wolkersdorf nach Ostern 1975
Verbindungen zur alten Heimat
- EINSCHUB: Laudatio für Hugo Karl Schmidt zur Verleihung des „Dr. Kurt-Lück-Preises"
Freundschaften im Alter
Kurpredigerdienste
XX. Goldene Hochzeit am 25. Okt. 1986
Goldene Hochzeit
Predigt zur Goldenen Hochzeit
ZEHNTES BUCH: Grenzen, Fügungen und das Wunder geschenkter Jahre
XXI. Rückblick (1993): Bilanz — Grenzen und Hilfe
Ein tiefer Einschnitt: Herzinfarkt 1989
Anmerkungen zu den besonderen Zeitumständen im Jahr 1989
Ein kleiner Tod
Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch
Wunderbare Fügungen
In Ängsten - und siehe, wir leben
XXII. Das Wunder geschenkter Jahre - 2001
Neuorientierung nach der Begegnung mit dem eigenen Tod
Abschied vom Lebensmittelpunkt, und dass danach noch etwas kommt
Auch im Alter der Berufung entsprechen
Auflebende Beziehungen
Das Alter aktiv gestalten
Schachspiel für den Heimprospekt
Tageslauf im Seniorenhof Büchenbach unter neuer Leitung
Gemeinsam Geburtstag feiern
XXIII. Geschichten vom Papa Hugo und Mama Edith
Peter erinnert sich: „Schubertlieder in der Sonntagsfrühe"
„Bergsteigen an der Kampenwand"
„Schwarzfahrt mit dem Käfer"
Eva-Marie erinnert sich: Sulzbürg – Erholungsurlaub mit Mutti
Mein schönstes Erlebnis mit Papa
Dorothea - Erinnerungen an meinen Vater: „Schaukeln am Sessel"
„Geburtstag mit Papa
Martins wichtigste Erinnerung: „Dank Papa wieder ‚im Bilde‘"
Jürgen erinnert sich an Schwiegervater und Schwiegermutter: „Slibowitz und Theologie"
„Ein Schwiegersohn, den Mama nicht heiratet"
XXIV. ABSCHIED
À Dieu - Gott befohlen! – Abschiedswort von Hugo Karl Schmidt
Und wie dieser Abschied von Hugo Karl Schmidt wirklich war
Der Schlaganfall verändert alles
Leben wie in einer anderen Welt
Der letzte gemeinsame Familiengeburtstag
Zum Sterben vorbereitet mit Weihnachtsliedern
Der Segen des Vaters für die Kinder
Kein Tag wie jeder andere
Beerdigung mit dem Familienchor
- LEBENSLAUF
- NACHRUFE in den Zeitungen:
- „Das Ordentliche ordentlich machen"
- „Ein Vorbild für die Nachfolgenden"
- „Sein Leben und Werk gewürdigt"
ANHANG:
XXV. Bibliographie Hugo Karl Schmidt
Hauptwerke
Veröffentlichungen zum Thema „Wolhynien" in Zeitschriften u.ä.
Veröffentlichungen zum Thema „Kirchenkreis Rypin-Westpreußen und „Flüchtlinge
Anspiele
Rezensionen
Über H.K.Schmidt
Ergänzende Informationen
XXVI. Beigaben
Lieder von Gustav Seidel: „Hymnus, „Waldlust
„Acht Generationen" - Stammtafel Schmidt-Bredow
Lebens-Bilder
heute: Die Nachkommen des Gottfried Schmidt und der Emilia Seidel
Über den Inhalt des Buches
Über den Autor Hugo Karl Schmidt
Über den Herausgeber
Texte von Jürgen Taegert und anderen Verfassern in diesem Buch:
Landkarte Wolhynien 1938/44
Landkarte Tuczyn 1928
„In Ängsten - und siehe wir leben"
Die Bewährung des Apostels in seinem Dienst
Aus dem zweiten Brief des
Apostels Paulus an die Korinther 6, 1-19
Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch,
dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt.
Denn er spricht (Jesaja 49,8):
"Ich habe dich zur Zeit der Gnade erhört
und habe dir am Tage des Heils geholfen."
Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade,
siehe, jetzt ist der Tag des Heils.
Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß,
damit unser Amt nicht verlästert werde;
sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes:
In großer Geduld, in Trübsalen, in Nöten, IN ÄNGSTEN,
in Schlägen, in Gefängnissen, in Verfolgungen,
in Mühen, im Wachen, im Fasten,
in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut,
in Freundlichkeit, im heiligen Geist, in ungefärbter Liebe,
in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes,
mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken,
in Ehre und Schande; in bösen Gerüchen und guten Gerüchten,
als Verführer und doch wahrhaftig;
als die Unbekannten, und doch bekannt;
als die Sterbenden UND SIEHE, WIR LEBEN;
als die Gezüchtigten, und doch nicht getötet;
als die Traurigen, aber allezeit fröhlich;
als die Armen, aber die doch viele reich machen;
als die nichts haben, und doch alles haben.
EINFÜHRUNG
Ein Buch voller Wunder in einer Welt voller Schrecken 1909-2009
- von Jürgen Taegert
Ein eindrückliches Titelbild ziert dieses Buch. Die Vorlage heißt „Der große Treck" und stellt die Ankunft der wolhyniendeutschen Umsiedler im Januar 1940 in den Lagern um die Stadt Ł ÓDŹ in Mittelpolen dar. Aus Gründen, über die noch nachzudenken sein wird, habe ich aber das Originalmotiv bewusst um 180° horizontal gewendet.
Wir sehen, wie ein Mann in wärmendem Pelz im Morgengrauen auf die Stadt ŁÓDŹ zugeht, die mit ihrer mystischen Silhouette der Basilika St. Stanislaus Kosta schemenhaft aus dem Frühnebel auftaucht. Links und rechts seines Weges sind, soweit das Auge reicht, Planwagen und beladene Bauernwagen abgestellt und abgeschirrt. Zwei einsame Menschen stehen etwas entfernt wartend und fragend am Weg. Ein dunkler Doppelspänner kommt ihnen von Ferne entgegen. Sonst ist die Szene menschenleer.
Der Pinselstrich ist expressiv und rau, das Motiv wirkt keineswegs heroisierend, wie man es von Künstlerbildern der Hitlerzeit vielleicht erwarten würde. Hier wird kein Paradies und kein Heldentum dargestellt, eher ein von Kälte und Härte gezeichnetes Leben in Wartestellung, das fragt, wie es weitergehen soll.
Ob HUGO KARL SCHMIDT dieses Bild gekannt hat, muss hier offenbleiben. Immerhin waren Werke des Künstlers OTTO ENGELHARDT-KYFFHÄUSER (1884-1965) auf der „Großen Deutschen Kunstausstellung 1940 im Haus der Deutschen Kunst in MÜNCHEN ausgestellt; hier wollte HITLER „deutsche klare
Kunst von den „zersetzenden Tendenzen der „entarteten Kunst
der „vorgeschichtlichen prähistorischen Kultur-Steinzeitler und Kunststotterer getrennt und unterschieden wissen. Außerdem waren Engelhardts Bilder dann vor allem bei der ersten Ausstellung eines deutschen Künstlers im besetzten Polen vom 2.-12. Februar 1940 in der Krakauer Kunsthalle zu sehen. Und im weiteren Verlauf des Jahres 1940 wurde auch eine ständige Ausstellung seiner Bilder unter dem gleichen Titel „Der große Treck
im Ständehaus in GÖRLITZ eröffnet. Nicht zuletzt ließen sich die Nazis 1940/41 aber von Engelhardts Bildmotiven zu ihrem großen propagandistischen Spielfilm „Heimkehr" inspirieren und setzen dafür die Filmgrößen ihrer Zeit ein, wie PAULA WESSELY, PETER PETERSEN, ATTILA HÖRBIGER, RUTH HELLBERG, CARL RADDATZ u.v.a.m.
Was malt der Künstler hier, und was hat ihm mit solchen ernst gestimmten Bildern ausgerechnet bei den Nazis solchen Ruhm beschert? Es war Hitlers raffinierter Propagandaminister JOSEF GOEBBELS, der den Maler ENGELHARDT, der sich als regimetreuer Nazi offenbart hatte, im Januar 1940 mit einer makabren Mission beauftragte: Er sollte die „Rückführung" der über 60.000 Wolhyniendeutschen aus den Gebieten, die nach dem geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes der Sowjetunion zufallen sollten, begleiten und in seinen Skizzen und Zeichnungen festhalten.
Es war durchaus Absicht der Nazis, dass diese Umsiedlung „heim ins Reich voll in die kälteste Jahreszeit von Weihnachten 1939 bis Mitte Januar 1940 fiel. Auch wurde den Ausziehenden damals keinerlei Unterstützung von außen zuteil; vielmehr wurde ihnen Beistand bewusst verweigert, mit der Begründung: „Es ist ja Krieg, wir brauchen unsere Transportmittel für unsere Truppen an der Front
. So waren diese Exulanten voll auf sich selbst gestellt und mussten entsprechende bittere Schläge hinnehmen, wie auch die diesbezüglichen dramatischen Berichte in den folgenden „Lebenserinnerungen" zeigen.
So entstehen damals in der Wirklichkeit für den Film „lebensechte Bilder voller Anspannung und Dramatik. Sie schildern die Auseinandersetzung der Menschen mit den Naturgewalten im Kampf ums Überleben. Es sind Bilder „nach dem Herzen des Führers
; er will sein Volk in diesem Kampf um die Überlegenheit der arischen Rasse siegen oder untergehen sehen.
Hitlers Geschichtsdenken ist ja auf makabre Weise von seinem Glauben an einen Sozialdarwinismus bestimmt, in dem das überlegene Volk Anspruch auf Herrschaft über die übrige Menschheit hat. „Deutschland wird Weltmacht oder gar nicht sein, so hatte Hitler einst bei seinem Gefängnisaufenthalt in Landsberg 1924 profezeit, nach dem Motto: Alles oder nichts. In seinen letzten Tagen im Führerbunker in Berlin eine knappe Generation später im April 1945 wird er die Niederlage und Zerstörung Deutschlands konsequenterweise als „verdienten Untergang
seines Volkes bezeichnen, das sich zu seiner großen Enttäuschung als das Schwächere erwiesen habe.
Künstler mit Spezialauftrag: Otto Engelhardt-Kyffhäuser als Berater der Dreharbeiten des Nazi-Propagandafilms „Heimkehr" 1941; hinter ihm die Gestalt des fellbekleideten Wolhyniers, der auch das Titelbild ziert
Die Bilder, die bei der Umsiedlung 1940 entstanden sind, zeigen den ganzen existenziellen Einsatz und das tiefe Leid von Menschen. Diese Bilder werden nach dem Krieg als „Ikonen der Vertreibung" missbraucht und müssen seitdem immer wieder in verschiedensten Veröffentlichungen auch renommierter Verlage völlig anachronistisch und unkritisch zur Darstellung der deutschen Flucht und Vertreibung im Osten 1945 herhalten, welch makabere Zweckentfremdung!
Die Geschichten in diesen Bildern vom Januar 1940 werden im Film ergänzt durch Szenen über Gräueltaten, welche die Nazis den authentischen Erlebnissen der Wolhynier abgelauscht und nun bewusst tendenziös zu einer Handlung verdichtet haben. Es könnten durchaus auch Aussagen von HUGO SCHMIDT und seinen Gemeindegliedern und Kollegen verwertet worden sein. Die gutgläubigen Wolhynier, die von solcher Zweckentfremdung ihrer Zeugnisse nichts ahnten, wurden damals von GOEBBELS gezielt für die Kriegspropaganda gegen Polen und dann vor allem „gegen den Bolschewismus" instrumentalisiert.
Genau zu dem Zeitpunkt, als HITLER im Jahr 1941 seinen Feldzug gegen Russland beginnt, kommt der 3,7 Millionen Reichsmark teure, nach heutigem Geldwert etwa das Zehnfache kostende Film in den deutschen Kinos heraus und soll den Deutschen den wahren Kriegsgrund im Ostfeldzug vor Augen führen, nämlich das „Untermenschentum der slawischen Völker", denen gegenüber es nur einen Kampf ums Überleben der Deutschen mit allen Mitteln geben könne
Betrachten wir die Handlung dieses Films genauer: Im Mittelpunkt steht die wolhyniendeutsche Minderheit in der Woiwodschaft LUCK, die dem Gebiet von ROWNO und TUCZYN, in dem HUGO SCHMIDT seinerzeit wirkte, unmittelbar westlich benachbart ist. Die Deutschen dort werden nach der Aussage dieses Films von der polnischen Mehrheit drangsaliert. Dem deutschen Arzt erlaubt man für notwendige Operationen nicht die Nutzung des örtlichen Krankenhauses. Seine Tochter MARIE, die, wie die damaligen kirchlichen Kantorlehrer, an der deutschen Schule unterrichtet, muss erleben, dass ihre Schule staatlicherseits von Polen enteignet und von aufgebrachten Volksmassen demoliert wird. Sie beruft sich ohne Erfolg beim polnischen Bürgermeister auf den verfassungsmäßig garantierten Minderheitenschutz und will deshalb ihr Anliegen bei der nächsthöheren Ebene in der Hauptstadt vorbringen, findet dort jedoch ebenfalls kein Gehör.
Als sie mit ihrem Verlobten FRITZ und einem von der polnischen Armee zwangsrekrutierten Deutschen den Aufenthalt in LUCK für einen Kinobesuch nutzt, erlebt sie, dass alle Anwesenden dort die polnische Nationalhymne singen und von den anwesenden Deutschen das Gleiche erwarten. Als sie sich weigern, werden sie vom aufgebrachten Mob angegriffen, der Verlobte FRITZ wird schwer verletzt und stirbt, nachdem er im Krankenhaus abgewiesen wird. Danach eskalieren die Gewalttätigkeiten gegen die deutsche Minderheit; eines ihrer Opfer wird auch Maries Vater.
Die Deutschen wollen dann heimlich in einer Scheune Hitlers Reichstagsrede vom 1. September 1939 hören, sie werden ertappt und ins Gefängnis geworfen. Die Wachmannschaften misshandeln sie und treiben sie in einen Folterkeller voller Wasser, wo sie knapp einem Massaker entgehen. Deutsche Soldaten befreien sie in letzter Sekunde. Dann beginnen die Vorbereitungen für die Umsiedlung mitsamt einigen dramaturgischen retardierenden Momenten. Schließlich passiert der Treck der Wolhyniendeutschen die Grenze zum deutsch besetzten polnischen Warthegau, über dessen Grenzstation, einem Triumphbogen gleich, ein riesiges Hitlerbild prangt und sie willkommen heißt.
Den Wolhyniendeutschen war der Zweck des eigentümlichen Besuchs des Künstlers OTTO ENGELHARDT vor der Bild- und Filmherstellung nie klar, sie betrachteten seine Anwesenheit als ehrliche Anteilnahme an ihrem Geschick. Und so konnten viele Wolhyniendeutsche auch seinem Ergebnis in Form der Bilder und der dramatischen Handlung des Films nichts Schlimmes abgewinnen, sie hatten ja alles genauso erlebt, wenn auch nicht so verdichtet, sondern aufgeteilt in unzählige Einzelerzählungen.
So blieb den meisten Filmbesuchern die heimtückische Absicht der psychologischen Kriegsführung der Nazis verborgen. Nur einzelne sahen das Machwerk mit eher gemischten Gefühlen und befürchteten, es könnte gegenseitige Hassgefühle im Zusammenleben von Polen und Deutschen wecken. Anderen sprach der Film aus der Seele, und sie stellten sich dem System sogar für vergleichbare Taten der Revanche zur Verfügung, die sie vorher bei den Polen so energisch gebrandmarkt hatten.
Wenn ich Engelhardts Bild für den Titel um 180° gewendet habe, so auch, um zu dokumentieren, wie kritisch man allem Bildmaterial von damals gegenüberstehen muss. Mit manchen Bildern wurde seinerzeit – und wird noch heute – viel Missbrauch getrieben. Ein Nebeneffekt dieser Bild-Wende: Nun schaut der Mann nicht mehr nach Osten, wohin er noch 1940 in Erwartung von zukünftigem „Lebensraum" blickte, sondern er blickt nach Westen, wo er nach dem Debakel des Hitlersystems ohne großes Fragen dann wirklich bei seiner zweiten Flucht meist offene Aufnahme fand und neu beginnen konnte.
Einzug unter Führerbild - Schlussbild des Films „Heimkehr": Der Treck der Wolhyniendeutschen passiert des Triumphbogen ihres „Befreiers" Hitler
Für HUGO SCHMIDT blieb die ganze anfechtungsreiche Umsiedlung in ihren Konsequenzen auch ein Glaubensrätsel. Er könnte auch der Mann in der Mitte des Bildes von Maler ENGELHARDT sein, wenn er als Pfarrer nach der Umsiedlung auf die Suche nach seinen anvertrauten Schäflein geht, die ab jetzt von den Nazis bewusst in alle Winde zerstreut wurden, um sie wehrlos zu machen.
Wäre es nach Hugo Schmidts Willen gegangen, dann hätte er versucht, seine Gemeinde beim Exodus zusammenzuhalten. Er wäre auch unter denen gewesen, die damals mit Pferd und Wagen getreckt hätten, das Pferd hatte er schon gekauft. Doch weil er nicht lange genug Pferdebesitzer war, hatten ihm die Nazis diese Form des Auszuges untersagt und ihn auf die Eisenbahn verwiesen. Hier war er dann im „Pullmannzug gestartet, in der Meinung, das große Los gezogen zu haben. Doch mit dem Umsteigen an der Grenze begann auch für ihn das gleiche Leid, wie für die mit Pferd und Wagen Treckenden. Bei Minusgraden in alten ungeheizten Waggons ging die Reise ins vermeintlich „gelobte Land
nur zögerlich weiter. Und bei dieser Bahnfahrt starben wohl mehr Kinder und Alte, als in den Leiden dieses „Großen Treck" mit Pferd und Wagen. Doch von diesen vielen Toten berichteten Propaganda und Presse damals nichts.
Kann also der Mensch das Geheimnis der Geschichte enträtseln und für sich immer den besten Weg wählen? HUGO SCHMIDT hat sich ein anderes Lebensprinzip zu Eigen gemacht: das Prinzip der Dankbarkeit und des Gottvertrauens auch gegenüber dem Handeln des „verborgenen Gottes. Gott sitzt für ihn trotz allem „im Regimente
, auch wenn der Mensch es nicht immer versteht. Gleichzeitig soll der Mensch seinen klaren Verstand, seine praktische Vernunft und seine volle Energie für die Menschen anwenden, die ihm anvertraut sind.
So sehen wir HUGO SCHMIDT damals auch immer wieder zu aberwitzigen Reisen aufbrechen, um für diese ihm Anvertrauten da zu sein und sie retten. Aber im Letzten hält er doch alle Wendungen seines Lebens für Fügungen und große Wunder, für die man nur Gott allein danken kann. Alle die Seinen sind am Ende wirklich gerettet worden. Als ein „Buch voller Wunder" versteht er deshalb in der Rückschau seine Lebenserinnerungen.
Mögen diese Zeitzeugen-Texte heute im ersten Moment wie Zeugnisse aus einer anderen Welt empfunden werden - bei ein bisschen vertieftem Nachdenken werden unerhört viele Parallelen zur gegenwärtigen Weltlage sichtbar, die voller täglicher, von Menschen gemachter Schrecken ist. Ihnen gegenüber will sich der christliche Glaube auch heute als Anker und verlässliches „Navi" erweisen.
Jürgen-Joachim Taegert,
Kirchenpingarten 2015
Vorwort der Herausgeber in der 1. Auflage von 2001
Ein über 90 Jahre währendes, bewegtes Leben liegt in den 20 Kapiteln dieser „Erinnerungen" ausgebreitet vor uns. Persönliche Lebensphasen und Wendepunkte sind vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund tagebuchartig notiert.
Mit zwei Weltkriegen und den jeweiligen Vor– und Nachkriegszeiten berührt der Verfasser, Pfarrer i.R. Hugo Karl Schmidt, unser Vater bzw. Schwiegervater, dramatische Zeiten europäischer und deutscher Geschichte im abgelaufenen Jahrhundert. Er erinnert an Vergangenes, dessen Gedächtnis bewahrt zu werden verdient, und er bezeugt, was bleibt. Das Leben der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland und in Polen, das Engagement ihrer Pfarrer und Mitarbeiter in dieser Zeit und ihre Treue zu ihren Gemeinden und zu ihrem Auftrag wird lebendig. So verweist er uns auf Fundamente unseres eigenen Lebens und Glaubens, auf denen wir heute bewusst oder unbewusst weiter bauen.
In Wertschätzung seiner Person und in Respekt und Mitgefühl für das Erlebte hat es uns Freude gemacht, seine Aufzeichnungen zu sichten und zunächst für den engeren Kreis der Familie und Interessierten zu veröffentlichen. Wir haben das bislang unveröffentlichte Manuskript mit Bildern aus den Familienalben und anderen Quellen ergänzt und in der Form von thematischen Kapiteln zusammengestellt. Die Originaltexte des Verfassers sind an einigen Stellen behutsam überarbeitet und mit Zwischenüberschriften und Bildunterschriften in Verantwortung der Herausgeber ergänzt worden.
Wir staunen, welch weite und gefahrvolle Wege Gott seine treuen Diener und Mitarbeiter manchmal führt und wie er sie in Zeiten der Not begleitet und segnet. So können wir auch in unserer Zeit die Wahrheit des Wortes Gottes mit dem Apostel Paulus bezeugen:
„In Ängsten, - und siehe wir leben".
Die Herausgeber Jürgen-Joachim Taegert, Dorothea Taegert und Martin Schmidt-Bredow - Gesees, Weihnachten 2001
Hugo Karl Schmidt - Vorwort, an die Kinder gerichtet - 1987
Liebe Kinder!
Aus der Anrede erkennt Ihr, für wen die Lebenserinnerungen geschrieben werden: für Euch! Ihr sollt wissen, woher Eure Eltern kommen und wie sie einmal dort lebten.
Gewiss haben sich die Zeiten überall geändert. Doch da Polen heute keine Deutschen in seinen Grenzen duldet, werden solche Lebenserinnerungen in absehbarer Zeit wie „Geschichten, wie aus einer anderen Welt" erscheinen, sie werden kaum glaubhaft sein. Darum schreibe ich nieder, was ich erlebt habe und hoffe, dass Ihr mir glaubt.
Zu dem Zeitpunkt, da diese Zeilen geschrieben werden, ist der größte Zeitabschnitt - die Zeit in Polen - bereits erfasst. Da ich, wie Ihr wisst, noch in mannigfacher Weise tätig bin, schreibe ich eben nur noch gelegentlich an den Lebenserinnerungen weiter. Es kann sein, dass ich sie nicht abschließe. Es könnte besonders die Zeit nach der Flucht in Deutschland zu kurz kommen - und das ist vorwiegend Eure Lebenszeit. Diese unterscheidet sich aber nicht sehr viel von dem Leben Eurer gleichaltrigen hier geborenen Zeitgenossen und dürfte weniger fremd sein. Doch will ich sehen, was sich tun lässt und Eure Zeit mit uns keineswegs absichtlich auslassen.
Diese einleitenden Zeilen wurden geschrieben am 13. Oktober 1987 am Ruhestandswohnsitz in Schwabach-Wolkersdorf.
Euer Vater Hugo Karl Schmidt, geboren am 22. 11. 1909 in Łódź im damaligen Russisch-Polen.
Nachtrag 1 - 1993
Es ist tatsächlich gelungen, diese Lebenserinnerungen zu einem gewissen Abschluss zu bringen. Dass dies nach einem 1989 erlittenen Herzinfarkt mit Bypass-Operation noch möglich wurde, ist zweifellos dieser Krankheit zu verdanken (!), die mich hinterher zwang, verschiedene Aufgaben abzugeben. Dabei fand ich die nötige Muße, sowohl meine kirchengeschichtliche Arbeit abzuschließen, als auch diese Lebenserinnerungen fortzusetzen und zu einem gewissen Abschluss zu bringen. Was nun bis zum Tode erfolgt, wird wohl nicht mehr schriftlich festgehalten werden.
- Wolkersdorf, am 11. Februar 1993 hks
Nachtrag 2 - 2001
Der gütige Schöpfer des Lebens hat es erlaubt, auch manches aus der Zeit nach 1993 noch zu Papier zu bringen. So erneuert und rundet sich unser Leben aus den Quellen, wie der Apostel Paulus sagt: „In Ängsten, - und siehe wir leben".
- Büchenbach / Gesees 2001 hks / jt
Nachtrag 3 - 2002
Die erste Herausgabe der „Lebenserinnerungen in Buch- und Heftform zu Weihnachten 2001 hat dem Verfasser, Hugo Karl Schmidt, viel Freude gemacht und zu manchen interessierten Rückfragen geführt. Dem Verfasser liegt nicht daran, seine Person oder sein Schicksal besonders herauszustellen, sondern darzustellen, wie durch Gottes Führung manches Unerwartete und Schwere doch immer wieder zu einem guten Ende gekommen ist. Dafür möchte er mit uns Gott loben und danken. Er hat deshalb im Februar eine weitere nachträgliche „Vorbemerkung
geschrieben:
Nachträgliche Vorausbemerkung von Hugo Karl Schmidt (2)
Die von mir verfassten Lebenserinnerungen sind in erster Linie für meine Kinder gedacht. Diese wurden von meinen Kindern, Dorothea mit ihrem Mann Pfarrer Jürgen Taegert und Tochter Anne, und sowie Martin Schmidt-Bredow, zu einem 204 Seiten umfassenden Buch zusammengefasst, wofür ich ihm und allen Beteiligten sehr dankbar bin. Als biblisches Motto hat mein Schwiegersohn den treffenden Bibeltext aus 2. Korinther 6 vorangestellt: „In Ängsten - und siehe, wir leben".
Um Missverständnissen vorzubeugen, weise ich darauf hin, dass es mir nicht um eine nostalgische Reminiszenz nach dem Motto Wilhelm Buschs geht: „Gehabte Schmerzen hat man gern". Obwohl ich nicht leugnen kann, dass ein Stück Egoismus sowohl im Leben wie auch in der Beschreibung eine Rolle spielte, das aber Gott oft zurechtrückte.
So wollte ich z.B. mit der freiwilligen Meldung als Dolmetscher einen günstigeren Status im Offiziersrang und nicht als einfacher Soldat haben. Dabei steht mir noch heute das Entsetzen meiner Frau vor Augen, die meine freiwillige Meldung nicht begreifen konnte. Dass aber gerade dies meine Einberufung verhinderte, konnte niemand ahnen.
Die von einer Leserin als „Mut bezeichnete Suche der Spahlsjungen (s.u. „Gewagte Grenzübergänge
…) war nur möglich, weil mir Pfarrer Missol, der gerade aus der Gefangenschaft gekommen war und noch ohne Amt war, seine Vertretung angeboten hatte.
Um mein Tun in das rechte Licht zu setzen, stelle ich diesen Erinnerungen noch Psalm 103,2 voran:
„Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat."
Hugo-Karl Schmidt
Büchenbach, im Februar 2002
Nachtrag 4 - 2015
Nach über 99 von Dankbarkeit erfüllten Lebensjahren ist HUGO KARL SCHMIDT am 19. Jan. 2009 in Gegenwart seiner Kinder eingeschlafen. Auf dem Friedhof von Roth bei NÜRNBERG hat er an der Seite seiner Frau EDITH seine letzte Ruhe gefunden. Viele Freunde haben dort von ihm Abschied genommen.
Diese zweite, stark vermehrte Auflage seiner Lebenserinnerungen ist seinem Andenken gewidmet.
Am Originaltext der ersten Auflage von 2001 wurden nur die Korrektur von Rechtschreibfehlern und sprachliche Glättungen vorgenommen. Erweitert ist diese zweite Auflage aber um sehr viele aussagestarke Original-Fotos, etliche erklärende Kommentierungen, ergänzende Exkurse und Berichte des Herausgebers und anderer nahestehender Personen, die im Anhang noch einmal gesondert ausgewiesen werden. So entsteht ein anschauliches und verständliches Bild einer „Geschichtsschreibung von unten" über eine Zeit, über die das Nachdenken trotz des mittlerweile großen historischen Abstandes noch lange nicht zum Abschluss gekommen ist.
Denn wenn man die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges mit einbezieht und sie bis zum ersten Einsatz von Atomwaffen 1945 auszieht, dann hat die Menschheit in dieser ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts „in Ängsten tief in den leibhaftigen Abgrund der von Menschenhand möglichen Hölle geblickt. Demgegenüber möchten Hugo Schmidts Lebenserinnerungen einen Gott preisen, der den Menschen immer wieder neu zur Umkehr ruft und ihm ermöglicht, aufzuatmend zu erkennen: „… und siehe, wir leben
. In diesen Lobpreis soll jeder mit einstimmen, der das Gottvertrauen von Hugo Schmidt teilt: Als Sünder hat der Mensch keinen Anspruch gegenüber dem Leben, sondern lebt „allein aus Gnade".
Jürgen und Dorothea Taegert,
Kirchenpingarten 2015,
Wo die „Lebenserinnerungen" spielen: Europäische Länder Deutschland, Polen, Weißrussland und Ukraine
Straßenszene in Lódz 1914: Parade deutscher Soldaten
Erstes Buch:
Leben in Łódz
— Vorfahren, Kindheit, Schulzeit —
Lebenserinnerungen …
Es könnte banal und überflüssig erscheinen, Lebenserinnerungen aufzuzeichnen, wenn hier nur das Durchschnittsschicksal einer binnendeutschen Familie angesprochen wäre. Aber es ist das Leben einer deutschstämmigen Sippe im Ausland zu beschreiben, genauer gesagt: in Polen.
Immer wieder finde ich bei Gesprächen mit Kindern und Enkelkindern Vorstellungen über das Leben der Deutschen in Polen, die man aus der Sicht heutiger Verhältnisse zu rekonstruieren versucht, die aber der erlebten Wirklichkeit nicht entsprechen. Es geht um die stets aktuelle Frage, was Menschen als Gäste, Mitbürger und Fremde zwischen den Kulturen erleben, wie sie ihr Leben aus ihrer Religion und Kultur heraus zu gestalten versuchen, wie sie, ohne explizites eigenes Verschulden, zum politischen Spielball der Mächte werden und wie sie überleben.
Nicht dass ich behaupten möchte, dass unsere Vorfahren und wir selber in Polen alles richtig gemacht hätten. Aber darum geht es nicht. Vielmehr will ich schildern, aus welcher Sichtweise und Einstellung heraus sie ihr Leben geführt haben und es eigentlich nicht anders führen konnten. Um diese eigene Sichtweise der Dinge in früherer Zeit geht es.
I. Vorfahren väterlicherseits und der Vater Gottfried Schmidt
Kantorlehrer mit schwäbischer Herkunft
Dorf und Felder im Sechszehn-Eck: Kolonistendorf NEUSULZFELD östlich von ŁÓDŹ, heute eingemeindet
Es ist nicht viel, was ich über die Vorfahren der weiter zurückliegenden Vergangenheit weiß. Denn mein Vater hat uns verhältnismäßig wenig davon erzählt. Was er erzählt hat, ist mir zwar einigermaßen in Erinnerung, doch muss ich mir einiges dazu reimen, um Klarheit zu finden. Und ob dieser Reim stimmt, kann ich nicht sicher behaupten.
Die Vorfahren SCHMIDT sollen aus Schwaben stammen. In Erzählungen des Vaters kam für die Ansiedlung die Ortsbezeichnung NEUSULZFELD bei ŁÓDŹ vor.
EXKURS:
Nowosolna und seine ersten Siedler
- von Jürgen Taegert
Dieses N EUSULZFELD -N OWOSOLNA , im Herzen des heutigen Polen gelegen, ist seit 1988 als Stadtteil mit etwa 2.000 Einwohnern nach Ł ÓDŹ eingemeindet und liegt geographisch im Nordosten von ŁÓDŹ, etwa 10 km vom Stadtkern entfernt, auf dem Gebiet der Wzniesienia Łódzkie, einer Naturlandschaft aus eiszeitlich geformtem Hügelland bis 300 m Meereshöhe. Die Landschaft bildet die Wasserscheide zwischen Oder und Weichsel; das Flüsschen Miazga entspringt im Ortsgebiet.
Das Dorf mitsamt den umgebenden Feldern ist von deutschen Kolonisten in den „preußischen Jahren nach der zweiten polnischen Teilung von 1793 zwischen 1801-1806 gegründet worden. Es ist in der ungewöhnlichen Form eines Oktaeders mit einem allseitigen Durchmesser von 4 km angelegt. Im jährlich dem preußischen König vorzulegenden „Generaltableau vom Fortgang des Kolonistenwesens in Südpreußen
erscheint es zunächst an fünfter Stelle in der Liste des „Warschauer Cammer Department unter der Bezeichnung „Kolonie Wiaczyn im Amt Laznow
und wird seit Juli 1803: „NEUSULZFELD" genannt.
Der Grund dieser Namensgebung ist nicht ganz ersichtlich. Die Gemeindechronik von SULZFELD in Baden vermerkt zwar, dass im Jahre 1801 eine Gruppe von Siedlern aus SULZFELD ein Dorf östlich der damals zu Südpreußen gehörenden Stadt ŁÓDŹ gegründet hätte, das Neu-Sulzfeld genannt wurde. Doch sind hier in den ersten Jahren der Besiedlung nur zwei Siedler aus SULZFELD namentlich vermerkt. Die anderen kommen, sofern Ortsnamen mit angegeben sind, aus den schwäbischen Orten BODELSHAUSEN, DURLACH, FEUDENHEIM, HEILBRONN, ISENBURG, MÖTZINGEN, SAUNSHEIM, SCHRAMBERG, u.a.
Die polnischen „Schwaben" kommen aus Baden und Württemberg: Herkunftsorte der Kolonisten von NEU-SULZFELD-ŁÓDŹ — Im Kreis: Aus FELDSTETTEN kommen die Schmidts
Nach den Prinzipien des preußischen Siedlungswesens sollten die Siedler einer neu zu gründenden Ortschaft eigentlich möglichst aus derselben Gegend kommen, um von vornherein eine kooperative, gleichgesinnte Gemeinschaft zu bilden. Dies trifft aber in der tatsächlichen Praxis, wie die Karte zeigt, nur bedingt zu: Die Siedler kommen aus fast dem gesamten Großraum des heutigen Baden-Württemberg. Allerdings ist bei der Mehrzahl der Neuankömmlinge kein konkreter Ort benannt, sondern fast 70-mal nur die Länderbezeichnung „Württemberg eingetragen, und bei den ersten drei Siedlern der Ausdruck „Schwaben
; hinter den nicht genannten Ortsnamen könnten sich natürlich auch Bürger von SULZFELD verbergen.
Der Erfolg der ersten Siedler und die fantastischen Konditionen des preußischen Staates scheinen sich damals in der Heimat herumgesprochen zu haben. Denn nach zaghaftem Beginn 1801 mit drei Kolonistenfamilien und zusammen nur neun Personen steigert sich die Zuwanderung im Folgejahr auf 40 Familien. Im Jahr 1805 strömen sogar 45 Familien ein, unter ihnen als 10. die Sippe von JOHANN SCHMIDT mit zusammen neun Personen. Dieser JOHANN SCHMIDT kommt aus dem kleinen Dorf FELDSTETTEN auf der schwäbischen Alb in Württemberg, das heute nach LAICHINGEN knapp 30 km nordwestlich von ULM eingemeindet ist. Die Einwohner lebten damals von Landwirtschaft, Hausweberei und dem Betrieb zahlreicher Gastwirtschaften, die entlang der wichtigen West-Ost-Verbindung über die Alb lagen, welche damals noch mit der Postkutsche bedient wurde.
Die Siedler brachten seinerzeit auch ihren protestantischen Glauben in der typisch schwäbisch-pietistischen Färbung mit und errichteten in NEU-SULZFELD zunächst einen Betraum und dann eine Kirche. Diese ungewöhnliche Holzkirche aus dem 19. Jh. mit der gemauerten Giebelseite und ihrem Dachreiter ist jüngst in das Freilichtmuseum von ŁÓDŹ transferiert worden und erstrahlt dort in neuem Glanz.
Vielleicht hat August Schmidt hier als Kantorlehrer noch unterrichtet: Schule und Bethaus von NOWOSOLNA, erbaut 1869
Der zentrale Platz des Ortes, an dem alle acht Straßen sternenförmig zusammen laufen, gilt heute als die Touristenattraktion des Ortes und als einzigartig im Städtebau Polens und ganz Europas. Auch die umgebenden Fluren sind in dieser auffallenden Form aus acht kreisförmig angeordneten, mit Wegen eingerahmten Segmenten angeordnet, die jeweils nochmals der Länge nach halbiert sind. Das lässt darauf schließen, dass es damals zunächst 16 schwäbische Familien waren, die sich hier angesiedelt haben. Als die bäuerlichen Vorfahren von HUGO SCHMIDT hinzustießen, dürften diese Strukturen schon weitgehend festgelegt gewesen sein; neue Siedler mussten dann in die weitere Umgebung ausweichen.
Heute im Freiluftmuseum in ŁÓDŹ: Evangelische Holzkirche der ersten Siedler mit Steinfassade und Dachreiter aus NEUSULZFELD
Für diese damalige Kolonisierungswelle, der sich diese Siedler anschlossen, hatten die Preußen, seit der zweiten polnischen Teilung 1793 Herren dieses Landes „Südpreußen", seit 1800 in großem Stil vor allem im südsüddeutschen Raum systematisch geworben und allen Bewerbern große Vergünstigungen angeboten.
Die Siedler und ihre Söhne waren vom Wehrdienst befreit, sie mussten in den ersten Jahren keine Steuern zahlen und erhielten eine nach Meilen berechnete Wegstreckenunterstützung für die Anreise aller Familienmitglieder sowie finanzielle Zuschüsse zur Rodung des Landes; ihnen wurden ferner kostenlos Geräte zum Wirtschaften sowie Vieh zur Verfügung gestellt und Wohnhaus, Stall und Scheune auf Staatskosten errichtet. Für weitere Investitionen gab es zinsfreie Darlehen. Da die Süddeutschen keine eigene Erfahrung mit den notwendigen Rodungsarbeiten hatten, baten sie die schon länger hier siedelnden Deutschen, ihnen bei der Urbarmachung des Landes zu helfen. Diese Arbeiten konnten sie durch die Staatszuschüsse entlohnen.
Neben solchen Gruppen von Bauern ließen sich auch manche Handwerker ins Land locken. Nachdem ein großer Teil der Einwanderer aus Schwaben kam, wurde der Ausdruck „Szwaby" in dieser Gegend bald zur Bezeichnung für Deutsche schlechthin.
HUGO SCHMIDT stellte schon seinerzeit fest, dass die Liste der ersten Siedler dieser schwäbischen Siedlung auch den Namen SCHMIDT aufführt, mit mehreren Kindern, darunter eines mit dem Vornamen AUGUST. Dieser AUGUST SCHMIDT, so mutmaßte er, könnte sein Urgroßvater gewesen sein.
Diese Vermutung dürfte zutreffend sein. Der Name „SCHMIDT kommt bei den Kolonisten von NEU-SULZFELD nur für eine einzige Familie vor. Es fällt auf, dass dieser scheinbare Allerweltsname in den Siedlungen im gesamten Raum dieses neuen „Südpreußen
überhaupt eher selten ist; im Ganzen konnte ich ihn lediglich 34-mal finden. [Ende des Exkurses]
Siedlungsorte der Vorfahren: Im Umkreis von 10-70 km um ŁÓDŹ lebten und arbeiteten die Vorfahren von Hugo Schmidt
Die Tradition der männliche Erbfolge des ältesten Sohnes, die verhindern sollte, dass der elterliche Bauernhof und das Bauernland zerrissen und zerstückelt wird, brachte es dann mit sich, dass die nicht erbberechtigten Kinder sich anderweitig als Knechte und Mägde verdingen mussten oder ihr Interesse auf andere Berufe richteten. Das war insbesondere das Handwerk, aber auch der zunehmend bedeutsame pädagogische Bereich. So hat mein Vater berichtet, sein Großvater sei Lehrer gewesen.
Es ist anzunehmen, dass dieser AUGUST SCHMIDT zu den sog. „Kantorlehrern im Dienst der Evangelischen Kirche gehörte, über deren besonderen Werdegang in Polen AUGUST MÜLLER in seinem Aufsatz „Das Lehrerseminar von seiner Gründung bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges
im Büchlein „Das deutsche Lehrerseminar in Mittelpolen" schreibt¹:
Kolo, Kirchort für Majdany: Straßenzug und Kirche in KOLO
„Bei den der Kirche unterstehenden Kantoraten war die Sache verhältnismäßig einfach. Da holte sich der Pastor einen aufgeweckten jungen Mann heran, überhörte ihn, weihte ihn in seine Verrichtungen ein, stellte ihn der Gemeinde vor und überließ ihn sich selber. Von Zeit zu Zeit besuchte er ihn im Unterricht, ließ ihn die zehn Gebote abfragen, mit den Kindern einen Choral singen, überzeugte sich, wieweit die Kenntnisse der biblischen Geschichte waren, und die Sache hatte damit ihr Bewenden." ²
Es ist gut vorstellbar, dass AUGUST SCHMIDT als nicht erbberechtigter Nachfahre einer eingewanderten, lutherischen Bauernfamilie bewusst ein solcher Kantorlehrer wurde. Zum Zeitpunkt seiner jungen Jahre um 1840 gab es freilich noch keine Lehrerbildungsanstalt für deutsche evangelische Lehrer. Anders dürfte es bereits bei seinem Sohn JOHANN SCHMIDT, geboren am 10. Juni 1846 in MAJDANY - Kirchengemeinde KOLO – [70 km nordwestlich von Łódź] gewesen sein, der ebenfalls Lehrer wurde. Er könnte schon eine gediegenere Ausbildung an der 1866 in Warschau errichteten Schule mit Lehrerausbildung erworben haben.
Handels– und Tuchmacherstadt mit hohem deutschen Bevölkerungsanteil: TOMASZOW um 1870; der Ort der Jugend von GOTTFRIED Schmidt. Hier war sein Vater JOHANN SCHMIDT zuletzt Kantor und Lehrer, dieser verstarb hier recht früh.
Dieser JOHANN SCHMIDT, mein Großvater väterlicherseits, war bei der Geburt meines Vaters GOTTFRIED SCHMIDT (*9. Apr. 1875) Lehrer in dem zur Kirchengemeinde WIELUN gehörenden Dorf WOLNICA GRABOWSKA³. Er muss dann in TOMASZOW⁴, einer stark von Deutschen besiedelten Tuchmacherstadt, Lehrer geworden sein. Denn Vaters Erinnerungen seiner Jugend hängen sehr mit dieser Stadt TOMASZOW zusammen. Großvater JOHANN SCHMIDT muss aber in TOMASZOW bereits verhältnismäßig jung gestorben sein. Mit einiger Sicherheit hätte er seinen Sohn GOTTFRIED, meinen Vater, sonst wohl Lehrer werden lassen.
Durch seinen vorzeitigen Tod musste Johann Schmidts Witwe sich mit ihren Kindern recht und schlecht durchschlagen. Diese, JOHANNA SCHMIDT, geb. GUSE, geboren am 19. September 1853 in WOLNICA GRABOWSKA, also an dem Wirkungsort ihres späteren Ehemannes, muss eine Bauerntochter gewesen sein. Die Eheschließung von JOHANN SCHMIDT mit JOHANNA GUSE fand am 6. Mai 1873 in WIELUN⁵ statt.
Aus dieser Ehe sind mir drei Kinder bekannt. Vater GOTTFRIED dürfte der Älteste gewesen sein. Danach kam eine Schwester, die wohl unter dem Namen WEITBRECHT o. ä. verheiratet gewesen ist und später nach Brasilien auswanderte, ihr Vorname könnte LYDIA gewesen sein. Durch den Ersten Weltkrieg war die Verbindung zu ihr abgerissen und ist später nie mehr zustande gekommen.
Ziel von Richthofens erstem Stuka-Terrorangriff 1939: Zerstörtes WIELUN mit evang. Kirche, späterer Schicksalsort der Wolhynier
„Onkel Adolf"
Ein weiterer Sohn von J OHANN und J OHANNA S CHMIDT hieß A DOLF . Er hat als Vaters Bruder und unser „Onkel Adolf" in unserer Familie eine fast legendäre Rolle gespielt. Wahrscheinlich spielte der frühzeitige Tod des Vaters J OHANN S CHMIDT dabei eine Rolle, dass Onkel A DOLF nichts Rechtes gelernt hat und es auch zu nichts gebracht hat. Er war zwar sehr intelligent und begabt, doch schon die Schule muss er überreichlich ge schwänzt haben. Er hatte einen ausgesprochenen Wandertrieb, den er auch nach seiner Verheiratung nicht aufgab. Sobald im Frühjahr die Sonne milder schien, verschwand er, und er tauchte erst wieder auf, wenn der Winter vor der Tür stand. Wie seine Frau und die Kinder sich in der Zwischenzeit durchgeschlagen hatten, schien ihn nicht weiter zu beunruhigen. Er war froh, über den Winter wieder ein warmes Plätzchen zu finden. Gelegentliche Arbeiten, die ihm mein Vater besorgt hatte, langten kaum, die Familie über Wasser zu halten, zumal er ja bald wieder verschwand.
Es ist ein Wunder, dass aus den zwei Töchtern von Onkel Adolf tüchtige Hausfrauen und Mütter geworden sind. Zweifellos hat mein Vater Hilfestellung geleistet, damit die Mädels etwas lernten. Apollonia wurde eine kundige Bürokraft und heiratete einen Mechaniker Reinhold Brandt, Marie wurde beruflich ähnlich gelenkt und heiratete den Tischler Arthur Zaft. Beide Ehemänner haben sich als Schwäger gegenseitig zu einer guten Existenz als Möbelvertreter verholfen. Reinhold Brandt ist 1976 an einem Herzinfarkt, Apollonia 1983 an Krebs verstorben.
Der Vater Gottfried Schmidt: Kaufmann, Soldat und Fabrikverwalter
Mein Vater G OTTFRIED S CHMIDT ging nach ŁÓDŹ in eine kaufmännische Lehre.
EXKURS:
Die Entwicklung