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Die Mätresse von Mailand: Historischer Roman
Die Mätresse von Mailand: Historischer Roman
Die Mätresse von Mailand: Historischer Roman
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Die Mätresse von Mailand: Historischer Roman

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About this ebook

Man schreibt das Jahr 1496, Anno Domini. Nirgendwo ist die Welt aufregender, bunter und gefährlicher als in Italien. Jeder Potentat sucht durch Heirat, Intrigen oder Bündnisse seinen Herrschaftsbereich zu vergrößern, und Frauen und Mätressen werden derart mächtig, dass der Einfluss der „Renaissance-Frau“ sprichwörtlich wird. 

In Mailand herrscht gerade Herzog Ludovico Sforza, ein Kondottiere und Haudegen. Er ist dem weiblichen Geschlecht mehr als zugetan. 
Leonardo da Vinci, der Hofmaler und Festungsbaumeister Ludovicos, steht inmitten all der Intrigen, ferner eine in allen Finten und Finessen bewanderte Mätresse, genannt die Messalina oder die Wölfin. In der Kunst der Liebe ist sie unschlagbar, sie ist unersättlich. Aber die Konkurrenz schläft nicht. Auch andere Damen drängen in das Bett des Herzogs. 
Ludovico selbst sitzt zwischen allen Stühlen, nicht nur in privater Hinsicht. Besonders brenzlig ist die politische Situation. Bei dem Mächtepoker in Mailand geht es um alles oder nichts. Frankreich, Deutschland, der Papst in Rom, Venedig, Florenz und Neapel schielen voller Neid auf das überreiche Mailand und wollen Ludovico stürzen. 
Als wären es der Probleme noch nicht genug, opponiert plötzlich auch der führende Dominikanerabt Mailands gegen Ludovico. Aber der Abt intrigiert auch gegen die Messalina, da sie die Unzucht in Mailand zu einer eigenen Kunstform erhoben hat. Doch die attraktive und mit allen Wassern gewaschene Messalina wird nicht umsonst „die Wölfin“ genannt: Nicht nur mit erotischen Finessen umgarnt sie die Mächtigen aus Kirche und Politik, sie bedient sich auch massiverer Mittel. Sie ist die geheime Herrscherin Mailands. 
Wer gewinnt zuletzt das große Spiel? 

Der bekannte Autor Frank Fabian („Die Geheimmission des Tempelritters“) präsentiert hier ein weiteres opulentes Historiengemälde um Liebe, Lust und Verrat in der Renaissancezeit. 

LanguageDeutsch
Release dateFeb 26, 2016
ISBN9781524263157
Die Mätresse von Mailand: Historischer Roman

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    Die Mätresse von Mailand - Frank Fabian

    Frank Fabian

    Die Mätresse

    von Mailand

    Historischer Roman

    © Copyright by Frank Fabian, 2015, All rights reserved

    Email: frankfabian11@yahoo.com

    1496 Anno Domini

    Mailand, Italien

    PROLOG

    Erwartungsvoll trat die Messalina, die berühmteste Mätresse Mailands, auf ihren Gast zu; immerhin befanden sie sich bereits im Schlafzimmer. Aber ihr Gast schien wenig Interesse an ihr zu zeigen, was sie heimlich in Wut versetzte. Sie legte ihm vertraulich eine Hand auf den Arm und wollte ihn gerade um den Finger wickeln, als es passierte. Eine ihrer Dienerinnen erschien in der Tür, sie befand sich in heller Aufregung. „Ludovico!", schleuderte die Dienerin der Messalina nur atemlos entgegen.

    „Was willst du damit sagen? Nun rede schon, du dumme Gans!", fuhr die Messalina sie an.

    „Ludovico, der Herr Mailands, unser Fürst, er ist im Anmarsch. Er ist bereits an der Pforte. Was soll ich ihm sagen?"

    „Maledizione! Das Gesicht der Messalina veränderte sich mit einem Schlag, ihre Züge wurden hart. „Verdammt! Wenn mich der Fürst Mailands mit einem anderen Mann erwischt, wird er falsche Rückschlüsse ziehen. Er ist eifersüchtiger als der eifersüchtigste Hengst. Sie wandte sich ihrem Gast zu. „Ludovico wird Sie erschießen in seiner dummen Eifersucht. Sie müssen sich verstecken."

    Sie lauschte auf das Gepolter, das plötzlich in einiger Entfernung zu hören war. Ludovico hatte das Lustschlösschen bereits betreten. Die Mätresse hörte ihn laut rufen: „Messalina, Täubchen, wo steckst du?"

    Die Messalina reagierte eiskalt. Kurz entschlossen wandte sie sich an ihre Dienerin: „Sag Ludovico, ich sei ausgeritten und würde erst in zwei Stunden zurückerwartet. Er soll es sich bequem machen, im Saal. Gib ihm etwas zu trinken. Und sei nett zu ihm, sehr nett."

    Der schwere Schritt des Stadtfürsten näherte sich bereits dem Schlafgemach.

    „Messalina!", dröhnte noch einmal die Stimme des Landesherrn auf.

    „Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, so verstecken Sie sich in diesem Schrank. Rasch! Die Messalina sah ihren Gast beschwörend an. „Auch mir bleibt nichts anderes übrig.

    Die Schritte Ludovicos klangen lauter auf.

    „Und du, tue dein Bestes", zischte die Messalina ihrer Dienerin zu. „Dein Bestes! Du weißt, was ich damit zum Ausdruck bringen will. Und schließ die Schranktür hinter uns, aber nicht ganz. Lass sie einen winzigen Spalt offen."

    Noch bevor ihr Gast imstande gewesen wäre, Einspruch zu erheben, schob ihn die Messalina bereits mit energischer Hand in den riesigen Schrank, der normalerweise als Kleiderschrank diente. Wendig stieg sie hinterher, während die Dienerin mit zitternden Händen die Schranktür schloss. Wie geheißen ließ sie einen winzigen Spalt offen. Es geschah keinen Augenblick zu früh. Nur einen Wimpernschlag später wurde die Schlafzimmertür aufgestoßen. Mit wuchtigen Schritten nahm Ludovico sofort den Raum in Besitz, im vollen Bewusstsein seiner Macht. „Wo ist die Messalina, die schönste Hure Mailands?", fragte er die Dienerin.

    Die Dienerin versuchte ungelenk einen Hofknicks. „Sie ist ausgeritten, gnädiger Herr."

    Ludovico unterbrach sie mitten in dem linkischen Knicks, fasste ihr hart unter das Kinn und schnaubte: „Lass den Firlefanz, wir sind hier nicht bei Hofe. Steh auf! Wohin ist sie geritten? Und wann wird sie wiederkommen?"

    „Sie hat keine Nachricht hinterlassen, gnädiger Herr. Ich schätze in zwei Stunden."

    „Zwei Stunden!, wiederholte Ludovico, „Mein Gott! Er gähnte frustriert, polterte dann zu dem riesigen Bett und setzte sich darauf nieder.

    „Bei dem geilen Papst Sixtus, der sich hundert Huren hielt – wie soll ich das so lange aushalten? Ungeniert riss er noch einmal das Maul auf und entschied: „Ich werde hier auf sie warten.

    „Wollen der gnädige Herr nicht in einem bequemeren Zimmer warten, wo wir ihn besser verwöhnen können?"

    „Auf keinen Fall, brummte Ludovico. „Aber komm her, Vögelchen. Zieh mir erst einmal die Stiefel aus.

    Die Dienerin tat, wie ihr geheißen.

    „So ist es gut!", seufze Ludovico zufrieden. „Und jetzt bringe mir etwas zu saufen, ich sterbe sonst. Schließlich bezahle ich diese Herberge hier. Bewirte mich, wie du deinen Fürsten bewirten solltest."

    Ludovico gab der Dienerin einen freundschaftlichen Klaps auf das Hinterteil. Sie eilte davon, um die Wünsche des Herrschers von Mailand zu erfüllen.

    Die Messalina konnte durch den Spalt nur einen kleinen Teil des Raumes überblicken. Immerhin fiel ein wenig Licht in den geräumigen Schrank, so dass ihr Gast ihre Rundungen sah. Sie lächelte und legte den Finger auf seine Lippen. Aber diese Geste war überflüssig. Ihr Gast wusste, es würde ihn den Hals kosten, wenn ihn Ludovico mit seiner Mätresse in dem Schrank erwischte.

    Die Dienerin brachte Ludovico Wein. Der Fürst von Mailand trank in großen Schlucken und rülpste vernehmlich.

    „Aaah, das tut gut. Schenk mir nach, Vögelchen!", schnauzte er die Dienerin an.

    Die Messalina hörte, wie Ludovico erneut geräuschvoll den Wein seine Kehle herunterrinnen ließ. Wieder rülpste er laut. Ludovico besaß die Gesittung eines Barbaren, aber als Herzog von Mailand konnte er sich alles erlauben. Auf einmal betrachtete er interessiert die ägyptisch geschminkte Dienerin, die erwartungsvoll mit großen, schwarzumrandeten Augen vor ihm stand. Schließlich befahl er: „Du bist zwar nicht so schön wie deine Herrin, aber komm trotzdem ein wenig näher." Mit harter Hand zog er die Dienerin zu sich heran und veranlasste sie, sich auf seinen Schoß zu setzen.

    „Wie heißt du eigentlich?"

    „Cleopatra ist mein Künstlername", wisperte die Dienerin.

    Ludovico prustete los. „So, so, einen Künstlernamen hast du also auch. Herrlich! Weißt du eigentlich, wofür Cleopatra berühmt war?"

    „Nein, mein Fürst."

    „Nenne mich nicht immer mein Fürst oder Herr. Hier bin ich ein ganz normaler Mann!"

    Vertraulich griff ihr Ludovico an die kleinen Brüste und begann sie zu kneten.

    „Ja, Herr, ich … meine, Ludovico."

    „Siehst du, so ist es schon besser."

    „Das ist sehr angenehm, Herr, was Sie da gerade machen!"

    „So, das gefällt dir also!" Er fuhr fort, ihre Brüste zu massieren.

    „Ich sag dir was, Cleopatra. Bis deine Herrin zurück ist, solltest du mir ein wenig die Zeit vertreiben. Sag bloß nicht, dass du keine Lust hast."

    „Es wäre mir eine Ehre, mein Herr", zirpte die Dienerin, der Worte ihrer Herrin eingedenk.

    „Dann ist es gut. Komm her!"

    Ludovico zog sich ächzend aus und hieß der Dienerin, es ihm gleich zu tun. Von dem Winkel des Schrankes aus gesehen konnte man nun nichts mehr erkennen. Man vernahm nur quietschende Laute und hörte die kleine Cleopatra japsen.

    Der Fürst von Mailand röhrte nach einer Weile wie ein Hirsch und rief voller Freude: „Du bist begabt, verdammtes Luder!"

    Kurz darauf hörten die beiden Lauscher im Schrank auch die Dienerin kleine Schreie der Lust ausstoßen.

    Im Schrank vernahm man nun nur noch eindeutige Geräusche. Der Gast staunte still, aber er staunte noch mehr, als sein Bein sich auf einmal warm anfühlte. Als er daran herunterblickte, sah er, dass die Hand der Messalina darauf lag. Schlangengleich hatte sie sich an ihn herangepirscht, ohne dass er es bemerkt hatte. Er fühlte, wie die Messalina, vielleicht animiert von Ludovicos Aktivitäten, ihre Brust plötzlich heftig gegen seinen Arm drückte und ihn hungrig anstarrte. Plötzlich schlug ihm ihr erregter Atem ins Gesicht. Ihre Hand glitt an seinem Oberschenkel entlang nach oben, bis sie auf einmal unter sein Beintuch griff. Er konnte es nicht fassen! Nur mit Mühe vermied er es, einen lauten Schrei auszustoßen. Jesus, Maria! Beim Fleisch und Blut aller Heiligen!

    Er durfte keinesfalls mit der Messalina … Er dachte den Gedanken kaum zu Ende, denn die Hand der Mätresse wurde in diesem Augenblick noch zudringlicher. Perplex bemerkte er, wie ihre Finger in seiner heiligsten Region herumfuhrwerkten. Protest wallte in ihm auf. Unvermittelt packte er fest die unbotmäßige Hand der Mätresse und schob sie mit eisernem Griff von sich fort. Die Messalina, die auf einen solchen Widerstand nicht gefasst war, atmete überrascht laut auf und geriet aus dem Gleichgewicht, so dass sie sich mit einem dumpfen Schlag niedersetzte. Beide erschraken zu Tode.

    Die Geräusche außerhalb des Schrankes setzten unversehens aus. Dann hörten sie die tiefe, grollende Stimme Ludovicos: „Gib es hier Mäuse?"

    Dann hörten sie erneut die Stimme des Mailänder Herrschers: „Das sind keinesfalls Mäuse, es sind Ratten. Hier ist etwas erzfaul. Ich werde der Sache auf den Grund gehen."

    Ludovico war mit einem Satz aus dem Bett und sprang auf den Schrank zu.

    MAILAND, SANTA MARIA DELLA GRAZIE, 13. MÄRZ 1496 ODER WAS VORHER GESCHAH

    Leonardo da Vinci trug mit unendlicher Sorgfalt einen Pinselstrich auf. Der Pinsel besaß nur ein einziges Haar. Vor ihm nahm das LETZTE ABENDMAHL mehr und mehr Gestalt an. Es handelte sich um ein Riesengemälde, mit dem er diesen Saal hier ausschmücken würde – einen Raum in der Kirche Santa Maria della Grazie in Mailand.

    Oh, das Gemälde würde alle Vorstellungen sprengen, die es bisher in der Gilde der Maler gegeben hatte. Es würde nichts weniger als eine neue Ära einläuten und eine Sensation darstellen. Es würde ihn über alle Mitbewerber hinausheben, auch über Michelangelo. Außerdem verfügte er mittlerweile über einen raffinierten, hoch geheimen Plan, der ihm zusätzlich Unsterblichkeit verleihen würde.

    Zunächst musste er jedoch Ludovico Sforza, den Herzog von Mailand, seinen Dienstherrn, zufriedenstellen, dem er inzwischen als Festungsbaumeister und Maler gleichzeitig diente. Ludovico würde vielleicht in dieser Kirche hier begraben werden wollen. Es war also sicherlich nicht falsch, ein paar Züge des Christusgesichtes wie die Gesichtslinien seines Landesherrn, Ludovico Sforza aussehen zu lassen. Eine kleine Schmeichelei hatte noch nie einem Maler geschadet. Gleichzeitig musste das Christusgesicht unvorstellbar erhaben wirken. Es musste eine solche Heiligkeit ausstrahlen, dass ein Betrachter unmittelbar auf die Knie fiel und anfing, zu beten.

    Die zwölf Apostel auf dem Gemälde, die in vier Dreiergruppen sorgfältig komponiert in Umrissen bereits sichtbar waren, rückten Jesus Christus in den Mittelpunkt, aber er musste den Heiland noch schärfer herausarbeiten. Leonardo legte den Pinsel beiseite und holte einen Hammer. Dann schlug er in die Schläfe des Jesusgesichtes einen Nagel. Er musste die Perspektive noch vollkommener darstellen und den Blick des Betrachters auf Christus zulaufen lassen. Von dem Nagel innerhalb des Jesusgesichts aus spannte er zu den oberen Ecken des Wandgemäldes mehrere Seile. Ja, auf diese Weise konnte er der Perspektive Herr werden! Der Raum musste perspektivisch verkürzt dargestellt werden, das war der Knackpunkt. Dadurch bekam das Gemälde Wucht und Realitätsnähe, wie sie selbst die Größten des Pinsels nicht zustande gebracht hatten.

    Er zog die Seile von der Schläfe Jesu zu den Ecken des Bildes noch strammer und wandte dabei unversehens sein Haupt zur Seite.

    Trotz seiner scharfen Augen bemerkte Leonardo den Beobachter nicht, der sich in einem Nebenraum des Saales befand und gerade vorsichtig um eine Ecke lugte. Der Beobachter, ein Mönch mit einem bleichen Gesicht und brennenden, schwarzen Augen, zog rasch den Kopf ein. Niemand wusste, dass es sich bei ihm – der sich bescheiden Fra Lorenzo nannte – um den neuen Abt der Dominikaner in Mailand handelte. Er grummelte unhörbar einige Worte in sich hinein. Noch konnte er nicht so auftreten, wie es ihm eigentlich gebührte. Aber es war richtig, dieses gottlose Mailand und sogar seine eigene Kirche, Santa Maria della Grazie, erst ein wenig auszuspionieren, bevor er sich als neuer Abt des Ordens in dieser Stadt zu erkennen gab und den alten Abt ablöste, der gerade das Zeitliche gesegnet hatte. Aber es fiel ihm schwer zurückzustecken. Immerhin hatte der Papst persönlich ein Wort mitgeredet, als er zum Abt bestellt worden war, Alexander VI., der vor ein paar Jahren auf Petris Stuhl Platz genommen hatte. Ha, der papa hatte den Namen Alexander nicht umsonst gewählt, er spielte damit auf die Machtfülle Alexander des Großen an. Aus Machtgründen hatte er auch ihn nach Mailand entsandt, um hier als neuer Abt das Christentum und den wahren Glauben zu fördern, was ihm als Inquisitionsbeauftragter der Kurie nicht schwerfallen würde. Seine Aufgabe bestand darin, die Zügel in der Stadt in die Hand zu nehmen und möglichst viele Dukaten für den Heiligen Stuhl abzuschnappen, denn der Papst befand sich ständig in Geldnöten. Der Papst erwartete von ihm, dass er für ihn ein kleines Vermögen zusammenraffte. Er befand sich also so oder so auf dem sicheren Ufer, was auch immer er in Mailand anstellen würde. Niemand würde es wagen, dem Papst selbst die Stirn zu bieten, dessen Stellvertreter er in gewisser Weise in Mailand in ein paar Tagen offiziell sein würde.

    Aber zunächst musste er herausfinden, wer in Mailand das Sagen hatte und was in seiner eigenen Kirche vor sich ging. Erneut äugte er vorsichtig um die Ecke.

    Beim heiligen Thomas von Aquino, was tat der Maler da, dort, direkt vor seinen Augen?

    Der Farbenkleckser hatte gerade einen Nagel mitten in das Jesusgesicht geschlagen! War das nicht Gotteslästerung? Fra Lorenzo stierte sich förmlich die Augen aus …

    Leonardo bemerkte den Schnüffler noch immer nicht. Er zog die Seile von dem Jesusgesicht zu den Ecken des Gemäldes noch strammer. Dann blickte er nachdenklich sein Werk. Für die Gewänder einiger Apostel würde er die Farbe Blau verwenden, obwohl Blau sündhaft teuer war. Er besaß nur ein einziges kleines Töpfchen mit blauer Farbe. Blau wurde aus dem Halbedelstein Lapislazuli herstellt. Der Stein wurde zerstampft, mit Fett vermischt und durchgeknetet. Daher kostete ein winziges Töpfchen ein Vermögen, aber er konnte auf die Farbe nicht verzichten, sie musste für mindestens drei, vielleicht vier Apostel auf dem Bild dienen.

    Rot besaß er im Überfluss. Die Krapp-Wurzel wurde zu der Farbe Rot verarbeitet, aber er brauchte auch Zinnober. Für Zinnober erwärmte man Quecksilber und Schwefel. Auch an Gelb mangelte es nicht. Zudem brauchte er die Gelbfarbe, um das Rot der Krappwurzel aufzuhellen. Leonardo griff nach einem Töpfchen, in dem noch ein Rest Gelb aus Dotterblume und Eigelb zu finden war, aber die Farbe war nicht kräftig genug. Leonardo blickte sich um, entdeckte niemanden und begab sich mit dem Farbtöpfchen in eine Ecke des Saales und öffnete seinen Latz.

    Fra Lorenzo in seinem Versteck traten fast die Augen aus den Höhlen. Ein Stück seines Gewandes fiel in den Saal. Hastig riss er es zurück. Der künftige Abt trug eine weiße, gegürtete Tunika mit weißem Schulterkleid, einen schwarzen Mantel und eine tief in das Gesicht gezogenen Kapuze, die nur seine brennenden Augen freiließen, die im Moment nicht glauben konnten, was sie sahen. Aber er durfte sich nicht zu weit vorlehnen, wenn er nicht entdeckt werden wollte. Was erlaubte sich der Pinsel da?

    Leonardo zog gerade sein Schwert aus seinem Latz. Kurz darauf ließ er die wertvolle gelbe Körperflüssigkeit in das Töpfchen fließen, wo sie sich mit dem Eigelb und dem Dotterblumensaft vermischte. Er schwenkte die letzten Tröpfchen ab und blickte in die Höhe und rief leise: „Es geschieht alles nur zu deiner Ehre! Aber du hast auch die Fortpflanzung geschaffen, Brot und Speise. Die Verdauung und der Urin können also nicht böse sein!" Leonardo verstaute sein edelstes Teil wieder sorgfältig und schritt zurück zu dem Gemälde. Immerhin verfügte er jetzt über ein sattes Gelb. Dann trug er einen zarten Gelbstrich auf das Jesusgesicht auf.

    Fra Lorenzo in seinem Versteck erstarrte förmlich. Das war Gotteslästerung! Auch, wenn es sich nur um ein Gemälde handelte. Aber auf diese Weise durfte man mit dem HERRN nicht umgehen. Er würde diesen Maler zur Rechenschaft ziehen. Sollte er sofort aufstehen, seine Donnerworte auf ihn niederregnen lassen und ihn den Fängen der Inquisition übergeben? Böse Gedanken stürzten plötzlich auf ihn ein, wie wütende Regentropfen fielen sie auf ihn nieder. Er zauderte. Wenn er erst etabliert und anerkannt war, konnte er nach Belieben mit diesem Pinsel umspringen. Oder sollte er schon jetzt …?

    In diesem Augenblick hörte er ein Geräusch in einiger Entfernung, einen schlurfenden Schritt. Die Schritte eines Brudermönches? Es war nicht auszudenken, wenn er, der künftige Abt, bei einer so elenden Tat wie der Schnüffelei erwischt werden würde. Noch war er nicht offiziell eingeführt. Hilfesuchend sah sich Fra Lorenzo um, während ihn zornige Emotionen durchrasten. Da entdeckte er eine Statue des heiligen Thomas von Aquino in einer Ecke der Kammer. Rasch eilte er auf sie zu. Die Schritte des Mönches näherten sich und klangen noch lauter an sein Ohr. Auch der Maler musste sie vernommen haben. Mit einem Satz sprang Fra Lorenzo endgültig zu der Statue. Sein deformierter Fuß behinderte ihn. Aber gerade als er den heiligen Thomas fast erreicht hatte, hielt ihn sein schwarzer Mantel zurück. Er zerrte und riss an dem Mantel, aber das Tuch hatte sich in etwas verfangen, das er im Halbdunkel nicht ausmachen konnte. Die Schritte klangen noch lauter auf. Auf einmal hörte Fra Lorenzo zusätzlich Schritte aus dem Saal. „Heiliger Thomas, hilf!", knirschte er unhörbar. Ein Mönch und ein Maler waren gerade dabei, ihm auf die Schliche zu kommen. Er zog mehrmals ungeduldig in zorniger Panik an seinem Mantel, doch er erreichte nur, dass in seinem schwarzen Umhang ein großer Riss erschien.

    Die Schritte waren jetzt überlaut. Fra Lorenzo riss sich den Mantel vom Leib. Dann stürzte er, nur mit seiner weißen Tunika bekleidet, hinter die Statue, während er seinen Mantel auf dem Boden zurückließ. Nur Augenblicke später erschienen in der Kammer Leonardo und ein älterer Mönch.

    Leonardo hielt noch immer sein Gelbtöpfchen in der linken Hand. Neugierig versuchte er, den Geräuschen aus dem Nebenraum auf den Grund zu gehen.

    Bei dem Mönch handelte es sich um einen betagten Dominikaner, dem bereits einige Zähne fehlten. „Aah, der Hofmaler Ludovicos!, begrüßte er Leonardo freundlich. „Wie geht die Arbeit voran?

    Leonardo erwiderte: „Jesus Christus bereitet mir Sorgen!"

    „Wem bereitet Jesus Christus nicht Sorgen!", erwiderte der Mönch philosophisch.

    Verwundert betrachtete er den Mantel auf dem Boden, aber er konnte sich keinen Reim darauf machen. Leonardo folgte seinem Blick.

    Fra Lorenzo schwitzte indessen Blut und Wasser hinter seiner Statue. Gleichzeitig erfasste ihn ein unbändiger Zorn, weil er sich so demütigen musste.

    „Wann wird das Gemälde seiner Vollendung entgegensehen?", fragte der ältere Mönch. Seine Zahnlücken ließen ihn einen Moment lang wie ein Kind aussehen.

    „Das genau ist das Problem!, erwiderte Leonardo, während er interessiert die Zahnlücken studierte, die unter optischen Gesichtspunkten höchst bemerkenswert waren. „Das weiß nur der HERR selbst!, bequemte er sich schließlich zu einer halben Antwort.

    Sein scharfer Blick folgte jetzt dem Verlauf des Mantels, den offenbar in aller Eile jemand abgeworfen hatte. Der Mantel wies in die Richtung der Statue des heiligen Thomas. Ein Geräusch hinter der Statue ließ ihn aufmerken. Schnüffelte man ihm etwa nach in diesem Dominikanerkloster? Er trat zu der Statue und klopfte sie fachmännisch ab. Nein, sie war nicht hohl.

    „Dann wünsche ich den Segen des Herrn!", antwortete der alte Mönch. Er nickte dem Maler noch einmal freundlich zu und schlurfte davon.

    Leonardo aber betrachtete noch einmal verwundert die Statue, als erneut ein Geräusch hinter ihr hervordrang.

    Leonardo hob die Augenbrauen. Dann überzog ein jungenhaftes Grinsen sein Gesicht. Rasch hielt er sein Gelbtöpfchen in die Schräge und goss die Farbe vor der Statue aus. Daraufhin entfernte er sich laut, absichtlich mit polternden Schritten. Er kehrte zurück zu seinem Riesengemälde, dem LETZTEN ABENDMAHL. Noch einmal betrachtete er es sorgfältig. Dann beschloss er, die Arbeit für heute ruhen zu lassen. Die meisten Kunstbanausen verstanden ohnehin nicht, dass sich 99% seiner Arbeit im Kopf abspielte. Wenn die Komposition stand, war der Rest ein Kinderspiel.

    Erneut dachte er an seinen geheimen Plan, der seinen Ruhm endgültig begründen würde. Zuletzt entfernte er vorsichtig, sehr vorsichtig, zwei Junikäfer, die sich auf dem Riesengemälde niedergelassen hatten, indem er sie auf seine Hand krabbeln ließ. Auch die kleinsten Tiere besaßen ein Recht auf Leben. Die Käfer breiteten die Flügel aus und flogen davon. Aber jetzt musste er dringend in sein Atelier zurück, denn eine feine Dame hatte sich angesagt. Ihr Bild würde ihm wahrscheinlich einige zusätzliche Dukaten einbringen. Um welche Dame handelte es sich eigentlich? Einige hochgestellte Damen Mailands fanden manchmal Vergnügen darin, sich nackt malen zu lassen. Nun, er würde sich überraschen lassen. Als er schon den Griff der Kirchentür in der Hand hielt, hörte er hinter sich einen dumpfen Schlag. Aha, der Bruder Mönch, der ihn ausspioniert hatte, war offenbar auf der Gelbfarbe ausgerutscht und gehörig auf die Nase gefallen. Leonardo grinste breit. Dann zog er die Kirchentür hinter sich zu.

    MAILAND, ATELIER DA VINCI, 13. MÄRZ 1496

    Grundsätzlich galt es, bei vornehmen Damen, die unbekleidet Modell standen, Vorsicht walten zu lassen. Es war nie auszuschließen, dass es nicht einen eifersüchtigen Ehemann gab, der die vorgebliche Keuschheit seiner Dame mit einem scharf geschliffenen Dolch verteidigte. Außerdem versuchten einige Nacktmodelle manchmal, den Maler zu verführen. Immer konnte man jedoch sehr neugierig sein, welche hochgestellte Dame sich aus Gründen des Ruhmes entkleidete. Alle, alle suchten sie die Unsterblichkeit, die sein Pinsel verleihen konnte.

    Aber jetzt musste er sich sputen. Angelo, sein Malerfreund und Schüler, wartete vielleicht schon mit seinem hohen Gast. Als Leonardo sein Atelier erreichte, war er außer Atem. Rasch betrat er das Anwesen, das ihm der Landesvater Mailands, Ludovico Sforza, großzügig zur Verfügung gestellt hatte. Angelo war noch nicht eingetroffen. Er atmete auf, er hatte also nichts versäumt. Das Atelier war übersät mit Blättern und zahllosen kleinen und großen Farbtöpfen. Überall waren Pinsel und nochmals Pinsel zu sehen, große Pinsel, kleine Pinsel, Pinsel mit borstigen Haaren und Pinsel mit feinen Haaren. Der Raum selbst war mit einem Kamin bestückt, mehreren Stühlen, einem massiven Tisch, verschiedenen Staffeleien, ein paar Truhen und einem Podest, wo manchmal Musiker musizierten oder ihm gutbetuchte Mailänderinnen Modell standen. An den Wänden lehnten Bilderrahmen verschiedener Größe. Außerdem tollte in seinem Atelier ein junger Kater herum. Er liebte Katzen, er hatte die anmutigen, geheimnisvollen Tiere schon oft gezeichnet. Doch jetzt musste er sich konzentrieren.

    Leonardo trat zu einer kleinen Staffelei, worauf der Entwurf des LETZTEN ABENDMAHLES zu sehen war, eine Vorstudie; daneben lagen einige skizzenhaften Strichzeichnungen verschiedener Apostelköpfe. Vielleicht konnte er schnell noch einige Pinselstriche ausführen, bevor Angelo hereinschneite, mit der hochgestellten Dame in Schlepptau.

    Er stellte einen Spiegel schräg zu seinem Entwurf, um einen zusätzlichen perspektivischen Eindruck zu gewinnen, wodurch er einen Augenblick lang sich selbst ins Gesicht sah. Ja, eines Tages würde er ein Selbstporträt anfertigen. Einer seiner Freunde hatte geurteilt, sein Antlitz sei einem Malergehirn entsprungen, so ebenmäßig seien seine Züge. Nun, der Freund hatte nicht ganz Unrecht, die Proportionen stimmten. Er betrachtete sich weiter: Über dem scharf geschnittenen Nasenrücken thronten zwei Augen, die das Sehvermögen eines Adlers hatten und sich in diesem Moment selbst studierten. Sein Kopf ruhte auf einem kräftigen Hals. Er hatte breite Schultern, die in muskulöse Arme übergingen, was auf einem Bild immer etwas hergab. Man kolportierte über ihn, dass er mit den bloßen Fäusten ein Hufeisen geradebiegen konnte. Hmm, nur er wusste, dass das Gerücht stimmte.

    Sein Blick wanderte zurück zu dem Entwurf des ABENDMAHLES, als plötzlich ein mörderischer Schlag ertönte. Kurz darauf flog die Tür zu seinem Atelier auf. Leonardo reagierte nicht. Er spritzte im Gegenteil in aller Seelenruhe einen Pinsel aus, während wieder ein jungenhaftes Grinsen sein Gesicht überzog. Ohne sich umzudrehen sagte er schließlich: „Du bist in die falsche Tür eingetreten, mein Freund."

    „Du hast eine zweite Tür an die Außenwand gemalt!", beschwerte sich Angelo. Er blies die Wangen vor Missmut

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