Hoffnung auf ein Morgen: Familienschicksal im Sudetenland
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Die beiden Weltkriege beeinflussen nicht nur die Politik des Landes, sondern auch die persönlichen Einzelschicksale der Familie. Jedes der Familienmitglieder wird mit unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert. Neben den Schicksalsschlägen gibt es aber auch immer wieder Momente des Glücks und das Wissen, dass niemand den Familienzusammenhalt zerstören kann.
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Book preview
Hoffnung auf ein Morgen - Etta Engelmann
© 2016 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG,
Rosenheim
www.rosenheimer.com
Titelbild: © Bundesarchiv, B 145 Bild-F016200-19A (oben) und © Bundesarchiv, Bild 146-1979-084-06 (unten)
Lektorat und Satz: Dr. Helmut Neuberger, Ostermünchen
eISBN 978-3-475-54201-5 (epub)
Worum geht es im Buch?
Etta Engelmann
Hoffnung auf ein Morgen
Familienschicksal im Sudetenland
Albine, geboren 1913, ist das fünfte Kind einer Bauernfamilie, die im Sudetenland lebt. Ihr Leben ist geprägt von Arbeit und ihrer Rolle in der Großfamilie. Einer ihrer Brüder stirbt jung, ein anderer fällt im Zweiten Weltkrieg.
Die beiden Weltkriege beeinflussen nicht nur die Politik des Landes, sondern auch die persönlichen Einzelschicksale der Familie. Jedes der Familienmitglieder wird mit unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert. Neben den Schicksalsschlägen gibt es aber auch immer wieder Momente des Glücks und das Wissen, dass niemand den Familienzusammenhalt zerstören kann.
Inhalt
Kindheit
Winterliche Episode
Anna
Geburt und Taufe
Die Jahre 1913/1914
Das ertrunkene Kind
Kriegsjahre und Heimkehr
Die Jahre 1918/19
Resi
Gründonnerstag
Neue Lebensabschnitte
Sommerferien I
Sommerferien II
Schule
Lene
Die Glaser-Großmutter
Oischn
Nikolaustag
Jugend
Musik
Franzensbad
Otto
Pakete nach Prag
Die Oper in Berlin
In Prag
Weihnachten 1932
Erwin
Dr. Hirsch
Im »Reichsgau Sudetenland«
Das Münchner Abkommen
Die Ernährungsberaterin
Der Zweite Weltkrieg
Vaterlandsverteidigung
Jetta
Albine in Berlin
Resis Hochzeit
Lucien
Soldatenpferde
Familie Slapnik
Albines Fuhrgeschäft
Weihnachten 1944
Schuldentilgung
Kriegsende im Egerland
Einmarsch der Amerikaner
Ostern 1945 – weiße Armbinden
Nachkriegszeit
Zwei tote Amerikaner
Die Slapnik-Jungen
Wotan
Fünfzig Kilogramm Gepäck
Hilfe aus der Heinl-Mühle
Albine auf der Reise nach Prag
Der Schreibtisch
Die Ausreise
Epilog
Weitere E-Books im Rosenheimer Verlagshaus
Kindheit
Winterliche Episode
Der kalte Ostwind hatte den Schnee noch einmal aufgewirbelt und fegte ihn in die Egerebene hinab. Schicht für Schicht der weißen Decke schien so abgetragen zu werden, begleitet von feinen nebligen Schleiern, die die Sicht trübten und den Blick in das weite Tal verhinderten. Selbst die dunklen Braunkohlehalden und das schwarze Band des Flusses verschwammen schemenhaft hinter dem grauen Vorhang. Maria Kulm (Chlum Svaté Marí), der Wallfahrtsort jenseits der Eger auf der Höhe gelegen, mit der sonst weithin grüßenden Kirche, war an diesem Tag noch nicht ein einziges Mal durch das Schneegestöber hindurch sichtbar geworden. An klaren Tagen konnte man gegenüber die Wallfahrtskirche fast auf gleicher Höhe – sozusagen Auge in Auge – sehen. Dazwischen aber, direkt unter der Kirche lag das Egertal mit der mühsamen Kohleförderung und den ärmeren Arbeitersiedlungen um das Abraumgebiet.
Die verstreuten Höfe lagen in diesen kalten Tagen verschlafen, eingeschneit an den Hang geschmiegt. Das geschäftige Treiben, das vom Frühjahr bis weit in den Herbst hinein gewährt hatte, war zum Stillstand gekommen. Lediglich die Schläge vom Holzhacken der Knechte konnten hie und da vernommen werden oder gelegentlich auch am Morgen die Pferdeglocken, wenn die Milch in die nahe Stadt zu den Kunden gefahren wurde. Die Bewohner der Höfe gingen nun Arbeiten innerhalb ihrer Häuser nach.
Gemeinsam mit seinen zwei Knechten saß Hans, der Besitzer des Pappelhofes, im vorderen Teil des Viehstalles. Sie waren damit beschäftigt, aus Stroh Stricke für die Getreideernte zu fertigen. Die Körperwärme der 30 Kühe und vier Pferde ermöglichte den Männern diese Tätigkeit außerhalb der beheizten Wohnräume. So konnten die Knechte auch während des Winters Hausgenossen der Bauernfamilie bleiben, obwohl die Feldarbeit mindestens vier Monate ruhen musste. Die Zeit wurde für Reparaturarbeiten an den landwirtschaftlichen Gerätschaften genutzt. Besen und Körbe stellte man her; auch Stifte für die Holzrechen konnte der geschickte Hans schnitzen und so fehlende oder abgebrochene »Zähne« an Ort und Stelle einsetzen, sodass kein Unterschied zu den Originalstiften zu erkennen war.
Heute hatten sich Erwin, der Achtjährige, und Otto, der Sechsjährige, Söhne des Bauern, kleinlaut ebenfalls im Stall eingefunden. Das Schneegestöber hatte ihnen die Winterfreuden verleidet, sodass sie durchnässt und frierend in die Küche gestürmt waren, wobei sie die Tür so heftig aufgestoßen hatten, dass die Frauen, die dort mit dem Federnschleißen beschäftigt waren, einen schrillen Schrei ausgestoßen hatten, denn sie waren in diesem Moment um ihre Tagesarbeit betrogen. Der durch das rasche Öffnen der Tür verursachte Luftzug und die zusätzlich von draußen durch die von den Kindern offen gelassene Haustür hineinfegende Windböe verwandelten den Raum im selben Augenblick in eine Landschaft, die der außerhalb des Hauses nicht unähnlich war: Die in Holz- und Zinkwannen befindlichen Federn, sortiert nach unbehandelten, bereits geschleißten und Daunen, wirbelten hoch und erfüllten die Küche alsbald bis unter die Decke mit der weißen Pracht, die sich nach einer Weile sachte tänzelnd wieder senkte und Menschen wie Mobiliar oder Fußboden gleichermaßen weiß überzog. Lediglich die nackten Kiele blieben aufgrund ihrer fehlenden Federfahnen in ihren Ablageschüsseln liegen. Jede rasche Bewegung hätte das Chaos nur verschlimmert. Das hatten auch die Jungen instinktiv begriffen, und so verharrten sie, das Schauspiel bestaunend, an der inzwischen von Erwin vorsichtig geschlossenen Tür.
»Da schau, da schneit’s a!«, bemerkte Otto zu seinem Bruder, und der kleine Franz-Josef auf dem Schoß der jungen Mutter versuchte, die Federn zu erhaschen, die ihm da entgegentrieben. Er und seine Schwester Marlene schienen die Einzigen im Raum zu sein, denen der Vorfall ungeteilte Freude bereitete: Auch Lene, wie die Kleine kurz genannt wurde, griff vom Kanapee aus, wo sie bis dahin in ein Bilderbuch vertieft war, nach den heruntertrudelnden Federteilen. Die vier Frauen, die zunächst aufgeregt durcheinandergekreischt hatten, saßen nun wie erstarrt vor ihren Scheffeln und Wannen und warteten, bis alle Federn einen neuen Platz gefunden hatten. Schleißen würde man nun heute nicht mehr können, denn bis zum Einbruch der Dunkelheit hätte man mit dem Sammeln und Sortieren der wertvollen Wärmespender zu tun. Danach aber stand schon wieder die Stallarbeit an. Das Füttern der Tiere würden die Männer übernehmen, aber das Melken war Frauensache.
Erwin und Otto begannen vorsichtig und langsam, ihre nassen Hosen, Jacken und Mützen abzustreifen. Sie wurden auf dem Kachelofen zum Trocknen ausgebreitet, die nassen Strümpfe hingegen legten sie auf die angewärmten Holzscheite in der Röhre. Die Bewegungsabläufe der beiden Jungen erinnerten an Katzen, die sich ihrer Beute schleichend nähern, der Kleinere der beiden immer bestrebt, das Zeitlupentempo des Größeren zu imitieren, was ihm nur sekundenweise gelang. Damit gewann die Situation in dem Raum unvermutet etwas Komisch-Groteskes, da Optik und Akustik nicht recht zusammenpassen wollten. Indes: Körperliche Züchtigung – in dieser Zeit für Unachtsamkeiten solcher Art durchaus üblich – hatten die Buben im Augenblick nicht zu fürchten. Zum einen hätte jede Bewegung die Federn erneut aufwirbeln lassen, zum andern aber war Anna nie bereit, physische Gewalt gegen ihre Kinder anzuwenden; ihr genügte die Stimme, und auch diese erhob sie eher klagend als schimpfend. Die in der Küche ebenfalls anwesende Großmutter (sie war schon seit 13 Jahren verwitwet), gütig und nachsichtig, mochte innerlich vielleicht sogar gelächelt haben. Magd und Nachbarin verlegten sich endlich aufs Lamentieren über die vertane Arbeit des Tages.
Trotz allem – Abwarten, bis alle Federn sich auf Köpfen, Kleidung, Töpfen und Tiegeln niedergelassen hatten, war die Sache der beiden Jungen nicht. Eine kurze, stille Blickverständigung genügte: Die Tür wurde noch einmal einen Spalt geöffnet, und mit einem Griff nach den in Ofennähe aufgewärmten Pantoffeln stahlen sie sich wieder hinaus.
Vom Hausflur aus, von den Bewohnern kurz »Haus« genannt, gelangte man über eine kleine Kammer direkt in den Stall, der sich im Anschluss an den Wohntrakt unter dem gleichen Dach befand. Die Kammer diente außer zum Abstellen der Melkgeräte vor allem auch der Geruchsbindung: Der Stallgeruch erreichte auf diese Weise nie die Wohnräume.
Erwin und Otto erschienen also bei den Männern, wo sie sogleich den Spott der Knechte zu ertragen hatten, als diese die Buben in Unterkleidung und mit der Federzier auf den Köpfen gewahrten.
»Geht’s her und probiert’s lieber ein paar Stricke!«, ermunterte sie der Vater, und nach kurzer Einweisung ging den beiden das Strohstrickdrehen gut von der Hand.
Man benötigte zum Herstellen der Bänder langes Roggenstroh, das mit dem Dreschflegel geschmeidig geschlagen worden war. Daraus wurden dann die Stricke mit ein oder zwei Schlaufen gedreht, damit man sich im kommenden Jahr die für die Erntearbeit erforderlichen Garbenstricke sparen konnte.
Otto bewies beim Eindrehen des Strohs besonderes Geschick, während sein älterer ernsterer Bruder langsamer und bedächtiger als er zu Werke ging. Schließlich aber wuchs das gemeinsame Strickhäufchen ebenso wie das der Erwachsenen, sodass der Mutter nach dem abendlichen Gebet stolz darüber berichtet werden konnte.
»No ja, ist schon recht«, war ihr kurzer Kommentar. Sie beschäftigten andere Gedanken.
Anna
Seit geraumer Weile schon war ihr die Befürchtung, erneut schwanger zu sein, zur Gewissheit geworden. Sie hatte deshalb alle körperlich schweren Arbeiten übernommen, die auf dem Hof zu verrichten waren, in der Hoffnung auf einen natürlichen Abort. Die zentnerschweren Mehlsäcke, die Robert, der Großknecht, von der Mühle geholt hatte, trug sie geschultert in die Mehlkammer im ersten Stock des Wohnhauses. Die zwanzig Liter fassenden Milchkannen hob sie auf den Steirerwagen, um damit dann selbst die Kunden in der Stadt zu versorgen. Auch beim Teigkneten für die vierzig Brote ließ sie sich nicht mehr helfen. Der runde, ein Meter hohe und im Durchmesser 85 Zentimeter messende Backtrog war dabei bis zum Rand mit Hefeteig gefüllt, und der schwere Inhalt musste in gebückter Haltung kräftig mit beiden Armen durchgeknetet werden. Von dieser Kraftanstrengung hatte sie sich besonderen Erfolg versprochen. Inzwischen jedoch, nachdem alle körperlichen Belastungen nicht zur erwünschten Fehlgeburt geführt hatten, war ihr die Hoffnung darauf geschwunden, und schließlich akzeptierte sie eine weitere Geburt, die ihr irgendwann im Sommer ins Haus stand. Ein genauer Termin konnte nicht errechnet werden, da auch ihr Monatszyklus nicht entsprechend beobachtet worden war. Nun, da sich diese Situation ergeben hatte, musste sie eben bewältigt werden. Eine zu dieser Zeit zwar strafbare, aber dennoch in städtischen Kreisen häufig praktizierte Schwangerschaftsunterbrechung wäre für diese religiös geprägte Landbevölkerung nicht infrage gekommen. Anna fügte sich also in ihr Schicksal. Dem genauen Zuhörer allerdings konnte auffallen, dass die Lieder, die Anna früher oft und gerne gesungen hatte, nun manchmal mitten in der Strophe abbrachen, dass sie die fröhlichen ganz vermied und die »tragischen« hochdeutschen »Küchenlieder« wie »Mariechen saß weinend im Garten« nur mehr summte.
Anna Glaser hatte mit achtzehn Jahren den Nachbarn Hans Büchl vom Pappelhof geheiratet. Ihr Elternhaus, der Glaserhof, lag etwa fünfzig Meter entfernt auf einer kleinen Anhöhe. Zu ihm gehörte die einzige im Dorfe befindliche Kapelle, außerdem ein großer Obstgarten, beides Stolz der Familie. Die Höfe verfügten über etwa gleich große Flächen an Feld und Wald, ungefähr fünfzig Hektar, und waren damit die größten Höfe der Ortschaft. Ein Vorfahr ihrer Familien, der im 17. Jahrhundert lebte, hatte zwei Söhne und wollte diese wirtschaftlich gleich ausstatten. Deshalb ließ er neben dem ursprünglichen, dem Glaserhof, einen zweiten, den Pappelhof, errichten. Auch die Felder wurden in Realteilung vererbt. Damit hatten beide Familien fast bei allen ihren Ländereien gemeinsame Grenzen, was verständlicherweise hin und wieder zu Auseinandersetzungen führen musste. Als Bauern besaßen sie große Viehbestände, die während der gesamten warmen Jahreszeit auf den Wiesen gehütet wurden. Knechte und unverheiratete Brüder und Söhne des Hoferben, die für kaum mehr als für Unterkunft und Verpflegung mitarbeiteten, versahen diese Arbeit. Es blieb nicht aus, dass sich vereinzelte Kühe auf das Nachbargrundstück verirrten und womöglich unbemerkt vom Hirten dort weideten. Ähnliche Freiheit nahmen sich die Gänseherden, die oft unbeaufsichtigt auf Nachbars Wiesen grasten.
Durch die Heirat Annas mit dem Erben des Nachbarhofes wurden die verwandtschaftlichen Beziehungen der beiden Höfe und ihrer Bewohner wieder eng wie ehedem. Sie war als drittes Kind ihrer Eltern nicht erbberechtigt an dinglichem Vermögen – der ältere Bruder Max hatte das Anwesen übernommen –, aber die Eltern zahlten jedem scheidenden Kind eine großzügige Mitgift aus und sorgten für eine entsprechende Aussteuer. Anna, ihre ältere Schwester Amalie und die sechs Jahre jüngere Albine verließen den Hof und wurden mit je einer bedeutenden Summe Geldes und einem »Kammerwagen«, gefüllt mit Federbetten, Wäsche, Geschirr und sonstigem Hausrat, in ihr neues Heim entlassen.
Amalie, die einen Polizisten geheiratet hatte, verwendete das Geld für den Kauf eines Hauses in Elbogen. Sie benötigte manches nicht, was man den beiden anderen Töchtern mitgab – wie zum Beispiel Vieh und Ackergerät. Ihr Mann Vinzenz und sie bekamen drei Kinder, Benno, Erwin und Viktoria, die die bäuerlichen Verwandten in Babelsgrün oft und gerne besuchten.
Die Entwicklung eines jeden Kindes in einer Familie gestaltet sich stets sehr individuell, und trotz gleicher Familienverhältnisse und Erziehungsprinzipien empfindet jedes seine eigene Situation recht unterschiedlich im Vergleich zu den Geschwistern. So war es auch bei Glasers. Albine, die Jüngste, konnte sich nur schweren Herzens vom elterlichen Hof und speziell von der Mutter trennen, was ihren beiden Schwestern zuvor leichter gefallen war. Sie bedurfte der mütterlichen Fürsorge auch mehr als die anderen, da sie ein schwächliches Kind war, das oft kränkelte, dazu ein sanftes und stilles Wesen hatte und sich gegen die älteren Geschwister schlecht durchsetzen konnte. Da auch der Altersunterschied zu ihnen größer war als der zwischen den älteren Schwestern, galt die Hauptsorge der Mutter dieser jüngsten Tochter.
»Um dich sorge ich mich nicht, du kannst ja gut arbeiten«, pflegte sie zu Anna zu sagen, »aber halt mein Alwinerl, wie wird sie durchs Leben kommen?«
Albine heiratete einen Fuhrunternehmer aus einem Nachbarort, mit dem sie zwei Kinder bekam.
Anna hatte das Haus schon mit 18 Jahren verlassen. Sie war von schlanker Gestalt, blauäugig und ebenso hoch gewachsen wie ihr Ehemann. Die blonden Haare trug sie zu einem Zopf geflochten, später zum Knoten aufgesteckt. Hans war sie schon als Vierzehnjährige aufgefallen. Wie temperamentvoll sie doch die Polka tanzte oder den Zwiefachen!
»Ja, gestern, da ist der rote Rock geflogen«, tadelte der Lehrer montags dann, wenn Anna müde und unaufmerksam den Rechenoperationen im Unterricht folgen sollte.
Vom Tage ihrer Verehelichung an nahmen die ausgelassenen Vergnügungen nur noch einen geringen Platz im Leben der jungen Frau ein, denn schon bald kündigte sich das erste Kind an. Die »roten Röcke« wichen unempfindlichem Blauzeug. Der kränklichen Schwiegermutter war der große Hausstand auch zu beschwerlich geworden, sodass auf Anna die Hauptlast der Wirtschaftsführung lag. Sie erlaubte sich keinerlei Luxus mehr und lief zum Beispiel ein Dreivierteljahr barfuß, was sie am bequemsten fand.
Den letzten Versuch, die ungewollte Schwangerschaft zu unterbrechen, unternahm die junge Frau im April bei der Aussaat der Kartoffeln, dem »Erdäpfelstecken«. Dabei pflügte der Knecht mit dem von Hand geführten Pflug, dem zwei Pferde vorgespannt waren, eine Furche in die Erde, während eine zweite Person in diese alle 30 Zentimeter eine kleine Saatkartoffel legte. Anna ließ sich diese Arbeit trotz der zusätzlichen Mühen, die der bereits gerundete Leib zwangsläufig auferlegte, nicht nehmen und erschwerte sich die Tätigkeit noch damit, dass sie die Furche zuvor mit Kuhmist auffüllte, den sie sich bereits am Vortag mittels einer Gabel auf den Mistwagen geladen hatte. Normalerweise wurde solch schwere Arbeit von den Männern erledigt, wie auch das »Mistbreiten«, das gleichmäßige Verteilen des Dungs auf dem Feld im Herbst vor dem Pflügen. Die Mistgabeln hatten im Vergleich zu den Heugabeln nur die halbe Zinkenlänge, damit die aufgespießte Last bewältigt werden konnte. Zusammen mit zwei Tagelöhnerinnen, von denen jede einen Furchenabschnitt mit Kartoffeln bestückte, wurde das Feld bepflanzt. Während die Frauen schnell arbeiten mussten – schließlich sollte der Knecht nicht allzu lange warten, bis er das Saatgut zupflügen konnte – legte dieser eine kurze Pause ein, während der er seine Pfeife neu stopfte.
»No, heut geht’s ja wie der Blitz«, meinte Robert anerkennend.
»Pass du lieber auf, dass die Furchen grad werden«, antwortete man ihm und ließ sich nicht aufhalten.
Am Abend, während Anna mit der Schwiegermutter und einer Magd schon wieder beim Melken war, verkündete der Knecht dem Bauern stolz die fertige Arbeit auf dem Kartoffelfeld, und aus seinem Munde klang es so, als hätte er die Arbeit alleine erledigt.
Anna kümmerte sich um derlei bedeutungslose Wichtigtuereien wenig; Rechten, Richtigstellen von Sachverhalten, gar Rechthabereien waren ihre Sache nicht. Für sie zählte Pflichterfüllung, und zwar die ihre, nicht die der anderen.