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Kriemhilds Lache: Neue Erzählungen aus dem Leben
Kriemhilds Lache: Neue Erzählungen aus dem Leben
Kriemhilds Lache: Neue Erzählungen aus dem Leben
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Kriemhilds Lache: Neue Erzählungen aus dem Leben

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About this ebook

Erzählungen werden selten erzählt, sondern meist am Schreibtisch oder auf dem Laptop geschrieben. Das merkt man ihnen in der Regel auch an.

Bei Schröder & Kalender ist es anders. Sie erzählen sich die Geschichten gegenseitig, was den Erzählungen Authentizität und Frische verleiht. So entstehen absurde und komische Alltagsgeschichten über Steuerparadiese, gescheiterte Buchprojekte mit Berufsverbrechern, über den Zufall als Pseudonym Gottes, den Winter in der Provence und eine imaginäre Lotterie.

Barbara Kalender und Jörg Schröder haben mit dem legendären März Verlag die westdeutsche Verlagsgeschichte geprägt. Im September erscheint ihr neues Buch "Kriemhilds Lache. Neue Erzählungen aus dem Leben" im Verbrecher Verlag.

Der Zeichner F.W. Bernstein, geb. 1938 in Göppingen, ist Doyen der Neuen Frankfurter Schule und Autor der sprichwörtlich gewordenen rhetorischen Figur "Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche". Er hat die Erzählungen opulent illustriert.
LanguageDeutsch
Release dateAug 30, 2013
ISBN9783943167603
Kriemhilds Lache: Neue Erzählungen aus dem Leben
Author

Barbara Kalender

Barbara Kalender trat 1981 in den März Verlag ein und entwickelte mit Jörg Schröder und Horst Tomayer das Konzept zur TV-Spieldokumentation „Die März-Akte“ (Regie: Peter Gehrig, Grimme-Preis 1986). Von 1990 bis 2018 erschien „Schröder erzählt“ (68 Folgen nebst 6 Treuegaben in 7 Buchbinderkassetten, 3.760 Seiten). 2011 verfasste Barbara Kalender gemeinsam mit Jan-Frederik Bandel und Jörg Schröder „Immer radikal, niemals konsequent. Der März Verlag – erweitertes Verlegertum, postmoderne Literatur und Business Art“ sowie 2013 mit Jörg Schröder "Kriemhilds Lache".

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    Book preview

    Kriemhilds Lache - Barbara Kalender

    Olenhusen

    Erst mal ins Unreine

    Eigentlich hätte dieses Buch gar nicht erscheinen können, allenfalls als Blindband mit Trauerrand. Der Reihe nach: Sonntagnachmittag waren wir mit Matthias Mergl und Wolfgang Müller zum Essen im Biergarten des neuen Lokals Drei Schwestern im Bethanien verabredet. Barbara bügelte nur noch schnell ihre lila Bluse, denn wir waren etwas spät dran und beeilten uns, die S-Bahn zu erwischen.

    Fast pünktlich kamen wir im Kreuzberger Biergarten an, aßen eine hafergemästete Poularde mit einem Gratin Dauphinois à la Curnonsky und glacierten Möhren. Selten so einen saftigen Vogel in einem einfachen Gasthaus gegessen! Wir lästerten über trittbrettfahrende Künstler, vergoldeten unsere eigenen Projekte und machten uns nach einigen tschechischen Bieren beschwipst auf zur Bar Marianne.

    Halt! Vorher trafen wir noch in der Halle des Bethanien den Wirt der Drei Schwestern und fragten ihn, was der seltsame Name des Lokals bedeute. Er erklärte uns, dass sich sein Gasthaus im Speisesaal des ehemaligen Krankenhauses befinde und natürlich die Küche sowie das Casino von Diakonissinnen geleitet wurden, daher der Name. Klar, hätten wir eigentlich auch selbst drauf kommen können. Im Bethanien befindet sich auch immer noch die denkmalgeschützte Apotheke Theodor Fontanes. »Außerdem«, sagte der Gastronom, »mein Partner liebt das Drama ›Drei Schwestern‹ von Anton Tschechow.« Also ein doppelt konnotierter Lokalname.

    Im Hinterhof der Bar Marianne – ein stilles Plätzchen im brodelnden Kreuzberg – saßen wir vier allein in der lauen Sommernacht und redeten bei Fassbrause und Tannenzäpfle über alte Zeiten. Dann nahmen wir die U-Bahn zur Hermannstraße und die Ringbahn zum Bundesplatz. Um halb elf saßen wir auf dem Sofa und tranken als Absacker einen Sherry, neben uns ein bisschen Unordnung, das Plättbrett stand noch rum von unserem raschen Aufbruch am Nachmittag.

    Wir schliefen friedlich, frühstückten ausgiebig auf der Terrasse, lasen FAZ und taz. Als wir mit der Arbeit beginnen und ich das Plättbrett wegbringen wollte, verbrannte ich mir die Finger am Bügeleisen. Es war glühend heiß, heizte also seit siebzehn Stunden vor sich hin. Barbara hatte in der Eile den falschen Netzstecker aus der Leiste gezogen. Aber nichts war passiert! Die nichtentflammbare Plastikkonsole des Bügelbretts war nicht entflammt. Das heiße Bügeleisen war nicht auf den Holzboden gerutscht, obwohl wegen der Vibrationen, welche die LKW auf der Wexstraße verursachen, ständig unsere Bilder an den Wänden schief geruckelt werden.

    Horrorszenarien von nicht ausgeschalteten Bügeleisen, von Toten in ausgebrannten Dachstühlen, Wohnzimmerbränden und Häusern in Flammen, gar nicht zu reden von so genannten Sach-⁠, Rauch- und Rußschäden, beschäftigten uns. Und wir fragten uns auch: »Ob wir jetzt nicht noch einmal von Neuem anfangen müssen?« Wie der Oberstleutnant Werschinin, der Liebhaber einer der »Drei Schwestern« in Tschechows Drama, es sich laut nachdenkend überlegt: »Aber dann mit Bewusstsein! Wenn das bereits durchlebte Leben nur der Entwurf, also die Skizze wäre, wie man so sagt: ›Erst mal ins Unreine.‹ Und wenn das neue Leben dann das ›reine‹ wäre! Dann würde sich doch jeder bemühen, vor allem sich nicht zu wiederholen. Und würde sich vermutlich eine andere Umgebung schaffen.« Na ja, vielleicht. Aber weiter über das neu geschenkte Leben nachzudenken blieb uns keine Zeit, erst einmal mussten wir ja dieses kleine Stück schreiben.

    Languages spoken

    Unser kretischer Freund Christos führte seinen Nachnamen Ermis – also Hermes – zu Recht, denn ihm gehörte das Pantopoleion, eine Mischung aus kleinem Supermarkt und Tante-Emma-Laden. Er hatte alles! Hauptsächlich aber den Traum, seine Klitsche zu einem großen Supermarkt auszubauen. Er wohnte mit seinen Eltern im ersten Stock über dem Geschäft. Gleich links daneben war eine Taverne und rechts vom Laden, nur durch einen schmalen Weg zum Strand getrennt, gab es ein Kafenion. Christos saß abwechselnd bei seinen Nachbarn, mal auf der einen, mal auf der anderen Terrasse, im Schatten der Markise und trank Kaffee, während seine Mutter die einheimischen Frauen bediente. Doch wenn ein Fremder – vor allem aber eine Fremde – sein Pantopoleion betrat, sprang er auf und übernahm die Beratung. Er war ein Sprachgenie, wie es dies vermutlich nur bei den Mittelmeeranrainern gibt.

    Eines Tages saßen wir wieder einmal mit Christos im Kafenion, und ich guckte an der Giebelfassade seines Kaufmanns­ladens hoch, da sah ich, umrankt von Weinlaub und gelben Trauben, ein Schild mit der Aufschrift: »Hermes Market – Food, Sunneries, Wine, Spirits« und darüber in zwanzig Zentimeter großen Lettern die zwei Worte: »Languages spoken«. Mehr braucht man zu Babylon wohl nicht zu sagen!

    Unser junger Kaufmann beherrschte sie wirklich, die Sprachen. Mit Finninnen redete er Finnisch, nicht nur drei, vier Brocken, sondern anscheinend fließend, als unterhalte er sich mit denen auf Finnisch wie mit uns auf Deutsch. Christos machte seine Witzchen auf Finnisch, denn die Mädchen lachten. Wir hörten ihn im Laden mit Menschen aller Herren Länder in deren Landessprache parlieren – ja, er beherrschte sogar einen schottischen Dialekt. Die beiden Schottinnen, mit denen er anfing zu schäkern, waren zuerst erstaunt, dann begeistert. Obwohl er eine Wampe hatte und mit seinem Doppelkinn nicht gerade aussah wie ein Herzensbrecher, störte das nicht sein Glück bei den Frauen.

    Ganz anders der dürre Chef des Kafenion, er sprach notorisch nur Griechisch, absurderweise frequentierten sein Café meistens englische Touristen. Er hatte sich eben auf Briten spezialisiert und auch eine englische Freundin, ein Mädchen mit dichtem blonden Diana-Haarschopf. Sie sah der Prinzessin auch sonst ähnlich, war doof und bewegte sich mit dieser angewölften englischen Kolonialarroganz, die mit dieser Sprache transportiert wird.

    Als wir einmal mit Christos hier saßen, fragte sie uns nach unseren Wünschen, auf Englisch natürlich, denn sie konnte kein Wort Griechisch, befolgte eben das Idiom: »That’s Greek to me.« Man fragte sich: Wie verständigt sich der Wirt mit seiner Freundin? Egal. Wir bestellten unseren Kaffee auf Englisch und fügten »barigliko« hinzu, das heißt: »mit viel Zucker«. Dasselbe mussten wir tatsächlich noch mal auf Englisch wiederholen. Als die Frau gegangen war, saß ich versonnen da, schüttelte den Kopf und sagte: »Probaton!« Was Schaf heißt. Dieses Wort kam in unserer ersten Lektion vor: »Sigá, sigá, probata!« Das bedeutet: »Langsam, langsam, Schafe!« Eine schöne, typisch griechische Lektion! Es brennt mir auf der Zunge, diese wunderbare Übungsstunde wiederzugeben, ich tu’s aber nicht, ich darf ja hier keinen griechischen Sprachkurs veranstalten. Als sie den Kaffee brachte, sah ich mir die englische Kellnerin noch mal genauer an, sie ähnelte wirklich einem menschlichen Schaf: Schafsnase und Schafswolle auf dem Kopf. Christos konnte sich nicht beruhigen, stieß immer wieder »probaton« hervor, und dass er sich so amüsierte, machte mich stolz. Man freut sich ja, wenn man in einer fremden Sprache einen Witz gerissen hat.

    Nach meinem Stoßseufzer war Christos endgültig davon überzeugt, dass wir Schriftsteller seien, eben besonders sprachbegabt – fast so wie er. Zwar konnte er uns vorher schon gut leiden, weil wir stets korrekt gekleidet waren, Barbara niemals im Bikini durch den Ort spazierte und ich nie in Shorts. Denn die kretische Frau soll die Sonne nicht sehen, und ein Mann in kurzer Hose ist kein richtiger Mann. Doch nach diesem »probaton« begann Christos unser Griechisch zu korrigieren, er hatte uns in den Kreis der ernst zu nehmenden Menschen aufgenommen und kümmerte sich jetzt um unseren Einkaufskorb: »Jorgo, dieser Senf ist alt, warte, du kriegst einen anderen.« Und Hermes stellte das Glas wieder ins Regal zurück – für die Touristen. Denen verkaufte er ungerührt den abgelaufenen Mostrich, während die Einheimischen, und nun auch wir, die Waren von hinten aus dem Lager bekamen.

    Verwischte Verhältnisse

    In der Ringbahn, auf dem Weg zum Zahnarzt, das alte Lied: Drei Tage hatte der Backenzahn gemuckert, jetzt spürte ich nichts mehr und überlegte, was ich dem Arzt sagen sollte. Dann las ich in der jungen Welt die Geschichte über Hitlers Leibwächter Rochus Misch, der mit Hilfe von rechten Verlagsvertrieben und Versandhändlern einen Bestseller gelandet hat. Dass solche Literatur in der Nationalzeitung und in anderen rechten Postillen propagiert und verbreitet wird, ist seit sechzig Jahren ein alter Hut. Neu ist, dass so ein Nazidreck in einem Imprint des ehemals seriösen Piper Verlags erscheint, der zur angesehenen schwedischen Bonnier-Verlagsgruppe gehört.

    Während ich über den Verfall der guten Sitten nachdachte, runzelte mein Banknachbar indigniert die Stirn. So wie der Mann aussah – vierzig, grauer Anzug, Krawatte, ordentliche Schuhe, aber nicht rahmengenäht, Laptop-Tasche – gehörte er zur mittleren Gehaltsklasse, die eben einen Menschen verachtet, der solch ein Kommunistenblatt liest.

    Die Lage änderte sich schlagartig, als ein Fahrscheinkontrolleur auftauchte und den verwischten Stempel meines Nachbarn bemängelte. Der Mann mit der Krawatte war sich aber seiner Sache sicher: »Es ist doch das Problem der Bahn, wenn Sie den Stempel nicht lesen können, weil der Stempelautomat keine ordentlichen Ziffern produziert. Wenn ich die Fahrkarte noch einmal abgestempelt hätte, wäre sie ungültig.« Der Kontrolleur widersprach und wollte den Fahrschein einziehen. »Das kommt nicht in Frage! Ich gebe Ihnen den nur, wenn Sie mir einen Ersatzfahrschein ausstellen …⁠« Ich mischte mich ein: »Ist mir auch schon passiert, dass der Stempel unleserlich war.« Jetzt zeigte sich der Krawattenmann dankbar für meine Solidarität, die Kommunistin war vergessen. Die Debatte ging weiter, und ich war gar nicht mehr so sicher, ob der verwischte Stempel zufällig passierte. Vielleicht ein neuer Schwarzfahrertrick? Das Ticket schnell aus dem Stempelautomaten ziehen, damit sich die Daten verwischen, dann könnte man ja ewig mit dem Schein fahren. Der Kontrolleur forderte nun den Krawattenmann auf, mit ihm bei der nächsten Station auszusteigen, um seine Personalien zu ermitteln. Er widersprach, sie stritten noch, als ich aussteigen musste.

    Der Zahnarzt lachte über die verschwundenen Schmerzen: »Das kennen wir. Nun machen Sie mal den Mund auf …⁠« Auf der Heimfahrt schlenderte ein Obdachloser durch den Wagen. Er sah nicht aus wie die anderen U-Bahn-Bettler, eher wie Brad Pitt, nur jünger und mit schwarzem Haar. Mit seinen schwarzen Jeans-Klamotten hätte er perfekt auf eine Anzeige von G-Star Raw Denim gepasst. Aber der Mann war eben kein Modell, sondern durchsuchte die Ringbahn nach Leergut. Er entdeckte einen kleinen Zwölfer-Karton mit Schnapsflaschen, stellte sich damit an die Tür, schraubte ein Fläschchen nach dem anderen auf und schüttelte sich die Tropfen in den Rachen. Kurz vor dem nächsten Halt wandte er sich an mich und meinte gut gelaunt: »Man dreht die Dinger instinktiv imma wieda zu, obwohl se doch leer sind. Weeste, man dreht imma den Deckel wieder druff. Dit is’ doch komisch, wa? Und imma is’ noch wat drin!«

    Privatmoral

    Während einer Netzrecherche zum acte gratuit des Rodion Raskolnikow suchte ich nach »Privatmoral«. Prompt fragte Google: »Meinten Sie: Privatmodell?« Liegt ja nahe oder?

    Finger einer Hand voll Angst

    Weil ich ein mitfühlender Mensch bin, tut mir sogar Armut auf hohem Niveau leid. Meine erste Erfahrung mit solchen bedauernswerten Menschen machte ich als unreifer Verleger mit 29 Jahren. Damals schickte H. B. Corell dem Melzer Verlag sein Manuskript »Five Fingers and a Bit of Fright«. Ein Thriller, ich war interessiert, und es meldete sich telefonisch eine weltläufige Stimme im schnarrenden Preußenton: »Ich möchte Sie ins Sommerhaus meiner Familie nach Garmisch einladen.« Dort könne man alles weitere besprechen, im Übrigen stehe H. B. für Hubert von Blücher, Corell sei ein Pseudonym.

    Versteht sich von selbst, dass ich vor dem Treffen Leben und Taten des Marschall Vorwärts nachgeschlagen hatte, sein Porträt war im Lexikon abgebildet. Hubert war dem Vorfahr wie aus dem Gesicht geschnitten – die gleiche lange, schiefe Haken­nase – bis auf den martialischen Schnurrbart, denn er war glatt rasiert. Der Urenkel des Fürsten von Wahlstatt empfing mich vor seinem prächtigen oberbayerischen Holzhaus inmitten eines riesigen Grundstücks mit Blick auf die Zugspitze. So etwas beeindruckte mich damals, wenn ich mich auch bemühte, es mir nicht anmerken zu lassen.

    Im Arbeitszimmer erzählte er aus seinem Leben: Sein Vater war Botschafter gewesen, deshalb wurde er in Stockholm geboren. Schade, dass es damals noch kein Google gab, dann hätte ich herausgefunden, dass der Typ ein adliger Hochstapler war – contradictio in adjecto. Angeblich hatte er Martin Bormann das Nazigold in Argentinien apportiert, und später behauptete er, der beste Freund von Howard Hughes zu sein. Wenn ich diese Aufschneidereien damals schon gekannt hätte, gäbe es diese Geschichte nicht. Ich erfuhr nur allerlei Klatsch über Hollywoodstars, den deutschen Geldadel wie Gabriele Henkel, und dass er oft mit Walter Scheel gesoffen habe. Besonders liebte er die Zote, offenbar rittmeisterliches Kasinoerbe.

    Neben seinem Anwesen in einem ebenfalls großen Landhaus lebte eine Erbin aus der Stinnes-Dynastie. Dieser Konzern hatte einst zu den großen deutschen Vermögen gehört: Kohle und Stahl, See- und Binnenschifffahrt, Papier, Chemie, Hotels, Druck. Als Stinnes in den Nachkriegsjahren zusammenbrach, schnitt sich Friedrich Flick die Filetstücke wie die Feldmühle heraus. Frau Stinnes war Mitte vierzig und Malerin. Ja, was malte sie? Strandgut aus bayerischen Seen, surrealistischer Kitsch, ohne Rausch und Ekstase gemalt – na, mit etwas Wahnsinn schon. Meine Frage nach Ausstellungen parierte sie mit der Bemerkung: »Ich verkaufe jedes Jahr nur eine Arbeit.« Mal erstand Krupp eine für die Villa Hügel, mal musste Oetker mit fünfzigtausend Mark für eine Wurzel ran. Jedes Jahr erbarmte sich ein anderer Industrieller, um Frau Stinnes mit nobler Geste über Wasser zu halten. Kein Wunder, denn sie jammerte perfekt, dreimal stieß sie den herzerweichenden Seufzer aus: »Ach Gott, ich bin wirklich arm!«

    Nach der Besichtigung der Bilder tranken wir Tee. Ihr Freund, der Colonel, war gerade zu Besuch, Chef des britischen Geheimdienstes in Germany. Kein Spion, der aus der Kälte kam, sondern ein untersetzter Fünfziger mit Dunhill-Pfeife und einem Bart – danach musst du lange suchen: Auf seinen roten, glattrasierten Wangen saßen zwei blonde Haarbällchen! Er berichtete, dass er soeben vom Pariser Aero-Salon in Le Bourget komme, wo die Flugzeugindustrie, inklusive die der UdSSR, ihre neuen Modelle vorgeführt habe. Da waren natürlich alle Oberspione zur Stelle, um ganz offen zu begutachten, was sie später mühevoll ausspähen ließen.

    »Schon eine schlimme Sache, wenn man sein Vermögen verliert«, sagte ich später zu meinem Gastgeber. »Tja, sie ist wirklich arm dran. Früher hatte Hugo Stinnes tausend Millionen, jetzt hat sie nur noch drei.« Und sofort schob Blücher zwei Geschichten nach über diese sonderbare Familie: Der Stinnes-Bruder nahm als Bobfahrer für Argentinien an Olympiaden teil und belegte regelmäßig den letzten Platz. Außerdem versuchte er, die Sahara zu bewässern. Seine obskuren Untersuchungen nahm Stinnes jun. bevorzugt in Antibes vor, bis zu den Hüften im Mittelmeer stehend, auf dem Rücken ein selbstkonstruiertes Messgerät, im Mund einen Ansaugschnorchel. Diese Sippe verlor demnach ihr Vermögen nicht ohne Grund, vielmehr muss eine ziemliche Gehirnmauke die Nachfahren des gerissenen Konzerngründers Hugo Stinnes befallen haben.

    Nichtrauchen ist ungesund

    Die Zigarre an Silvester war unsere letzte Zigarette, denn wir hatten uns vorgenommen, während des Urlaubs in der Provence das Rauchen aufzugeben. Das war am ersten Tag kein Problem, wir hatten sowieso einen dicken Kopf, schliefen bis Mittag, aber dann begann der Entzug. Wir unterhielten uns ständig über die Raucherei, waren gereizt, schlecht gelaunt. Im Reitstall von Monsieur Guy trafen wir zwei deutsche Architekten; die beiden inhalierten genussvoll – also ganz normal – ihre Marlboros, während wir uns unterhielten. »Diese Raucher haben mich verrückt gemacht«, sagte Barbara später, »ich hatte eine Halluzination, plötzlich wurde das Gesicht des einen zu einer riesigen Zigarette, die aus seinem Oberkörper herauswuchs.« So weit ging das mit den Entzugsphantasien.

    Der Urlaub war also nicht angenehm, dazu kam eine sibirische Kälte mit Glatteis und Schnee. Die Franzosen fuhren wie die Idioten auf ihren Sommerreifen herum, schleuderten und dotzten sich Beulen in ihre Karren. In Ländern, in denen es selten friert, fahren die Leute eben so, als ob es das Glatteis nicht gäbe. Schon am nächsten Tag hatte unser Hotelier einen Gipsfuß und sogar sein Beifahrer, der Hund mit der Ockerschnauze, trug einen Vorderlauf in Gips. Einen anderen Hund hätten wir wegen der Glätte fast überfahren: Ein junger braungeschimmelter Pointer schnürte ungerührt mit der Nase auf der Fährte über die vereiste Fahrbahn. Ich bremste und hielt an, da nahte die dazugehörige Jagdgesellschaft, zwei Frauen, elegant gekleidet, auch ihre Männer in teuren Jagdklamotten. »Der Hund ist denen sicher weggelaufen«, meinte Barbara. Es war nicht unsere letzte Begegnung mit dem Tier.

    Aber erst mal erwischte mich eine schwere Erkältung, mit vierzig Grad Fieber lag ich im Bett. Barbara machte mir kalte Wadenwickel und brachte mir Kraftbrühe. Nach zwei Tagen ging es mir besser, ich fühlte mich aber noch schwach. Wir wollten uns Avignon ansehen, ich saß matt auf dem Beifahrersitz, Barbara ging auf das Hotel zu, um den Zimmerschlüssel abzugeben, da öffnete sich die Tür einen Spalt weit, und mit einem Tritt – man sah nur den Fuß, wie im Comic – wurde ein Pointer herausbefördert. Unverkennbar der braungeschimmelte Kamerad, der uns vor ein paar Tagen fast ins Auto gelaufen wäre. Er hatte sich wohl ins warme Hotel geschlichen, wandte kurz den Kopf, sah Barbara und sprang ihr aus zwei Metern Entfernung in die Arme. Sie konnte gar nicht anders als ihn auffangen und halten, dann setzte sie ihn ab. Bevor sie ins Auto einstieg, tätschelte sie noch mal seinen Kopf. Der Hund trottete traurig mit eingeklemmtem, kupiertem Schwanz und hängenden Ohren davon.

    Während der Fahrt sprachen wir über den formidablen Sprung. Barbara machte sich Vorwürfe, ein Tier, das sie so eindeutig als Gefährtin erwählte, weggestoßen zu haben. Unter solchen Reden erreichten wir Avignon und gerieten in ein Touristenrestaurant, Typ zwei bis zwölf Gänge, bestellten drei, jeder einzelne ein Graus: die Suppe Spülwasser, und so ging’s weiter. Wenn die Franzosen schlecht kochen, dann machen sie es konsequent, und der Fraß ist schlimmer als sonst wo. Als Amuse-Gueule fungierte eine böse Kellnerin mit verschobener Perücke und schwarzem Lederminirock, darunter knotige Knie an dürren Beinen. Das war zuviel für mich, mein Kreislauf brach zusammen. Barbara erzählt mir noch heute, ich hätte wie ein Albinoleopard ausgesehen: käseweißes Gesicht mit roten Flecken. Eben ein veritabler Kollaps, kein Wunder nach dem hohen Fieber. Mit letzter Kraft sagte ich zu Barbara: »Nur raus hier! Bring mich schnell zurück ins Hotel! Ich bin doch noch krank, und morgen fahren wir nach Hause.«

    Auf halber Strecke nach Roussillon stabilisierte sich mein Kreislauf, vielleicht auch, weil uns klargeworden war: Nichtrauchen ist nicht gesund für uns. Deshalb wollten wir in der Bar de la Mairie Zigaretten holen. Kurz vor dem Ziel musste Barbara scharf bremsen, abermals huschte

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