Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Zum Fenster hinaus: Eine Nachkriegskindheit
Zum Fenster hinaus: Eine Nachkriegskindheit
Zum Fenster hinaus: Eine Nachkriegskindheit
Ebook277 pages4 hours

Zum Fenster hinaus: Eine Nachkriegskindheit

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Irene, ein elfjähriges Mädchen, wächst in der postfaschistischen Zeit der 40er Jahre
auf. Der Vater ist im Krieg verschollen. Die liebevolle, fürsorgliche Mutter
wünscht sich, dass ihre Tochter es einmal besser hat, arbeitet hart und schickt das
begabte Mädchen durch enormen Einsatz und Selbstverzicht ins Internat einer ELITESCHULE. Die Großmutter lehnt diesen BILDUNGSBLÖDSINN ab, möchte ihre
Enkeltochter später lieber als gute Ehefrau und Mutter erzogen wissen.
Im Internat werden die Mädchen mit strenger Hand geführt und geformt.
Schuluniformen und Nummern statt Namen sollen – so lautet zumindest die
offizielle Version der Schule – keine SOZIALEN UNTERSCHIEDE zulassen.
Verstöße gegen die Internatsregeln werden, ganz im Sinne des autoritären Geis -
tes des noch nachwirkenden Nationalsozialismus, mit harten Disziplinierungs -
maßnahmen geahndet. Irene leidet unter sozialer Ausgrenzung und erfährt einen
enormen Leistungsdruck. Im Tagebuchschreiben findet sie Zuflucht und skizziert
ein komplexes Porträt dieser Nachkriegsgesellschaft und der – für diese Zeit
nicht unüblichen – harschen Internatszustände, erzählt aus einer wachen kindlichen
Perspektive.
Christine Haidegger setzt sich mit ihrem Erstlingsroman Zum Fenster hinaus (Neuauflage) eingehend mit der Lebenswelt und dem vorherrschenden Zeitgeist
der Nachkriegsjahre, dem Warten auf Heimkehrer, Wiederaufbau und Verdrän -
gung auseinander. Themen, die bis heute ihre Aktualität behalten haben.
LanguageDeutsch
Release dateMar 11, 2016
ISBN9783701362394
Zum Fenster hinaus: Eine Nachkriegskindheit

Related to Zum Fenster hinaus

Related ebooks

General Fiction For You

View More

Related articles

Reviews for Zum Fenster hinaus

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Zum Fenster hinaus - Christine Haidegger

    hinaus

    Zuerst die Wörter. Zuerst PAPA.

    Das ist wichtig.

    Papa ist fort. Man muß ihn beschwören.

    Papa ist ein Gesicht auf einem Foto neben Mamas Bett. Papa wird morgens und abends geküßt. Papa ist in RUSSLAND. Noch kann ich Rußland nicht sagen. Kann es nicht denken. Aber ich höre viel davon.

    Dann OPA. Opa hat einen Schnurrbart. Opa ist groß, fühlt sich rauh an. Hat warme Hände. Ich bin gerne bei Opa.

    OMA ist ein leichteres Wort. Aber Mama besteht erst auf PAPA und OPA. – Sag Papa, Irene. Sag Opa, Irene. –

    Singsang in meinen Ohren. Laute. Mama will etwas von mir. Mama ist weich und warm. Ich bin gerne bei Mama.

    Oma riecht süß. Sie kitzelt mich. Drückt mich zu sehr. Küßt mich mit schmatzenden Lauten und gespitztem Mund. Wenn ich in ihr Gesicht fasse, schlägt sie mich auf die Hand. Sie lacht dabei. Aber es tut weh.

    Mamas Gesicht über mir. Sie hat ein Kopftuch auf, rot, weiß, schwarz kariert. Der Himmel ist blau, wenn ich den Kopf hebe. Links und rechts die Pfeiler der VERBOTENEN Eisenbahnbrücke. Zwischen den Bohlen blitzt der Fluß auf. Ich sitze in meinem Kindersportwagen, halte eine blaue Emailtasse fest. Etwas Malzkaffee schwappt noch darin. Eben saß ich noch auf meinem Stuhl. Will die Tasse nicht hergeben. Mama hat es eilig. Packt mich samt der Tasse. Sie läuft jetzt. Der Wagen schaukelt. Das ist lustig. Der Kaffee hüpft in der Tasse. Ich lache. Wir müssen noch ein Stück den Berg hinauf. Da ist der LUFTSCHUTZKELLER.

    Fast jeden Tag bringt der Briefträger Post von Papa. Mama lacht und weint zugleich. Ich muß auch oft an Papa schreiben. Mit einem Tintenstift, der dieselbe Farbe hat wie die Briefmarke mit Hitler in der Ecke. Ich kritzle, während Mama meine Hand führt. Papa freut sich über meine Karte. Papas Foto lacht. Mama weint oft nachts. Dann weine ich auch, damit sie aufhört.

    Einmal bringt ein SOLDAT einen Brief. Steht dunkel zwischen den Türen, streckt den Arm herein mit dem Brief. Mama will ihn nicht nehmen. Ich klettere vom Sofa, hole den Brief und bringe ihn ihr.

    Sie setzt sich ganz langsam aufs Sofa und macht den Brief gar nicht auf. Sie weint nur plötzlich ganz schrecklich. Der Soldat ist schon lange gegangen, die Tür ist zu, aber Mama weint immer noch. Ich will, daß sie aufhört. Mir ist unheimlich. Ich habe Angst. Ich bringe ihr das saubere Taschentuch von meinem Platz und sage – Warte nur, wenn der Papa erst kommt, wird alles wieder gut – so, wie sie das immer zu mir sagt. Mama nimmt mich in die Arme und weint noch lauter. Der Brief fällt auf den Boden und vor Angst beginne ich auch zu weinen. Aber Mama hört diesmal nicht auf. Sie lächelt nicht unter Tränen, wie sonst. Erst gegen Abend hört sie auf. Ich habe Hunger, aber ich sage nichts. Ich spiele mit Schlumpi, meiner Puppe und Opas Leiterwägelchen.

    – Aber er ist doch nur VERMISST! – sagt Oma. Mama weint schon wieder. Opa hält mich ganz fest und sein Schnurrbart zittert. Sein Herz klopft ganz schnell an meiner Wange und er drückt mich so, daß ich am liebsten weinen möchte, aber dann setzt er mich aufs Sofa und umarmt Mama.

    Vermißt ist ein neues Wort und ich höre es nun öfter. So wie ich früher ILLEGAL gehört habe, oder FRONT.

    Einmal kommen wir zu Oma und ich sehe aus dem Gangfenster. Das kann ich, wenn ich mich auf das Fenstersims stelle, obwohl es VERBOTEN ist. Da ist etwas draußen verändert. Der Konsum steht dort und daneben der kleine Garten, aber dahinter fehlt etwas. Das große graue Kinogebäude ist weg. Nur ein Riesenloch ist im Boden und schief an das Nachbarhaus gelehnt ist das runde Dach. Wie ein Teller auf dem Abtropfbrett sieht es aus. Ich bin ganz aufgeregt.

    – Wo ist das Kino, Oma? – frage ich in der Küche.

    – Das war eine BOMBE, – sagt Opa.

    Das also ist eine Bombe. Erst ein Kino, dann ein Loch im Boden und nur das übriggebliebene Dach. Bomben kommen von den AMIS. Jedenfalls aus Flugzeugen. Und Flugzeuge kommen nach dem FLIEGERALARM. Manchmal aber auch nicht. – Sie haben abgedreht, – sagt Opa dann. – Gott sei Dank. –

    Opa raucht gerne. Oma auch. Zigaretten gibt es auf Marken. Mama raucht nicht. Sie sammelt die Marken für Opa und Oma. Opa hat im Garten Mais gepflanzt. Der wird sehr hoch. Dahinter hat er ein paar Tabakpflanzen, damit niemand sie sieht. In der Omaküche wird eine Schnur gespannt, darauf werden die Blätter getrocknet. Sie sehen hübsch aus. Aber dann werden sie braun und welk. Später ist die Schnur weg und die Blätter liegen oben auf dem Ofen. Zum Trocknen. Ich darf Opa dann helfen, Tabak zu machen. Die Rippen müssen weg. Ich bin sehr fleißig und eine große Hilfe. Für Oma stopfe ich Zigaretten mit der kleinen Maschine. Das kann ich gut, wenn ich auch auf drei Kissen sitzen muß, um auf die Tischplatte zu sehen. – Geschickte Hände hat sie, – sagt Opa zu Mama.

    – Wie du. – Und Mama lächelt ein wenig.

    Radiohören ist jetzt eine Hauptbeschäftigung der Erwachsenen. Wir haben keines mehr, Mama hat es verkauft. Aber bei Opa stecken sie den ganzen Tag die Köpfe zusammen, und ich muß an der Tür stehen, falls jemand kommt. Sie hören BIBISSI, und das ist verboten. Opa hat eine Zusatzantenne gemacht, damit sie Bibissi besser hören, aber das darf niemand wissen. Opa ist sehr geschickt mit seinen Händen. Er macht immer irgendein Spielzeug für mich, und ich helfe ihm oft im Wald Wurzeln suchen und Baumrinde, für seine Krippenschnitzerei. Er macht gerade ein Haus. Das will er mir schenken, wenn ich brav bin. Es soll das Gasthaus für die Herbergssuche sein. Er macht, daß es genauso wie der Gasthof am See aussieht, sogar die Weinfässer sind da gestapelt und genauso viele Fenster und Türen, als ob es wirklich echt wäre. Aber es ist noch lange nicht fertig und wir haben viel zu tun damit.

    Mama will jetzt doch das Haus kaufen, das Papa so gut gefallen hat. Sie geht zum Rechtsanwalt und auf die Bank. Dann auf die Sparkasse. Ich muß im Vorzimmer warten. Mama sieht sehr blaß aus, als sie wiederkommt. Wir gehen nochmals zum Rechtsanwalt. Diesmal darf ich mit. Mama hält mich ganz fest. Sie gibt dem Mann einige Papiere und er seufzt und sagt, ja, das habe schon alles seine Richtigkeit, sie hätte das Geld eben auf IHREN Namen behalten sollen.

    – Aber er ist doch mein Mann – sagt Mama immer wieder. – Was mir gehört, gehört doch auch ihm. Darum habe ich doch auch das Konto auf seinen Namen gemacht, weil er doch das Familienoberhaupt ist. Und er hatte solche Freude an dem Geld. Er hat doch nie in seinem Leben Geld gehabt, hat nicht einmal gewußt, wie man einen Scheck ausfüllt, er hatte eine so kindliche Freude daran …

    – sie weint wieder, und der Rechtsanwalt schüttelt den Kopf.

    – Ja, liebe Frau, das ist nun nicht mehr zu ändern. Das Geld ist nun eben Sperrkonto, und der Staat hat seine Hand drauf. Ich kann Ihnen nur raten, jeden Tag wenigstens die paar Mark abzuheben, die man Ihnen zugesteht. Kaufen Sie irgend etwas WERTBESTÄNDIGES dafür –.

    Mama weint nicht. Sie hat ein ganz hartes Gesicht und zieht mich mit sich auf dem Heimweg, obwohl ich nicht so schnell laufen kann. Wir fahren gleich zu Opa und Oma.

    Oma hat nicht gewußt, daß Mama so viel Geld hatte. Sie heult und schreit, warum Mama nichts gesagt hat, was hätte man mit dem Geld alles tun können! Aber Opa sagt, das geht sie nichts an, nur Mama und Papa, und sie solle sich schämen. Aber Oma sagt immer nur: – Das schöne Haus, das schöne Haus! – und ist ganz unglücklich.

    Mama sagt ganz leise: – Wenn ich daran denke, wie lange ich dafür gearbeitet habe, was ich alles getan habe, in all den Jahren, und nun … – sie kann gar nicht weiterreden und ich merke, es ist etwas Schreckliches geschehen, wenn sie nicht einmal weint. Ich klettere auf ihren Schoß und sie umarmt mich, aber sie sieht mich nicht an dabei. – Was wird bloß Heinz dazu sagen! – weint Oma.

    Mama erstarrt einen Augenblick. – Wenn er nur zurückkommt, gesund oder verkrüppelt, wenn er nur zurückkommt, dann ist alles andere egal. Geld ist nicht das Wichtigste. Nur zurückkommen soll er. Dann wollen wir schon arbeiten und uns etwas Neues aufbauen, da brauchst du keine Sorge haben. –

    Aber Papa kommt nicht. Manchmal kommen Briefe von ihm und Mama hat Hoffnung, aber wenn sie dann das Datum sieht, sind sie alle alt und stammen aus der Zeit vor jenem Brief, in dem steht, daß Papa während eines wochenlang tobenden Schneesturms von einer Patrouille nicht mehr zurückgekehrt ist.

    – Dein Vater wollte nicht in diesen Krieg, er konnte kaum mit dem Gewehr umgehen. Wahrscheinlich hat er die Hände hochgehoben, als er den ersten Russen sah, denn er wollte nicht sterben, das mußt du verstehen. Er wollte hier bei uns sein und leben, mehr wollte er gar nicht. Aber man hat es ihm nicht erlaubt. Er mußte mit, wie alle anderen. Aber er war kein HELD. Und wenn er tot ist, so ist er nicht für FÜHRER VOLK UND VATERLAND gestorben, Irene. Merk dir das gut. –

    Da Papa VERMISST ist, bekommt Mama eine RENTE. Sie muß sie einmal im Monat in G. abholen, wo Papas Heimatbahnhof war. Manchmal gibt es Züge, aber oft auch nicht. Dann packt mich Mama in den Sportwagen, obwohl ich schon zu groß bin, aber 17 km kann ich noch nicht laufen.

    Einmal kommen wir an einer Kolonne KAZETTLER vorbei, die die Straße ausbauen. Sie sehen lustig aus in ihren gestreiften Anzügen. Ein paar ältere Männer sitzen am Straßenrand und haben Gewehre neben sich stehen. Die Kazettler heben die Köpfe und sehen Mama und mich an. Einer flüstert leise: – Zigaretten? – aber Mama tut so, als habe sie nichts gehört. Es wird viel geredet über diese Kazettler. Und weil diese Arbeiter gestreifte Anzüge haben, weiß ich also, daß es welche sind. Mama sagt immer, es sind arme Menschen, man müßte versuchen, ihnen zu helfen, und Opa sagt, ja, aber hier im Lager im Steinbruch geht es ihnen nicht schlecht. Im REICH soll es schlimmer zugehen. Hier müssen sie wirklich nur arbeiten, man bringt sie nicht um. Sie werden auch wenig geschlagen, und zu essen bekommen sie auch noch halbwegs gut, eben damit sie arbeiten können. Vielleicht sei es ihnen sogar lieber, als an der Front zu sein. Aber er will Mama nur beruhigen. Niemand darf in die Nähe des Kazetts kommen, niemand weiß, wie es dort wirklich ist, sagt Mama immer.

    Als wir das nächste Mal um die Rente gehen, hat Mama Zigaretten dabei. Sie gibt sie mir in die Hand, als wir die Kolonne wieder sehen, und ich soll sie auf die Erde werfen, so, lose aus der Hand, damit die Männer mit den Gewehren nichts sehen.

    Diesmal geht Mama näher an die Arbeiter heran und schiebt meinen Wagen knapp an ihnen vorbei. Die Männer riechen schlecht und sehen anders aus als andere Leute. Sie haben die Haare geschoren und einer ist barfuß, obwohl erst Frühjahr ist. Ich habe noch meinen Kaninchenfellmantel an. Einer der Gewehrmänner steht auf und Mama sagt: – Schnell! – und ich lasse die Zigaretten fallen. Einer der Männer läßt seine Schaufel fallen und bückt sich. Dabei rafft er die Zigaretten an sich. Eine hat er übersehen und ein anderer bückt sich darum. Es gibt ein Gedränge, und der Mann mit dem Gewehr kommt heran und stößt es den Männern in die Seite. Nicht sehr fest, aber sie schwanken doch. Er zwinkert Mama zu und schiebt mit dem Fuß die Zigarette, die übersehen worden ist, einem der Männer vor die Füße. Dann dreht er sich um und bewundert die Landschaft, als hätte er sie nie gesehen. Mama preßt die Lippen zusammen, und auch ich sehe wieder nach vorne auf die Straße. Es ist ein sonniger Tag.

    Einmal haben wir das Glück, uns den Rückweg ersparen zu können. Zwei Soldaten haben einen Lastwagen, der leer zurückfährt, und sie bieten auf dem Platz den Leuten, die in unsere Richtung wollen, gegen Marken oder Zigaretten eine Fahrt an. Mama tun die Füße weh und sie verhandelt mit dem Jüngeren der beiden. Ungefähr 20 Leute sollen sich in zwei Stunden also hier zur Heimfahrt treffen. Die Soldaten verschwinden im Gasthof.

    Mama fährt mich zum Seeufer und wir essen unsere Brote. Die Schwäne kommen ganz nahe heran, aber wir haben selbst zuviel Hunger, wir geben nichts ab. Später hilft ein Mann Mama, mich samt dem Sportwagen auf den Laster zu heben. Die Leute drängen sich auf den zwei Holzbänken und Mama nimmt mich endlich auf den Schoß und klappt den Wagen zu, so haben auf dem Boden noch ein paar Leute Platz. Die Soldaten sind sehr vergnügt und fahren ziemlich wild um die Ecken. Ich fürchte mich ein wenig, aber Mama ist ja da.

    Die Straße führt am See und dann am Fluß entlang. Es gibt kein Geländer, weil die Leute es gestohlen und verheizt haben, denn es waren Holzbohlen. Die Straße ist schmal. Links der Fluß und rechts die Berghänge. Die Soldaten im Führerhaus singen und passen dabei nicht auf. Das Auto schlingert wild und die Leute bekommen Angst. Sie schreien und hämmern und hämmern an das Fenster zur Fahrerkabine, aber der Fahrer dreht sich nur lachend um und fährt beinahe über die Böschung. Alle drücken sich an die Bergseite. Die Frauen schreien am lautesten.

    – Besoffen –, höre ich, – uns alle umbringen … – Mama legt mir ihr Kopftuch aufs Gesicht, warme Seide mit ihrem Geruch, damit ich nichts sehen kann und aufhöre, mich zu fürchten und zu schreien wie alle anderen. Sie betet. Der Mann neben ihr schreit ihr ins Ohr: – Wenn er bei der nächsten Steigung langsamer wird, geben Sie mir das Kind, ich springe ab. Sie kommen nach! Lieber ein paar Schrammen, als tot! Die sind stockbesoffen, die bringen uns um! – Mama zittert und sagt: – Passen Sie mir auf das Kind auf, passen Sie mir auf das Kind auf, es ist alles, was ich habe. Mein Mann ist vermißt. Bitte, passen Sie mir auf das Kind auf! – und der Mann wickelt mich in seinen Rock und Mamas Jacke, damit mir nichts passiert, wenn er aus dem fahrenden Laster springt.

    Aber die Soldaten denken nicht daran, langsamer zu fahren. Mit röhrendem Motor jagen sie die Steigung hoch, viel zu schnell, um abzuspringen ohne sich den Hals zu brechen, viel zu schnell. Mama drückt ihr Gesicht an meins, jemand stößt mich, wir rutschen über den Boden, einmal nach links, einmal nach rechts. Die Leute schreien immer lauter, jemand schlägt sich den Kopf an und blutet, das Tuch ist mir vom Gesicht gerutscht, der Himmel schwankt über mir, die Leute klammern sich aneinander, die Strecke ist voller Kurven und wir fallen herum wie Erbsen. Mama erdrückt mich fast, sie fällt über mich, ich bekomme keine Luft mehr, kann nicht atmen, kann nicht schreien.

    Der Wagen wird langsamer. Mit rutschenden Reifen hält er in der Innenstadt, hat ein Haus gerammt, aber nicht schlimm. Der Mann, der mit mir abspringen wollte, springt über die Bordwand, reißt das Fahrerhaus auf und zieht einen der Soldaten heraus, der ihn blöde anstarrt. Es ist ganz still, und dann schlägt der Mann den Soldaten zu Boden, greift nach dem zweiten, zieht ihn wie eine Schnecke aus dem Haus und ohrfeigt ihn links und rechts. Der Fahrer wehrt sich nicht, sein Gesicht ist rot, der Mann hält ihn und ohrfeigt ihn eine lange Weile, die anderen Leute steigen mit zitternden Beinen vom Lastwagen, stehen um die drei herum und sagen nichts. Der am Boden regt sich und ein Mann gibt ihm einen Tritt. – Ich habe zwei Söhne verloren – sagt der Mann drohend, und der Soldat bleibt liegen und sieht zu uns auf mit glasigen Augen. – Nun ist es aber genug, – sagt Mama. – Sie werden ihn erschlagen. – Sollte man auch, – sagt eine Frau. Die anderen nicken zustimmend. – Es ist genug, – sagt Mama nochmals. – Wir sind noch am Leben. – Der Ohrfeigenmann läßt den Soldaten los, der zu Boden sinkt und sich den Kopf hält. Plötzlich erbricht er sich. Mich ekelt hinzusehen, und ich grabe meinen Kopf in Mamas Schulter, während es mich würgt. Mama setzt mich in meinen Kinderwagen und wir gehen fort. Nach Hause.

    Jemand erzählt Mama, daß man die Kazettler freigelassen hat. Sie kämen auf der Straße daher und Mama solle sich einsperren. Man wüßte ja nicht, was denen einfiele. Bestien wären das, jawohl, Bestien! Und jahrelang keine Frauen! Schlimmer als die Russen! Und die Nachbarinnen verstecken sich im Keller, wie bei einem überraschenden Alarm. Nur hören wir diesmal keine Sirene.

    Ich mag den Keller nicht. Er ist dumpfig, und man stiehlt uns immer die Kohlen und die Karotten, weil mein Papa nicht da ist, um uns zu helfen.

    Mama sagt, sie habe keine Angst vor den Kazettlern, das seien arme Menschen, denen man Unrecht getan habe. Pssst! sagt die Nachbarin und schüttelt den Kopf. Aber Mama geht nicht in den Keller. Sie macht sogar die Wohnungstür auf, damit die Kazettler sehen, daß da keine Soldaten sind, die sie wieder einfangen, und sie macht die Kredenztüren auf, damit sie sehen, es ist kein Brot da oder sonst etwas. Sie legt die Bibel auf den Tisch und liest halblaut darin, weil sie Angst hat, ob sie das Richtige tut. Wir warten lange und es wird dunkel draußen, man sieht nicht, ob jemand vor der Türe steht.

    Aber dann hören wir es. Viele leise Schritte auf der Treppe. Jemand probiert die Klinke an der Wohnung gegenüber. Aber dort ist abgeschlossen, alle sind im Keller, und ganz leise, obwohl Herr Lenglachner eine PISTOLE mithat, damit er jeden erschießen kann, der in den Keller will.

    So kommen die Schritte an unsere Tür. Plötzlich ist die Küche voll mit Menschen und Mama zittert, das fühle ich. Aber sie steht auf und stellt sich vor den Tisch. Die Männer sind erstaunt, uns zu sehen, einer geht zum Schlafzimmer, reißt die Tür auf, andere folgen. Und immer noch kommen welche die Treppe herauf. Sie reden miteinander in einer seltsamen Sprache, die wir nicht verstehen. – Brot – sagen sie immer wieder. – Brot. – Aber Mama zeigt ihnen den leeren Kasten, sie geht und zieht alle Schubladen heraus, es ist nirgends etwas zu essen. Die Männer stinken schrecklich, es sind so viele, und sie stehen so dicht bei uns.

    Einer deutet auf die Wasserleitung und den Herd. – Wasser, bitte. Wasser. – Mama sieht auf die vielen Männer und läßt einen Eimer voll Wasser laufen, drängt sich durch diese schmutzigen, stinkenden Kazettler und stellt Wasser auf den Herd. Wir haben fast keine Kohlen mehr, aber für diese Männer heizt sie den Herd an, sogar die Petroleumlampe macht sie an, und die Männer reden schnell und unverständlich untereinander, drängen sich auf das Sofa, einer rührt mich an, zeigt auf seine Brust, zeigt auf mich, zeigt, eine Hand über den Boden haltend, daß auch er ein kleines Mädchen zu Hause hat. – Marie, – sagt er. – Marie. –

    Das Wasser ist heiß, und Mama gibt es dem Nächststehenden, zeigt auf Seife und Handtücher, denkt, sie wollen sich waschen. Aber der Mann winkt ab. Gierig drängen sich alle heran und wollen das leere warme Wasser – trinken.

    Mama nimmt es ihnen fast mit Gewalt wieder ab, stellt es zurück auf den Herd, deutet auf den Ofen, wo wir unsere Blätter und Früchte für den Tee trocknen, und sie verstehen, nicken und warten. Und Mama kocht Tee von Hagebutten, Kamille und Minze, die sie so mühsam gesammelt hat. Dann holt sie alle Becher und Tassen, die wir haben, sogar die große Geschirrkiste im Schlafzimmer macht sie auf, sie will nicht erlauben, daß diese Männer aus den Schüsseln und Eimern trinken, wie Vieh. – Bitte, – sagt Mama, während sie jedem eine Tasse oder einen Becher reicht. – Bitte. – Und die Männer sagen alle höflich – danke – als ob sie bei sich zu Hause wären und Leute wie alle anderen und keine Kazettler.

    – Hoffentlich kommen die Amis, – sagt Oma immer wieder, – und nicht die Russen. Ich habe in Wien schon Russen gekannt, im ersten Weltkrieg und danach, du bist ja auch ein halber Russ’ – sagt sie zu Opa –, aber es sind und bleiben doch UNTERMENSCHEN, bis auf die paar Gebildeten. Man weiß ja, was die mit Frauen alles anstellen! Ich vergift mich, eh ich sowas durchmach. Ich bring mich um! – Aber sie lächelt ein wenig dabei, als sei es ihr gar nicht ernst.

    – Ich habe immer auf den Kommunismus gehofft, – sagt Opa. – Aber so nicht. Nein, so nicht. –

    Du warst immer ein Träumer – sagt Oma verächtlich. – Ich hoffe jedenfalls, daß die Amis kommen. Dieser Krieg muß doch auch einmal ein Ende haben. –

    Ich freue mich schon auf die Zeit, wo der Krieg zu Ende ist. Dann kommt mein Papa wieder, dann bekommen wir eine schöne Wohnung und viel zu essen. Aber dazu müssen erst einmal die Amis oder die Russen kommen.

    Opa ist nun im Krankenhaus. Nicht im LAZARETT, wo die Soldaten liegen, die von der Front kommen, die Mama immer besucht, und nach Papa fragt, sondern im Spital. Er sieht ganz schlecht aus und redet ganz leise. Ich muß auf den kleinen Balkon gehen, wenn die Schwester kommt und ihm eine Spritze gibt. Er weint aber nicht. Er hat ganz magere Beine, ich habe ihn noch nie ausgezogen gesehen. Ich fürchte mich fast ein bißchen, weil er so verändert ist. Mama sagt, er ist ein HELD, weil er das mit der Fabrik gemacht hat, und die Leute verdanken ihm viel. Darum bekommt er auch viel Besuch und Medikamente.

    Anscheinend mögen nämlich die Amis die Kazetts überhaupt nicht, weil man dort böse zu den Leuten war und sie VERGAST hat, und jeder Ort, in dem ein Kazett war, den sprengen sie in die Luft und bringen dort alle Leute um. Und weil es nun in E. ein Kazett gegeben hat, haben die Leute alle furchtbare Angst bekommen, sie würden in die Luft gesprengt von den Amis. Dabei ist in dem Kazett gar niemand vergast worden, es sind zwar Leute gestorben, denn es gibt noch den Friedhof an der Straße, das weiß ich, aber vergast sind sie nicht worden.

    Aber es ist wegen der Fabrik. Die Fabrik hat drei hohe Schornsteine und weil da gearbeitet wird, kommt eben Rauch aus den Schornsteinen. Und da könnten die Amis denken, hier würden die Kazettler doch vergast, obwohl das Kazett ganz am Waldrand beim Steinbruch ist, aber vielleicht wissen die Amis das nicht. Die wissen nur: Kazett und sehen Rauch, und schon werden wir in die Luft gesprengt.

    Nun kann man die Schornsteine aber nur abstellen, wenn der PROZESS fertig ist. Und das dauert drei Tage. Vorher kann man da nichts tun, weil die Dämpfe innen in den Kammern furchtbar giftig sind. Und nun kommen aber die Amis schon früher, und die Kamine rauchen noch. Also hat der Fabrikdirektor Freiwillige verlangt, die da mit Gasmasken hineinsollten, den Prozeß abstellen, damit kein Rauch mehr aufsteigt. Aber es hat sich niemand gemeldet, weil alle Angst hatten, in den giftigen Dämpfen zu sterben. Und dann

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1