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Der Ausklang - Edition 2016: § 217 StGB verändert Deutschland
Der Ausklang - Edition 2016: § 217 StGB verändert Deutschland
Der Ausklang - Edition 2016: § 217 StGB verändert Deutschland
Ebook169 pages1 hour

Der Ausklang - Edition 2016: § 217 StGB verändert Deutschland

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About this ebook

Seit Jahren steht unser Verein Sterbehilfe Deutschland e.V. in der öffentlichen Kritik. Der Deutsche Bundestag hat ein Gesetz beschlossen (§ 217 StGB), das wesentliche Teile unserer Vereinsarbeit unter Strafe stellt und damit unmöglich macht. Es könnte sein, dass viele Bundestagsabgeordnete, die § 217 StGB beschlossen haben, gar nicht wissen, was unser Verein tut. Für politische Einflussnahme ist es jetzt zu spät. Das Gesetz ist in Kraft. Aber für alle Menschen in Deutschland, die die Beschränkung ihrer Autonomie durch den Deutschen Bundestag als inakzeptabel empfinden, mag es von Interesse sein, was unser Verein in den letzten sechs Jahren für seine Mitglieder geleistet hat.
LanguageDeutsch
Release dateFeb 23, 2016
ISBN9783741215476
Der Ausklang - Edition 2016: § 217 StGB verändert Deutschland
Author

Roger Kusch

Dr. iur. Roger Kusch, geb. 1954, war von 2001 bis 2006 Justizsenator in Hamburg, jetzt tätig als Rechtsanwalt. Vorsitzender des StHD-Vorstands.

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    Der Ausklang - Edition 2016 - Roger Kusch

    Grundsätze

    Im Anfang war das Wort

    Der erste Satz des Johannes-Evangeliums erklärt nicht nur die Erschaffung der Welt, sondern ist auch eine prägnante Beschreibung des Rechtsstaats: Das Wort (die allgemein verbindliche Gesetzesnorm) ist die Basis allen gedeihlichen Zusammenlebens.

    Wie jede neue Gesetzesnorm ist auch der neue Straftatbestand „§ 217 StGB Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung" daran zu messen, ob und wie er das Zusammenleben stärkt oder erleichtert. Bei § 217 StGB spielt neben der juristischen Analyse auch der Unterschied zwischen Substantiv und Adjektiv eine Rolle. Wir wollen uns auf einen kleinen historischen Exkurs begeben und mit einem Adjektiv beginnen:

    „gewerbsmäßig"

    Nach erfolgreicher Bundestagswahl vereinbarten CDU, CSU und FDP am 26. Oktober 2009 im Koalitionsvertrag: „Die gewerbsmäßige Vermittlung von Gelegenheiten zur Selbsttötung werden wir unter Strafe stellen. Am 29. August 2012 setzte das Bundeskabinett die Koalitionsvereinbarung um und beschloss einen Gesetzentwurf zur „Strafbarkeit der gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung. Das Ziel des Gesetzentwurfs war es, Suizidbeihilfe durch unseren Verein Sterbehilfe Deutschland e.V. (StHD) unter Strafe zu stellen.

    Parallel zum Kabinettsbeschluss wurde in die StHD-Vereinssatzung durch Beschluss der Mitgliederversammlung die Klarstellung aufgenommen: „Der Verein ist parteipolitisch und konfessionell neutral und hat keinerlei wirtschaftliche Zielsetzung." So bestand keine Möglichkeit mehr, StHD wegen vermeintlicher Gewerbsmäßigkeit zu verbieten. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung wurde ad acta gelegt.

    „organisiert"

    Nach dieser gesetzgeberischen Sackgasse war klar, dass für ein StHD-Verbot andere Wege beschritten werden mussten. Die Initiative ergriff der CDU-Bundesparteitag in Hannover am 5. Dezember 2012 und beschloss, dass „die unentgeltlich, aber geschäftsmäßig erbrachte Hilfeleistung zur Selbsttötung (organisierte Sterbehilfe) unter Strafe gestellt wird."

    Gegen diese Formulierung half keine Klarstellung der StHD-Satzung, denn „organisierte Sterbehilfe" ist das Kernelement unserer Vereinstätigkeit.

    Allerdings hatte der CDU-Bundesparteitag einen Passus im Regierungsentwurf vom 29. August 2012 übersehen: „Abzulehnen ist der Versuch, allein einer Vereinigung die Gewährung von Suizidhilfe zu versagen. Denn was dem Einzelnen erlaubt ist, kann dem Verein nicht verboten werden (BVerfG vom 24. Februar 1971 – u.a. 1 BvR 438/68 = BVerfGE 30, S. 227, 243). Dieser Passus wurde von den rechtspolitisch Verantwortlichen in Berlin erst im Laufe des Jahres 2013 wahrgenommen. Die „organisierte Sterbehilfe verschwand aus der politischen Agenda, denn mit einer offenkundig verfassungswidrigen Gesetzesformulierung konnte die Arbeit von StHD nicht unterbunden werden.

    „geschäftsmäßig"

    Es ist das Verdienst des Gießener Jura-Professors Steffen Augsberg, zur rechten Zeit das rechte Wort reaktiviert zu haben: Am 8. Mai 2014 stellte er den „Entwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung vor. In dem Gesetzentwurf – der eineinhalb Jahre später weitgehend unverändert als Bundestagsdrucksache 18/5373 beschlossen wurde – spielt das Wort „organisiert keine Rolle mehr. Zentrales Tatbestandsmerkmal des neuen § 217 StGB ist das „geschäftsmäßige" Handeln.

    Das Adjektiv „geschäftsmäßig" ist ein Kunstwort. Es gehört nicht zur deutschen Umgangssprache und bedarf daher der gesetzgeberischen Erläuterung. In der Bundestagsdrucksache 18/5373, Seite →f. ist zu lesen, es genüge, „wenn jemand die Wiederholung gleichartiger Taten zum Gegenstand seiner Beschäftigung machen will." Das heißt, in Umgangssprache übersetzt: Es geht um eine wiederholte oder auf Wiederholung angelegte Tätigkeit.

    „wiederholend"

    Jede angehende Juristin und jeder angehende Jurist lernt schon zu Beginn des Studiums, dass Allgemeinverständlichkeit und damit sprachliche Prägnanz die wichtigste Aufgabe des Gesetzgebers sind: Wenn der Gesetzgeber die Wiederholung einer Tätigkeit für strafwürdig hält, dann muss er das Wort „wiederholt ins Gesetz schreiben. Und wenn er über die Wiederholung hinaus auch die erstmalige, aber auf Wiederholung angelegte Tätigkeit für strafwürdig hält, kann er das mit dem umgangssprachlich unüblichen aber gleichwohl prägnanten Wort „wiederholend zum Ausdruck bringen.

    Warum hat der Deutsche Bundestag bei seinem Beschluss am 6. November 2015 die „geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe gestellt und nicht die „wiederholte oder „wiederholende" Förderung?

    „geschäftsmäßig / Geschäft"

    Die Antwort steckt im Substantiv. „Wiederholung ist ein blasses Wort. Aber das Substantiv „Geschäft transportiert eine politische Botschaft: StHD mache mit Suizidbegleitung Geschäfte.

    Die SPD-Bundestagsabgeordnete Kerstin Griese, Mitinitiatorin der Bundestagsdrucksache 18/5373, sagte in der ARD-Talkshow „hart aber fair vier Tage vor dem Gesetzesbeschluss des Deutschen Bundestages: „Roger Kusch spielt mit den Ängsten der Menschen und verdient daran. Deshalb wollen wir seinen Verein verbieten.

    Es sei an dieser Stelle wie schon oft darauf hingewiesen, dass die Mitglieder des StHD-Vorstands ehrenamtlich tätig sind und keinen Verdienst bekommen, nicht einmal in Form von Auslagenpauschale oder Aufwandsentschädigung.

    Am 11. Januar 2016 sagte Kerstin Griese in einem Interview der Rheinischen Post: „Ein Geschäft mit dem Tod ist vom Gesetzgeber nicht gewollt."

    Wie wir aus Gesprächen mit Bundestagsabgeordneten, Journalistinnen und Journalisten wissen, war die vermeintliche – als anstößig empfundene – Geschäftemacherei von StHD der entscheidende Impuls, dass der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit für § 217 StGB gestimmt hat.

    „Geschäftsmodell"

    Die Bundestagsdrucksache 18/5373 gibt sich große Mühe, diesen politischen Impuls zu kaschieren. Aber es gibt drei entlarvende Ausrutscher. Auf den Seiten → und → ist von einem „Geschäftsmodell die Rede und auf Seite → von einem „Geschäfts- oder Organisationsmodell.

    Die Initiatoren der Drucksache 18/5373 wollten für die künftige Gesetzesauslegung durch Staatsanwaltschaften und Gerichte den Eindruck vermitteln, „geschäftsmäßig sei ein Synonym zu „wiederholend.

    Solange es aber um das Werben für eine parlamentarische Mehrheit ging, war das Wort „geschäftsmäßig" Transportmittel für die Botschaft, § 217 StGB sei erforderlich, um die anstößige Geschäftemacherei von StHD zu unterbinden. Dass StHD ein Verein ist und schon wegen dieser Organisationsform keine Geschäfte machen kann, blieb unbeachtet.

    StHD als juristische Person, der Vorstand, die Mitarbeiterinnen, die Mitarbeiter und die Mitglieder sehen sich inmitten und als Teil des deutschen Rechtsstaates. Wir alle respektieren das neue Gesetz, das mit unzutreffenden Unterstellungen, aber gleichwohl rechtsstaatlich zustande gekommen ist.

    Allerdings sehen wir eine zunehmende Dominanz klerikalen Einflusses, eine Ausweitung der Einflusssphäre des Staates bis ins intim-Private hinein und einen sinkenden Respekt vor der individuell-begründungsfreien und auch nicht begründungspflichtigen Lebensgestaltung des Individuums.

    Wir werden immer an der Seite unserer Mitglieder stehen und den gesetzlich verbliebenen Rest an Individualität und Selbstbestimmung im Rahmen unserer begrenzten Möglichkeiten unterstützen.

    Der Vorstand des Vereins Sterbehilfe Deutschland e.V.

    Roger Kusch, Torsten Benzin, Reinhold Schaube

    Hamburg im Februar 2016

    A)  StHD im Jahre 2015

    1)  Die Mitglieder

    Am 31. Dezember 2015 hatten wir 543 Mitglieder im Alter von 24 bis 97 Jahren. Durchschnittsalter 70 Jahre; Frauenanteil 56 %.

    (Ein Jahr zuvor hatte die Zahl der Vereinsmitglieder 613 betragen.)

    Im Jahre 2015 traten 273 Mitglieder bei, 343 Mitglieder schieden aus:

    1 durch Austrittserklärung wegen Ablehnung des Sterbehilfe-Wunsches,

    174 durch Austrittserklärung aus anderen Gründen,

    76 aufgrund (natürlichen) Todes und

    92 infolge begleiteten Suizids; Durchschnittsalter 77 Jahre; Frauenanteil 68 %.

    Die hohe Zahl an Austritten „aus anderen Gründen" im Jahr 2015 ist vor allem damit zu erklären, dass das Verbot organisierter Sterbehilfe (das mit § 217 StGB zwar erst am 10. Dezember 2015 in Kraft trat, aber schon lange vorher absehbar war) die persönliche Perspektive etlicher Mitglieder zerstörte, die sich vom Verein eine dauerhafte Vorsorge versprochen hatten. Durch § 217 StGB konnte und kann der Verein seine ursprüngliche satzungsgemäße Zusage nicht mehr einhalten, im Falle unheilbarer Krankheit einen begleiteten Suizid zu ermöglichen.

    Hinzu kommt, dass die Mitgliederversammlung im August 2015 zur finanziellen Stabilisierung des Vereins einen einmaligen Sonderbeitrag aller Mitglieder beschlossen hatte: § 5b der Satzung, siehe Seite →. Mitglieder, die diesen Sonderbeitrag nicht leisten wollten, konnten die Zahlung durch Vereinsaustritt vermeiden. Die große Mehrheit der Mitglieder zeigte allerdings durch Zahlung des Sonderbeitrags ihre enge Verbundenheit mit dem Verein und seinen Zielen.

    2)  § 217 StGB als Wendepunkt in der Vereinstätigkeit

    Nachdem der Deutsche Bundestag am 6. November 2015 den neuen § 217 StGB mit großer Mehrheit beschlossen hatte, fragten wir uns, was wir falsch gemacht hatten, dass es so weit kommen konnte: ein Gesetz, mit dem die Arbeit unseres Vereins unterbunden werden sollte, das aber so weit gefasst ist, dass in das Selbstbestimmungsrecht aller Menschen in Deutschland eingegriffen wird.

    Haben wir durch unser Verhalten oder gar durch unsere bloße Existenz die Abgeordneten des Deutschen Bundestags so provoziert, dass sie sich nur mit § 217 StGB zu wehren wussten? Liegt es an der personellen Zusammensetzung unseres Vorstands? Ist es die öffentliche Präsentation des Injektionsautomaten vor acht Jahren, die immer noch die Gemüter erhitzt? Uns gingen diese und noch viele weitere Fragen durch den Kopf – und wir konnten sie nicht beantworten.

    §217 StGB ist in Kraft, und wir müssen damit leben. Wir können das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen, und auch Ungeschicklichkeiten im Umgang mit den Medien können wir nicht ungeschehen machen.

    Was aber entscheidend ist: In den nachfolgend auf Seite →-→ geschilderten 254 Fällen, in denen wir Mitglieder unseres Vereins beim Suizid begleitet haben, können wir auch bei selbstkritischem Rückblick keinen Fehler feststellen. Jede einzelne dieser 254 Suizidbegleitungen würden wir

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