In der Dunkelkammer: Frühe Prosa 1971-1982. Werkausgabe Band 2
By Klaus Merz and Markus Bundi
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In der Dunkelkammer - Klaus Merz
Merz
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Frühe Texte (1971–1979)
Die Schifffahrt
Eine Bitterkeit war da. Im Mund und im Blut. Eine Bitterkeit, die nicht mehr wegzubringen war, und die auffiel an Sonntagen.
An Sonntagen auch ist die Angst größer. Und das Schlagen der Uhren wird hörbar. An Sonntagen wird man alt.
Sonntage laufen schneller ab, und auf den Seen fahren viele Schiffe. Aber sie fahren langsam. Die Züge erwarten ihre Ankunft kaum, und die Flugzeuge flitzen über den Teich, der den Schiffen gehört. Die Dampfer lassen ihre Sirenen tönen. Die sind heiser vom Alter.
Als wir uns entschlossen hatten, mitsamt unserer Bitterkeit das Festland zu verlassen, war es Sonntag. Und wir wussten nicht, dass Dampfer langsam sind und man auf dem Wasser den Sonntag vergisst, dass es da nur Fische gibt und ein Schiff, das von den Zügen nicht erwartet wird, und es war doch schon Abend. Ein riesiger Farbfleck lag die Sonne im See. – Unsere Einsamkeiten begannen im späten Licht gegeneinander zu schlagen. Die Bitterkeit entfiel den Händen, die begannen miteinander zu spielen.
Die Dampfmaschinen standen still. Das Schiff legte an. Eine Schiebebrücke führte an Land. Wir stiegen aus. Es war ein fernes Land, obwohl es kein fernes war, und wir wurden leicht und gut füreinander.
Über dem Hügel lag rot eine halbe Sonne. Den Strand entlang schritten wir ihr entgegen und sagten, hier müssten wir bleiben, in diesem Land ohne Bitterkeit und Sonntage und Angst und sagten es oft und sehr laut – bis die Sonne untergegangen war, der Tag zu sterben begann und über dem See eine tränenlose Trauer lag. Sie kroch langsam ans Ufer. – Es war Sonntagabend. Das letzte Schiff über den See legte an. Wir stiegen ein.
Vieles spricht für einen Hut
Ich trage nie einen Hut, weil ich den Wind liebe im Haar und die Sonne. Ich hatte noch nie einen Sonnenstich und vom Regen werde man schön, rufen mir oft Leute mit Schirmen und Hüten zu, schauen dabei fast etwas neidisch unter ihren seichten Krempen hervor, während ich mit Wasser in den Ohren eben darangehe, die Anschaffung eines Hutes zu erwägen.
Vorteile sähe ich viele: Menschen mit Hüten haben nie einen nassen Kopf. Und vor allem sehen sie erwachsener aus und gereifter. Sie machen den Eindruck, mit beiden Füßen auf dem Boden, im Regen zu stehen, da ihnen der Filz über den flatternden Ohren das nötige Gewicht verleiht. Es gelingt ihnen auch, maßvoller zu grüßen. Die rund ausholende Bewegung des Hutlüftens wird zur enthüllenden Geste eines still geschaffenen Kunstwerkes: ihr mild grinsendes Gesicht. Man muss das Lächeln der Totenmaske zu Lebzeiten einüben! Doch spätestens bei diesen Überlegungen hört meist der Regen auf, und der erste trocknende Windstoß genügt, meine Erwägungen wegzublasen, mein Haar wieder fliegen zu lassen.
Seit einiger Zeit jedoch droht ein neuer, ungeahnter Faktor meinen Ernst und mein fahrlässiges Verhalten Hüten gegenüber grundlegend zu verändern. Mein zunehmender Haarausfall beginnt leise für eine Kopfbedeckung zu sprechen. Ich werde mir einen Hut kaufen müssen. Man wird nie von ihm singen hören, da ich mir mit Sicherheit keinen dreieckigen, sondern einen mehr oder weniger runden erstehen werde, dunkel, mit herabhängendem Rand, gegen Regen, gegen Schnee und Kälte, gegen die aufkommende Kahlheit, die nicht jedermann auf Anhieb schon zu sehen braucht. Aus ähnlichen Gründen auch habe ich mir vor Jahren ein größeres Badekostüm angeschafft, eines mit Trägern, nachdem sie mir den Blinddarm entfernt hatten und die rötliche Narbe bis über die Gürtellinie der alten Hose hinausreichte.
Es wird mir sehr ungewohnt vorkommen, in ein Hutgeschäft zu treten. Und ich werde den Verkäufer ärgern beim Probieren meiner Kopfbedeckung. Er wird es nicht begreifen können, dass ich seine modisch feingeformten Filze schon beim ersten Aufsetzen vor dem Spiegel nach unten rande, um zu schauen, ob der Hut demjenigen meines verstorbenen Großvaters, den ich so gut mochte, gleichkommt. Die Geschichte meines Hut tragenden Ahnen werde ich dem Verkäufer nicht erzählen; auch er wird seine modischen Tipps zurückhalten angesichts dieses herabhängenden Randes. Ich werde rasch handeln, da es mir peinlich sein wird, hinter mir den etwas schmollenden Verkäufer zu wissen und vor mir mein ohnehin ungewohntes Gesicht unter düsteren Krempen. Ich werde das erstmögliche Modell kaufen, es dem Angestellten reichen, da es mir unanständig scheinen wird, den Hut einfach auf meinem Kopf sitzen zu lassen. Mit geschickten Händen wird er den Filz vor meinen Augen in seine Urform zurückspringen lassen, mit spitzem Mund noch ein paar Stäubchen aus den Dellen blasen und ihn mit letzter Sorgfalt in die große Tüte schieben. Ich werde bezahlen und mit dem Sack etwas unsicher auf die Straße treten, hoffen, dass mir jetzt niemand begegne. Ich werde an einer Ecke stehen bleiben. Es wird mich reizen, den Hut auszupacken, auf den Kopf zu setzen und zu tun wie immer, was ich nicht wagen werde auf offener Straße, und ohne die Stellen zu kennen, auf denen das Schweißband aufliegen soll. Mich vor ein Schaufenster zu stellen oder einen Taschenspiegel zu kaufen, scheint mir zu läppisch. Doch werde ich daran denken, in ein öffentliches WC zu treten, den Hebel auf besetzt zu drehen, den Hut aufzusetzen, den Papiersack ins Closett zu werfen, zu spülen, aber die Schüssel könnte überlaufen, der Knäuel nicht weggehen. Ich habe den Leuten, die öffentliche Anlagen in Ordnung halten müssen, die Arbeit nie erschweren mögen. Ich werde den Hut nicht aufsetzen, das Papier nicht wegwerfen, es nicht in die Hosentasche stopfen. Ich werde ohne Umwege nach Hause gehen, alleine vor den Spiegel treten, etwas aufgeregt und verlegen alle Hutmöglichkeiten auf meinem Kopf durchprobieren. Ich werde versuchen, den Hut zu lüften, an Großvater zu denken, und mir wieder ein Bild von mir zu machen.
Klavierkonzert
Als wir eintraten, war noch Licht im Saal. Da und dort wurde leise gesprochen, man studierte den blauen Programmbogen oder musterte die Neueintretenden, geleitete sie mit unauffälligen Blicken an ihren Platz. Du ließest mich vorausgehen.
Bei einigen Konzertbesuchern fiel die schräge Haltung ihres Kopfes auf. Sie warteten schweigend, saßen ruhig, die Beine übereinandergeschlagen.
Der Zuschauerraum dunkelte ein. Es wurde still. Wir saßen etwas verlegen auf zwei Plätzen am Rand. Von der Seite her betrat der Pianist die Bühne. Klein und beleuchtet neigte er sich in den verhaltenen Applaus hinein. Mit einem eleganten Ruck zog er sich an den Frackenden wieder in die Senkrechte zurück, trat vor den Stuhl, setzte sich zurecht. Sein blonder, lang gewachsener Haarkranz verströmte Eigenlicht. Die schwarzen Lackschuhe tasteten nach den Pedalen. Er schob die gestärkten Manchetten hinter die blassen Knöchel zurück und hob die Hände. Sein Instrument lag weit aufgeklappt da: ein geöffneter Blauwal. Ich hörte dich neben mir atmen.
Mit leichten Fingern begann der Pianist den vor ihm liegenden Fischleib nach seinen schwächsten Stellen abzutasten. Eine Hand schwang sich über die andere hinweg, sprang zurück, tänzelte an Ort und griff dann tief in den Kadaver hinein. Er warf sich dem Tier mit gesenktem Kopf und wehenden Haaren entgegen. Die Lider geschlossen, schlug er seine lockeren Fäustchen behände in das grinsende Tastengebiss.
Er ließ seine weißen Hände, die sich zusehends zu vermehren schienen, erbarmungslos auf den schweren Leib niedersausen, arbeitete sich immer tiefer in diesen Körper hinein, wirbelte Adern und Eingeweide wahllos in den verdunkelten Saal.
Venöses vermischte sich mit Arteriellem. Gedärm hing in die luzide Stirn blasser Zuhörerinnen. Blut stockte in den sanften Wimpern verschlossener Augen. Trangeruch durchwogte den Saal.
Unbeirrt lauschte das Riesenohr im Parkett.
Aus der Standvase stieg der dunkle Ast, beugte sich gediegen über den tönenden Fischleib. Kirschblüten hingen ins finstere Maul, in die aufgespaltene Schädeldecke, den klaffenden Rumpf. Blut netzte die feinen Kronblätter, ließ sie tiefrot erscheinen im grellen Scheinwerferlicht, das den schweißtriefenden Pianisten durchsichtig machte.
Mit reagenzgläsernen Fingern trippelte er lässig über die glitschigen Rippenpartien, legte sein Haupt für Augenblicke auf das mächtige Rückgrat, trank das Mark aus den Knochen. Er bäumte sich auf und sank noch einmal tief hinein, warf mit sicherer Geste die letzten Reste in den hinhorchenden Saal:
Hautfetzen, Milz und Hoden.
Erschöpft entriss er seine Ärmel den ausgeweideten Augenhöhlen des toten Tieres. Er drehte sich seitwärts ab, dem Publikum zu und blieb so lange stehen, bis ihn der tosende Beifall von der Bühne spülte.
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Lieber Karl!
Danke für Deinen lieben und langen Brief. Ich habe ihn sicher schon zum dritten Mal gelesen heute Morgen und bin natürlich froh, dass Dich mein Brief auch ein wenig gefreut hat, wie Du sagst, will probieren, ob ich diesmal auch wieder etwas weiß für Dich. An der Ansichtskarte mit den Niagarafällen, die Du uns zwischenhinein geschickt hast, haben wir besonders Freude gehabt. Wir können es uns ja gar nicht vorstellen, was das für ein Gefühl sein muss, wenn man wirklich dort steht, wo du mit dem Kugelschreiber das Kreuzlein gemacht hast. Es kommen einem sicher fast die Tränen darob. Vater hat sogar im Lexikon nachgeschaut, was über die Fälle steht, und dann sind wir Dir auf der Karte hinter unserer Küchentür mit dem Zeigfinger nachgefahren. Es ist ja auf der Landkarte schon weit, wie muss es dann in Wirklichkeit erst sein. Du bist sicher auch müde geworden auf dieser Reise. Hoffentlich bist Du nicht noch in diesen Wirbelsturm hineingeraten, der so viel Schaden angerichtet und sogar drei Menschen das Leben gekostet hat. Am Sonntag haben sie Bilder davon gezeigt. Es muss ja schrecklich gewesen sein. Vater hat zwar gesagt, Amerika sei eben groß und Du habest wahrscheinlich nicht einmal etwas gemerkt davon. Dann sind wir ja froh!
Am Nachmittag ist Gotte Minna noch bei uns vorbeigekommen. Sie hat wieder ihre offenen Beine, aber sonst ist sie immer noch die gleiche. Wie die wieder gelacht hat, Du kennst sie ja. Aber es ist ein Glück, dass sie ein solches Gemüt hat, sonst könnte sie diese Schmerzen ja gar nicht ertragen. Unsere Mutter hat es damals ja auch gehabt. Ich weiß noch, wie ich als kleines Mädchen immer zugeschaut habe, wenn ihr die Dorfschwester die Blutegel angesetzt hat. Mutter hat die Zähne zusammengebissen, und ich bin auch immer ganz bleich geworden. Die Schwester hat das Konfiglas auf das Bett des Vaters gestellt, das ich immer vorher noch schnell gemacht habe, und hat gewartet, bis die Tiere sich vollgesogen haben und dann träg auf Mutters Unterschenkel liegen geblieben sind, der um den Knöchel herum schon ganz schwarz gewesen ist. Habe zeitlebens Angst gehabt, ich würde es auch bekommen von ihr. – Aber, was erzähle ich Dir da wieder für Zeug, das Briefschreiben geht mir wohl bald zu leicht von der Hand, doch, wenn es Dich ja wunder nimmt, was so geht bei uns, dann denke ich, weshalb noch lange überlegen, am Schluss schreibst du dann überhaupt nichts vor lauter Grübeln, und Karl versteht es ja schon, wenn du einfach von der Leber weg schreibst. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, es tue mir richtig gut, und ich sinne dann noch lange darüber nach, was ich Dir noch schreiben könnte, wenn ich den Bleistift schon vor mich hingelegt habe und wieder haushalten sollte. – Wie oft bin ich in letzter Zeit schon in den Keller gestiegen, um etwas aus unserem Abteil zu nehmen, das wir mit einem Vorhängeschloss abschließen müssen. Und wenn ich unten angekommen bin, habe ich nicht mehr gewusst, was ich habe holen wollen oder den Schlüssel nicht bei mir gehabt; nur weil ich gedacht habe, dass ich Dir unbedingt noch schreiben müsse, dass Silvia jetzt bald heiraten wird und dass wir sogar zur Hochzeit eingeladen wären. Aber was wollen wir dort, wir sind doch zu alt für solche Feste. Und dann isst man sowieso zu viel und hat es nachher auf dem Magen von dem fettigen Zeug. Sie brauchen ja für alles das gleiche Öl, deshalb liegt es dann eben schwer auf. Vater hat gesagt, er möge nicht einen Abend lang in einen Saal hineinsitzen und Maulaffen feilhalten. Und wenn man früh heimgehe, so sei es ja auch nicht recht, deshalb solle ich nur absagen, was mir ja eigentlich auch recht ist, obwohl ich Silvia im Grunde genommen gerne gesehen hätte. Sie wird eine schöne Braut abgeben mit den schwarzen Haaren und so zierlich, wie sie ist. Ihr Zukünftiger soll so gut Klavier spielen können und überhaupt so ein künstlerischer Mensch sein. Aber es wird ja trotzdem recht herauskommen mit den beiden. Wenn man sich ein bisschen Mühe gibt und den Kopf nicht immer gleich aufschlägt, ist es ja eigentlich schön, zusammen verheiratet zu sein. Ich nähme auf jeden Fall den Vater auch wieder, wenn er mich noch einmal danach fragen würde. Es ist zwar damals nicht so hoch hergegangen, als er mir den Heiratsantrag gemacht hat. Ich hab es Dir sicher auch schon erzählt, wie er ins Pfarrhaus gekommen ist, wo ich gedient habe, wie er geklopft und gesagt hat, ob ich am Abend ein bisschen an den Bach hinunter käme, er müsse mich etwas fragen. Und als ich dann fertig abgewaschen hatte und schon ein wenig aufgeregt an der Brücke ankam, hat er nur gesagt, ich könne mir ja schon denken, was er mich fragen wolle, weil er nämlich jetzt das Geschäft übernehmen könne, aber dazu sei einer allein eben zu wenig, ich könne es mir ja noch überlegen bis zum nächsten Morgen. Mit diesen Worten ließ er mich dann vor der Gartentür stehen und ging seines Wegs. Du kannst Dir ja vorstellen, dass ich nicht viel geschlafen habe in selber Nacht. Er ist halt immer ein Trockener gewesen, aber dafür herzensgut. Am nächsten Tag hat er dann schon Freude gehabt, als ich ihm gesagt habe, ich hätte es den Pfarrsleuten gesagt und müsse jetzt nur noch wissen, wann wir zusammen anfangen wollten. Es hat kein großes Fest gegeben. Die Pfarrersleute haben uns getraut und sind uns auch Zeugen gewesen. Als Ihr dann schon größer gewesen seid, haben wir ja die Reise ins Engadin noch nachgeholt. Es sind drei schöne Tage gewesen am Silvaplanersee. Aber wir sind auch wieder gerne nach Hause gekommen. Erinnerst Du Dich noch an die dreieckigen Wimpel, die wir Euch mitgebracht haben, und die Nusstorte für Minna, die wir dann gleich alle zusammen aufgegessen haben. Früher ist es halt noch oft lustig zugegangen bei uns. Überhaupt ist immer Betrieb gewesen. Aber man hat auch manches gehabt, Du weißt es ja schon noch. Dafür ist Vater wieder gesund, auf jeden Fall klagt er nie. Und das ist ja die Hauptsache. Sie haben ihn jetzt doch noch in die Krankenkasse aufgenommen, nur das Knie nehmen sie nicht, mit dem er schon seit Jahren zu tun hat. Man muss ihnen aber trotzdem dankbar sein!
Es ist ja schon halb elf! Liebe Grüße
Deine Mutter
PS Im nächsten Monat wird Vaters erster Fünftausender fällig. Er hat gemeint, wenn wir Dir etwas schicken würden davon, könntest Du vielleicht im Sommer einmal her-überkommen, was meinst Du?
Vergilbte Veloständer
Ich habe es der Reihe nach versucht. Es geht nicht. Meine Erinnerung hält sich an ihre eigenen Gesetze. Sie drängt mir zuerst den hinkenden kleinen Mann aus den oberen Stockwerken des alten Schulhauses auf. Er ist ab und zu durch meine Knabenträume gegangen, das abgegriffene Resultatbuch in der Hand. Er war nicht der Erste, der mir immer ein paar vergilbte Seiten voraus war: Ich beneidete sie darum!
Erst heute, da ich mich selber vor vergilbten Blättern zu hüten anfangen muss, weiß ich, dass Vergilbtsein eigentlich wenig mit Vorsprung zu tun hat.
Vielleicht stimmt das aber nicht, was ich eben gesagt habe. Vor allem wenn ich an unser Schulhaus mit seinem bräunlichgelben, vorspringenden Geröllhaldenverputz denke, der seit Menschengedenken jedem Kinderkopf mühelos zu widerstehen vermocht hat. Vielleicht ist Vergilbtsein halt doch eine Lebensfarbe. Und man kann die Kinder ja nicht früh genug daran gewöhnen, es nicht allzu rosig zu sehen. – Ich habe Vorsprung und Farbe des Verputzes in diesen Tagen geprüft: Er tut es noch lang! Hingegen fehlen der schwanenhalsigen Lyra im Treppengeländer hinter dem vorderen Brunnen nach wie vor die stählernen Saiten: arme Muse!
Auf der Treppe und beim Brunnen ist es mir wohl gewesen. Erst in den Gängen, hinter der schweren Tür, begann das Düstere. Das Blindgängerplakat neben dem Fundsachenkasten konnte es nie wesentlich aufhellen. Nur die hellgrün gestrichenen Aborte bildeten manchmal einen Lichtblick, den die Milchglasscheiben nicht zu trüben vermochten. Hier konnte man sich einschließen und unsichtbar machen, dass einen in späteren Jahren nicht einmal Hermanns lockende Akkordeonklänge unter dem Spülkasten hervorzuholen vermochten. Man hatte seinen Durchfall, und dabei blieb es.
Herr F. aß um neun Uhr seinen Buttergipfel. Seine zarten Hände mit den gepflegten Nagelkronen brachen die Brotfrucht gemessen auf und fuhren langsam zum Mund, ohne eine Brosame fallen zu lassen. Jeden Dienstag und Donnerstag verpasste ich nach der Französischstunde einen Teil der Pause, nur um bei seiner Morgenmahlzeremonie zugegen zu sein. Ich war ein Bewunderer dieser unerreichbaren Eleganz.
Heute will mir sogar scheinen, Herr F. habe mit seinen Gipfelszenen etwas aufrechterhalten, das während der Erziehungswirren der Sechzigerjahre eigentlich hätte aufhören müssen, gäbe es nicht immer wieder solche Fritzen. Und ich finde es gut, dass es sie gibt. Soll doch jeder seine Gipfel, Schnecken und Schrullen haben dürfen. Oft ist es ja das Einzige, was einem von ihnen in Erinnerung bleibt.
Unsere Turnlehrer kamen damals aus den oberen Stockwerken des Gemeindehauses oder aus dem Neubau zu uns herüber. Ich mochte diese Hilfslehrer, wie sie unser Rektor nannte, gut, weil sie immer ein wenig nach Handfertigkeit rochen. Und sie hatten andere Finger als die meisten Lehrer aus unserem Schulhaus, sprödere. Ich hätte ihnen, trotz aller Bewunderung für das Gepflegte, lieber die Hand gedrückt, wenn das noch Mode gewesen wäre – obwohl ich ihnen anderseits nicht gerne in die Hände geraten wäre zu Unzeiten.
Wenn ich an Hände denke, muss ich doch noch erzählen, was ich eigentlich für mich behalten wollte, weil es unbescheiden klingen könnte: Ich muss nämlich einer der ersten gewesen sein, der sich in unserem Dorf, in einem Südzimmer des altehrwürdigen Schulhauses, für die Emanzipation der Frau eingesetzt hat. Und ich habe es schwer büßen müssen, als ich unseren Lehrer darauf aufmerksam zu machen versuchte, dass er den Mädchen weniger scharfe Tatzen erteile als den Knaben. Man höre es deutlich am tieferen Ton des heruntersausenden Weidenstockes. „Komm her, Bürschchen, sagte er, „ich will dir schon zeigen, wie ich es den Mädchen gebe!
Nach mir kam Büttikofer an die Reihe, der seine Zigaretten wieder im Kirchhag versteckt hatte.
Am schönsten war das Rauchen aber im Veloständer, wenn der Regen gleichmäßig auf das halbrunde Wellblechdach fiel und die Lehrer in ihren Zimmern blieben. – Wer es allerdings bis zum Veloständer gebracht hatte, der hatte auch schon einen rechten Teil seiner unbeschwerten Jugendzeit, wie die Erwachsenen zu sagen pflegen, hinter sich. Der Veloständer gehörte dem reiferen Teil der Schülerschaft. Wenn Gefahr drohte, zog man sich hinter das Luginbühlhaus zurück und landete am Schluss in Siegenthalers Schuppen, wo gewöhnlich schon ein Grüppchen am Inhalieren war. Irgendwo musste man die Aufregung ja verrauchen lassen.
Aber der Veloständer war mehr als ein bloßes „Fumatorium". Er bot einem auch Schutz. Man war froh, einen Ort zu haben, wo man mit seinen Oberstufenproblemen unterstehen konnte. Und um den Veloständer herum war es immer ein wenig wie nach dem Präparandenunterricht im Winterhalbjahr: Man musste seinem Schatz die Hand geben, um sicher zu den Fahrrädern zurückzufinden.
Auf meinem ersten Schulfoto trage ich den grauen Pullover mit Zöpfchenmuster und eine Zahnlücke. Es muss im Winter 52/53 gewesen sein, als wir in einer aufgeregten Zweierkolonne aus dem Schulhaus ins Gemeindehaus hinüber wechselten, um im Singsaal auf Postkartengröße abgelichtet zu werden. Wir warteten gespannt vor der verschlossenen Tür auf die Schüler von Fräulein H., die vor uns an der Reihe waren. Aufatmend stellten wir fest, dass es keine Verletzten gegeben und nicht wehgetan hatte, als sie an uns vorbei zurücktrippelten. (Nachträglich erstaunt es mich übrigens doch ein wenig, dass dieser Saal tatsächlich rot gestrichen sein