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Erzählungen: Prosa II
Erzählungen: Prosa II
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Ebook310 pages4 hours

Erzählungen: Prosa II

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Mit dem Band "Erzählungen" wird der 5. Band der zehnbändige Werkausgabe des Schriftstellers und Diplomaten Jiři Gruša in deutscher Sprache vorgelegt; eine tschechische Ausgabe erscheint parallel in Brno.

Außer drei kleinen frühen Erzählungen, Jugendwerken, enthält der Band alle Erzählungen, die Gruša zwischen 1965 und 2009 schrieb. Die Erzählungen werden in chronologischer Reihenfolge abgedruckt nach den Daten der Publikation, die Texte aus dem Nachlass nach dem mutmaßlichen Datum der Entstehung. So ergibt sich ein Einblick in Grušas Entwicklung als Prosaist: Da sind kafkaeske Texte, die eine entfremdete Situation bringen, einen Helden in einer Welt, deren Regeln er nicht kennt, da sind aber auch Texte, die Erinnerungen an Kindheit und Jugend fast realistisch festhalten. Die Erzählungen bieten eine Spannweite, die überrascht und erfreut.
LanguageDeutsch
PublisherWieser Verlag
Release dateApr 1, 2016
ISBN9783990470411
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    Erzählungen - Jiří Gruša

    GRUŠA • WERKAUSGABE BAND 4

    JIŘÍ GRUŠA

    WERKAUSGABE

    DEUTSCHSPRACHIGE AUSGABE

    HERAUSGEGEBEN VON HANS DIETER ZIMMERMANN

    UND DALIBOR DOBIÁŠ

    GESAMMELTE WERKE IN 10 BÄNDEN

    Jiří Gruša

    Erzählungen/Dramen

    Mit einem Vorwort von Cornelius Hell

    Die Herausgabe dieses Buches erfolgte

    mit freundlicher Unterstützung folgender Institutionen:

    Der Verlag bedankt sich überdies sehr herzlich für die Übernahme

    der Patenschaft durch Frau Ursula Albrecht und freut sich auf

    viele Leserinnen und Leser.

    Wieser Verlag GmbH

    A-9020 Klagenfurt/Celovec, 8.-Mai-Straße 12

    Tel. + 43(0)463 37036, Fax + 43(0)463 37635

    office@wieser-verlag.com

    www.wieser-verlag.com

    Copyright © dieser Ausgabe 2016 bei Wieser Verlag GmbH,

    Klagenfurt/Celovec

    Alle Rechte vorbehalten

    Lektorat: Josef G. Pichler

    ISBN 978-3-99047-041-1

    Inhalt

    Vorwort Jiří Gruša Erzähl-Spiele

    Die Leseprobe

    Verräter

    Aus dem Roman »Fragebogen«

    Identitätsfindung

    Damengambit. Il ritorno d’Ulisse in Patria

    Onkel Antons Mantel

    Salamandra

    Lebensversicherung

    Schwerer Dienst in N.

    Vögel zu Fuß

    Sanfte Landung am Dirigentenpult

    Leben in Wahrheit oder Lügen aus Liebe

    Elsa

    Bibliografie der ausgewählten Texte

    Kommentar

    Editorische Notiz

    Vorwort

    Jiří Gruša Erzähl-Spiele

    Die zwölf Erzählungen von Jiří Gruša bilden einen wichtigen Strang seines Werkes und sind durch ihre Erzähltechniken wie durch ihre Themen auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Elf davon sind in den Jahrzehnten zwischen 1965 und 1986 entstanden, einige sind in der Tschechoslowakei legal, andere im Samisdat und in Exilzeitschriften erschienen und etliche ungedruckt geblieben. Lediglich drei Texte des vorliegenden Bandes konnte man bislang auf Deutsch lesen. Und nur die letzte Erzählung ist nach dem Fall des Eisernen Vorhangs entstanden.

    »Damengambit« ist die umfangreichste dieser Erzählungen überschrieben, und man kann die titelgebende Bezeichnung für eine häufig gespielte Schacheröffnung als Signal dafür lesen, wie sehr Jiří Gruša Erzählen als kunstvolles und kalkulierten Zügen folgendes Spiel versteht. In dieser Erzählung ist vor allem die Erotik ein raffiniertes Spiel, und damit auch die Figurenkonstellation: Die Protagonisten werden wie Schachfiguren bewegt, ihre Beziehungen haben etwas von einer Versuchsanordnung. Es geht um ein Spiel, nicht um Gefühle – »seine Gefühle sind so echt, dass sie nur noch langweilen«, sagt ein Protagonist über einen anderen. Zum Spiel gehören auch die Zitate: Sätze, die sich ein Liebhaber von einem anderen ausborgt, oder Anleihen aus dem Rotkäppchen-Märchen. Dennoch ist das Spiel – das Sex-Ritual – ernst, so ernst, dass die lächerliche Wirklichkeit ausgeblendet werden muss, denn »Lachen verdirbt das Ritual«. Was natürlich auch für das Erzählen gilt.

    Das Spielfeld dieses Erzählens ist strukturiert durch Orts- und Zeitangaben. Beide sind ebenso präzise festgelegt wie systematisch verunklärt. Die Erzählungen spielen an einem ganz konkreten Ort, doch die Verkürzung des Ortsnamens auf seine Initiale wird geradezu obsessiv ausgestellt. Auch der Zeitpunkt wird immer wieder genau bestimmt, etwa durch Monatsangaben, doch die Jahreszahl wird ausgelassen. Diese systematischen Leerstellen verleihen dem genau verorteten und zu einer ganz bestimmten Zeit spielenden Geschehen eine abstrakte Modellhaftigkeit.

    Neben dem kalkulierten In- und Gegeneinander von Präzision und Leerstellen bei den Orts- und Zeitangaben abstrahieren die in die Erzählungen integrierten Textsorten von den konkreten Ereignissen: Protokolle und Briefe verfremden die erzählten Handlungen, sie werden dem Leser nur indirekt zugänglich. Ein geradezu verschrobener Protokollstil (wie ihn in der österreichischen Literatur Albert Drach in vergleichbarer Weise literarisch produktiv gemacht hat), der mehr über die Protokollierenden sagt als über ihre Objekte, zwingt die Details in eine Logik und offenbart gerade dadurch den Wahnsinn des Ganzen, des »Systems«.

    Unter den Vorfällen, die protokolliert werden, sticht der Suizid auffällig hervor. »Benda, heute ist es sieben Jahre her, dass du dich im Ambo der Cyrill-und-Method-Kirche erhängt hast«, lautet der erste Satz von »Damengambit«. Noch eine zweite Erzählung setzt den Suizid als Eröffnungssignal: Der erste Satz des Protokolls in »Die Leseprobe« (der nach einem kurzen Begleitbrief des Protokollführers zu stehen kommt) lautet: »Der Apotheker Dolus hat sich am Nachmittag des 25. Juni (nach Arbeitsschluss) bei sengender Hitze im Hinterraum der Apotheke ›Zur genauen Waage‹ erhängt.« Die umfangreichen und abschweifenden Erklärung der protokollierten Erforschung der Ursachen dieses Suizids können vor allem eines nicht wegsprechen: die Irritation der Überlebenden, die den Abgang des Apothekers als Verrat empfinden. »Wirklich, Hr. Dolus hat uns sozusagen auflaufen lassen«, konstatiert einer der Disputanten. In ähnlicher Weise wird auch Benda in »Damengambit« von einem Überlebenden angeklagt: »Špilar kletterte auf die Grabfaschine und fragte dich gleich, was du uns da angetan hast – du, Benda, ein ausgezeichneter Mitarbeiter!« Der Suizid erscheint als ein Verstoß gegen die Regeln, der aber nicht geahndet werden kann – gerade das ruft die hilflose Aggression der Überlebenden auf den Plan. Und es zeigt sich die Absurdität eines Lebens, das auf Rollen und Funktionen reduziert ist. In einem solchen Kontext eröffnet die Möglichkeit des Suizids für das Individuum einen Weg der Selbstbehauptung und wird zur wirkungsvollsten Drohung gegen die Gruppe. »Ich drohe ihnen damit, mich aufzuhängen«, sagt das namenlose Ich in dem kurzen Text »Aus dem Roman Fragebogen« – auch hier wieder als Anfangssatz ausgestellt – und bezieht seine (nicht nur) sexuelle Lust aus dem jedes Mal gleich und wie nach Regeln ablaufenden Ritual des Sich-Strangulierens.

    Mit dem Sex ist die zweite Fundamentalopposition angesprochen, in die sich Individuen in Jiří Grušas Erzählungen begeben; die Protokolle und Berichte darin fassen sie verbal quasi mit spitzen Fingern an, ohne dabei die Lust der schreibenden Voyeure ganz unterdrücken zu können. Diese Voyeure sind nur der Spezialfall jener allgegenwärtigen Beobachter, die in diesen Texten am Werk sind. Die perfekte Vivisektion dieses systematischen Beobachtens und Beobachtet-Werdens unternimmt die Erzählung »Verräter«, die in ihren Satzkaskaden erzähltechnisch perfekt jene Paranoia in Szene setzt, die sogar die normale Wahrnehmung des rapportierenden Ichs zerstört: »Aus ihrem Verhalten, sie verhalten sich so, als wäre ich da, kann ich schließen, dass ich auch da bin …«, konstatiert der Ich-Erzähler, der einer Situation ausgeliefert ist, in der jeder potenziell schuldig ist und unbedingt ein Verräter dingfest gemacht werden muss.

    Diese Erzählung spiegelt vielleicht am direktesten die Zeit, in der sie entstanden ist, und die von der kommunistischen Diktatur geprägte Gesellschaft, auf die sie als Kunstwerk reagiert, wider. Latent sind jedoch alle Geheimhaltungs-Spiele und alle vorgeführten Bürokratie-Mechanismen auf diesen realexistierenden Surrealismus bezogen – im Fokus der privaten Verhältnisse oder der halböffentlichen Sphäre eines Vereins werden die gesamtgesellschaftlichen Zustände transparent. Oder umgekehrt betrachtet: Die Strategien der Geheimhaltung und der Furor einer sich verselbständigenden Bürokratie schlagen ihre Schneisen auch in die privatesten Beziehungen.

    Die letzte der hier versammelten Erzählungen, Jahrzehnte später geschrieben, funktioniert allerdings deutlich anders. »Im Frühjahr war Genosse Stalin gestorben« – schon dieser erste Satz legt den Beginn des erzählten Geschehens klar auf das Jahr 1953 fest. Zudem spielt das Ganze in einer realen (und nicht durch Initialen unkenntlich gemachten) Topografie: »akovice, der KleË-See oder später erwähnte Orte wie Zdice, Dubina, Srch oder Severka sind auf der Landkarte zu finden. Dem entspricht, dass auch die Mechanismen und Normen der kommunistischen Gesellschaft nicht mehr in surrealistisch gefärbter Brechung gespiegelt, sondern in realistischen Details und teilweise im Prozess ihrer Entstehung vorgeführt werden: War zuvor die katholische Kirche in Gestalt des Pater Klopil Herr über die Theaterbühne und den Fußballplatz, hat ihn in der Gegenwart der Erzählung der kommunistische Staat in ein Arbeitslager verbracht und selbst eine viel totalere Kontrolle über Kunst, Sport und Gesellschaft übernommen. Liebe und Sex sind zwar auch hier ein wesentlicher Motor des Handlungsganges, werden aber vergleichsweise konventionell erzählt – nicht mehr als Spiel, sondern als Elemente des real vorgeführten Lebens.

    Mit diesen fragmentarischen Beobachtungen sind nur ein paar Grundelemente der vielfältigen und mehrdimensionalen Erzählungen von Jiří Gruša angesprochen. Und zu einer weiteren Entdeckung in diesem Band, zu seinem einzigen Drama, das in knappsten Dialogen (Suizid-Drohung und Rotkäppchen-Anspielungen auch hier) eine groteske Familienbeziehung in Szene setzt, ist noch gar nichts gesagt. Aber Jiří Grušas Texte sprechen ja für sich selbst, keine Erklärung oder Interpretation soll sich vor sie stellen und den Zugang zu ihnen okkupieren. Es geht nur um die Lust, sich auf diese komplexen Erzählspiele einzulassen und sich damit auch in ein Gesellschaftssystem involvieren zu lassen, das Vergangenheit ist, dessen Auswirkung auf individuelle Biografien und kollektive Mentalitäten jedoch bis heute reichen.

    Cornelius Hell

    Die Leseprobe

    Lieber Mitbruder,

    endlich kann ich dir das Protokoll der letzten Sitzung schicken, ergänzt (vergib mir die Dreistigkeit) um eigene Anmerkungen, Beschreibungen und Erklärungen, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben und die ich natürlich für Vereinszwecke weglasse. Wie könnte ich gegenüber einem anderen als Dir behaupten, dass alles so gewesen ist, wie ich es beschrieben habe! – Sicher, außer den angeführten Ansprachen, denn diese wurden mitstenographiert.

    Der Protokollführer

    Der Apotheker Dolus hat sich am Nachmittag des 25. Juni (nach Arbeitsschluss) bei sengender Hitze im Hinterraum der Apotheke »Zur genauen Waage« erhängt; neben dem Strang – er verwendete sehr geschickt die Gardinenschnüre beider Fenster – trug er noch eine Bastschlinge um den Hals, die auf seiner Brust ein sehr sorgfältig ausgeschnittenes Stück Pappe mit der Aufschrift: Ich bin unschuldig befestigte. Pappe und Bast gehörten zu einem Karton mit Schuhen, die sich Dolus zu diesem Zweck gekauft und das erste Mal angezogen hatte. Der Schnitt in der linken Hand des Apothekers (der zwar die Sehne freigelegt, nicht aber die Arterie durchtrennt hatte) zeugt wohl davon, dass der erfolgreichen Selbsttötung noch das Bemühen vorausging, auf eine andere, weniger aufwändige Art aus dem Leben zu scheiden.

    Die Öffentlichkeit in *** betrachtete jedoch auch jene aufwändigere Todesart als sinnlos, protzig, ja, fast provokant, trotz allem aber gab es auch Funktionäre, die Dolus’ Abgang als nicht sehr nette, gerade mitten in der Saison getimte Überraschung betrachteten. Der Mutwillen des Apothekers störte ihren Arbeitsplan auf das Gröbste, und sie hatten bisher angenommen, Dolus gehöre zu denjenigen, auf die Verlass war. Außerdem kam es zu diesem Vorfall ausgerechnet in der Zeit der Feierlichkeiten zum vierzigjährigen Bestehen der Theatergesellschaft LUTOBOR (Laienspielgruppe in ***), und gerade der Herr Apotheker war in der laufenden Amtsperiode einer der Kontrolleure der Konten, über deren Stand er der für den 28. Juni einberufenen Mitgliederversammlung berichten sollte.

    Die Direktion des Vereins LUTOBOR, die aufgrund dieses unerwarteten Umstands gezwungen war, noch zu einer vorbereitenden Sitzung zusammenzukommen, beschloss, weil sie keine andere Wahl hatte, den Bericht des Kontrolleurs wegzulassen, somit blieben von den fünf Tagesordnungspunkten noch vier in der Abfolge: Tätigkeitsbericht, Bericht des Geschäftsführers, Bericht der Revisoren (besser: der restlichen verbliebenen) und freie Vorschläge.

    »Trotzdem meine ich«, sagte Fr. Maternová, »dass wir mit dieser Notmaßnahme die wichtigste Frage unserer Besprechung nicht geklärt haben, denn laut Vereinbarung mit Hrn. Dolus war der Tag der Mitgliederversammlung gleichzeitig der Tag, an dem unser Freund versprach, das Manuskript eines Trauerspiels abzugeben, dessen Aufführung, wie wir uns geeinigt hatten, den Höhepunkt der Feierlichkeiten zum Bestehen von LUTOBOR bilden sollte.«

    Hr. Čerych: » Wirklich, Hr. Dolus hat uns sozusagen auflaufen lassen. Dabei hatte er doch so viele andere Möglichkeiten, und dann hing er, bis er anfing zu stinken.«

    »Na ja – und die Kinder aus meiner Gruppe sind schon im Stimmbruch …« (Hr. Wohanka, Lehrer und Ltr. des Kinderensembles).

    In *** hält zwar ein Schnellzug pro Tag, dann aber fährt dieser weiter als Personenzug nach ***, der gesamte Streckenabschnitt führt durch einen Kessel, der allgemein als Erholungsgebiet mit dem geringsten, sogar amtlich berechneten Prozentsatz an Niederschlägen gilt; auch so aber leben hier viele Bürger von Geburt an, was in gewisser Weise günstig ist, vor allem wenn es doch regnet.

    »Sie haben recht« (es spricht Dr. Krsek), aber der Gestank ist doch eine mehr oder weniger physiologische Gesetzmäßigkeit. Lebewesen auf einer gewissen Bedrohungsstufe … entschuldigen Sie, … machen sich nun mal ein. Auch der Samen ergießt sich. So ist das nun mal, es kommt einfach zu einem unwillkürlichen Rettungsversuch. Auch der Hase, bitteschön, weiß, dass ein Fuchs das frisst, was riecht. Und wenn er nun mal in Bedrängnis gerät, entspannen sich bei ihm die entsprechenden Muskeln … Aber das Trauerspiel sollten wir doch, vielleicht nur aus Pietät, zumindest durchblättern?«

    Fr. Maternová, die Herren Čerych, Wohanka und Krsek, hatten bisher, obwohl sie wie immer in den Vereinsräumen verhandelten, noch nicht vorgeschlagen, an der Frontseite des Hauses ein schwarzes Banner aufzuhängen, wenngleich sich dazu nun eine günstige Gelegenheit bot und das Aufhängen eines Banners eine der Formen war, in der LUTOBOR der Stadt seine Aktivitäten kundtat. Auch wenn die Gelegenheit verlockend war, siegte bei allen Anwesenden der moralische Gesichtspunkt, d. h., man war der Ansicht, das Banner würde eigentlich bedeuten, das Pompöse an Dolus’ Akt zu billigen. Dr. Krsek, der tagsüber acht Stunden lang den Hauptvereinsraum zusammen mit dem Alkoven als Praxis nutzte, machte die tagende Direktion erneut darauf aufmerksam (er sagte: »ja, die moralischen Umstände«), wobei er auch bemerkte, dass er es dankbar quittieren würde, wenn die Teilnehmer möglichst auf das Rauchen verzichteten. Fr. Maternová stimmte dem, auch wenn ihre Klimakteriumsbeschwerden eine regelmäßige Nikotindosis geradezu einforderten, ohne Einwände zu. Wahrscheinlich waren alle sehr bewegt.

    Hr. Wohanka: »Leider muss ich wieder feststellen, dass die Jungen in meiner Gruppe im Stimmbruch sind – und das ist mit der Aussicht auf eine Platzierung beim Bezirksfestival doch ein ernstes Erfolgshindernis. Letztes Jahr ist nicht dieses Jahr, und auch aus künstlerischer Sicht ist es nicht möglich, die ausgelassenen Stimmpartien durch Tanzeinlagen zu ersetzen.«

    Hr. Čerych: »Geben wir offen zu, dass auch wir unseren Anteil an dieser verflixten Sache haben. Es war einfach leichtsinnig, eine solch wichtige Aufgabe Hrn. Dolus zu übertragen. Auch in der Satzung haben wir für eine solche Betrauung keine entsprechende Grundlage gefunden, nun, und jetzt dürfen wir auslöffeln, was wir uns eingebrockt haben. Warum hat man nicht auf unser bewährtes Repertoire zurückgegriffen?«

    Dr. Krsek: »Das ist so wie mit dem Fletschern; schon fünf Jahre mache ich darauf aufmerksam, dass nicht nur für die Gesundheit als Ganzes, sondern auch für die kreative Kraft die Art der Nahrungsaufnahme entscheidend ist. Jeden Bissen muss man mindestens fünf Minuten kauen, auf der Zunge und dem Gaumen herumwälzen, damit alle Nährstoffe restlos aufgesaugt werden!«

    »Nehmen Sie nur beispielsweise, wie so ein Löwenzahn Ende Herbst stirbt (Anm. Fr. Maternová) und er das Gefühl hat, dass ihn etwas wegbläst (fuh, fuh), so ein Passus! Das kann man nachfühlen. Wirklich – warum haben wir nicht auf das bewährte Repertoire zurückgegriffen?«

    Hr. Čerych: »Nun, Hr. Dolus hat uns, wie ich gesagt habe, auflaufen lassen, die Schauspieler hätten wir, doch das Drama – das Drama fehlt!«

    Wegen der ungewöhnlichen Wohnungsnot beschränkten sich die Räumlichkeiten des LUTOBOR auf das Wartezimmer, die Praxis, den Alkoven und den Probenraum, wobei die Direktion normalerweise in der Praxis saß und nur Hr. Čerych am Ende jeder Sitzung in den Alkoven ging, um den Hektographen in Gang zu setzen, auf dem die Sitzungsprotokolle vervielfältigt wurden, um möglichst kurz den Mitgliedern mitzuteilen, was man ihnen mitteilen musste; nur der Jahresbericht erschien in Druckfassung in einem Sonderheft, auf dessen Umschlag die Losung des LUTOBOR stand:

    Hilf – bewähre dich.

    Als Hr. Čerych um Erlaubnis bat, sein Jackett ablegen zu dürfen, wurde sich die gesamte Direktion bewusst (zwar noch unklar, aber eine leise Ahnung gab es schon), dass die Sitzung wahrscheinlich weitergehen würde, und zwar über das üblicherweise hohe Maß hinaus.

    Dr. Krsek: »Ich lege der geschätzten Direktion anheim nachzudenken, ob es nicht am besten wäre, zur gründlichen Durchführung der Mitgliederversammlung nach der Tagesordnung vorzugehen. Wir hören gegenseitig unsere Erkenntnisse, d. h., wir hören uns an, wie wem nach Hrn. Dolus’ kompliziertem Versagen die Aufgabe an sich erscheint, und dann beurteilen wir, ob die uns für die Mitgliederversammlung zugeteilten Aufgaben in allem der eben eingetretenen Situation entsprechen.«

    Fr. Maternová: »Sicher. Eine solche Lösung bietet sich geradezu an. Ich würde also mit dem Bericht des Geschäftsführers beginnen, und nach den Beiträgen der Revisoren würde ich mit den freien Vorschlägen schließen.«

    (Da es keine Einwände gibt, geht die Sitzung zu Punkt eins über.)

    Bericht des Geschäftsführers

    (Einige Anmerkungen zum Bericht des Geschäftsführers für die Mitgliederversammlung – durch Dr. Krsek)

    »Ich erinnere daran, dass man von den Folgen der Tat von Hrn. Dolus ausgehen muss, denn mit diesen musste der Hr. Apotheker als gebildeter Mensch (er gehörte zusammen mit Ihnen allen zu meiner Kundschaft!) rechnen. Ich schlage deshalb vor, kurz zur Orientierung das Manuskript durchzublättern, das ich bei der Leichenschau fand, und nach der Beurteilung der Ernsthaftigkeit oder der Mängelbehaftetheit des Textes (ob dieser der Satzung widerspricht oder nicht) Maßnahmen zu ergreifen. Wie Sie selbstverständlich schon bemerkt haben, gehe ich der Sache auf den Grund und lasse den Tätigkeitsbericht unberücksichtigt … allerdings tue ich dies aus der Überzeugung heraus, dass es darin zu keinen Änderungen kommen kann, dass es sich höchstens um einige kleine stilistische Änderungen handeln wird, auf die wir uns sowieso nicht früher einigen können, ehe das ganze Verfahren gelaufen ist. Um jedoch nicht bei einem oberflächlichen Mitgefühl zu bleiben, sondern um gerecht und dabei kompromisslos vorzugehen, fühle ich mich verpflichtet, noch bevor ich Hrn. Dolus’ erhaltenes Manuskript dem geschätzten Direktorium vorlege, noch einmal die Zusammenhänge anzuführen: Es handelt sich um einen Selbstmord, d. h. um die durchdachte Zerstörung des eigenen Lebens, vollzogen im Vollbesitz der Sinne und aus freiem Willen. Ich muss niemandem von Ihnen versichern, dass solch eine Tat eigentlich sträflich ist, sowohl aus der Sicht des Vereins als auch aus der Sicht der Eigenverantwortung des Genannten, und dass wir sämtliche Anstrengungen aufwenden müssen, die sich am meisten anbiedernde Auslegung zu vermeiden, nämlich dass wir es mit böser Absicht zu tun haben, mit einer Intrige oder Betrug oder gar mit einer List. Dass sich eine solche Auslegung anbietet, davon zeugen schließlich am deutlichsten die Merkmale, die bis ins kleinste Detail denen entsprechen, die die Medizin beschreibt: – hervorgetretene Augen, Samenerguss, zu Kopfe gestiegenes Blut, eine Verletzung der Halsarterien usw. … ebenso die Defäkation, von der ich bereits sprach. Das Manuskript trägt den Titel Fürst Lutobor, es zählt in etwa achtundvierzig Seiten.«

    Unter dem Jackett von Hrn. Čerych ist ein khakifarbenes Hemd zu sehen; Hr. Čerych vergisst an sich immer irgendeinen Teil seiner Uniform (im Winter zumeist den Kapuzenschal – aber ohne Abzeichen); dies erweckt fast den Verdacht, dass er so einen hohen Grad von Stolz auf seinen Beruf zum Ausdruck bringt. In *** ist er in seinem Fach jedoch die höchstgestellte Person, denn weil sein Wachtrupp eine abgetrennte Einheit ist, trifft er nur bei Dienstreisen auf seine höhergestellten Vorgesetzten. Trotzdem bittet er darum, das Schiebefenster zu öffnen; er ist der Ansicht, auch wenn die Sonne nicht direkt brenne, so bewirke dieser vorabendliche Abglanz eine Atmosphäre, in der man nur schwer atmen könne.

    Hr. Wohanka: »Achtundvierzig Seiten sind so etwa fünfundsiebzig Minuten reine Zeit, was bedeutet, dass, auch wenn das Manuskript in groben Zügen beendet wäre, man zumindest noch einen Prolog und einen Epilog einfügen müsse, ebenso auch ein paar Lieder. Doch glauben Sie mir, auch für die Regie ist das ein harter Brocken. Höchstens – höchstens, wenn man die Vorstellung für Erwachsene mit einem Volksfest verbinden würde.«

    Dr. Krsek (nach einem Hüsteln) zog die Mappe mit dem Fürst Lutobor aus seiner Instrumententasche und legte sie auf den Praxistisch; auch Fr. Maternová empfahl, angeregt durch das Beispiel von Hrn. Čerych, alle mögen sich doch Marscherleichterung verschaffen: – schließlich kam auch noch der Kaffee gelegen. Doch ging ihm die Überzeugung voraus, dass es aufgrund der fortgeschrittenen Zeit fast angebracht sei, Licht zu machen, damit sie sich nicht die Augen verdarben; Hr. Wohanka drehte auf Anraten von Dr. Krsek den Schalter des Spiegelreflektors, der über dem Tisch hing – was er so kommentierte, wenn das Licht zu grell sei, werde man eine andere Lösung finden.

    »Wir sollten unter uns einen Vorleser wählen.«

    Dr. Krsek dankte für das Vertrauen und übernahm diese Ehrenfunktion von den Akklamanten, er versprach, alles in seinen Kräften Stehende gern zu tun, er schickte jedoch voraus, er sei in dieser Richtung keineswegs ausgebildet, somit bitte er gleichzeitig gegebenenfalls um Nachsicht oder man möge ihn austauschen, wenn die Tagenden seine Wahl als inakzeptabel betrachteten.

    »Meinen Sie denn, dass ich eventuell besser stimmlich geeignet bin? In meinen Zischlauten hat die Befehlstechnik bereits das Ihrige getan.« (Hr. Čerych)

    Es wird stiller.

    Dr. Krsek nach einer kurzen Pause:

    Fürst Lutobor

    Die öffentliche Aufführung des Werkes ohne Einwilligung des Autors (Hrn. Arnoπt Dolus, Apotheker in ***) ist nicht erlaubt.

    Eine düstere, verblasste Dekoration.

    Nachdem sich der Vorhang gehoben hat (auf diesem ist ein Volksfest nach einer erfolgreichen Ernte abgebildet), sitzt ein Arzt am Praxistisch. Auf dem Tisch ist eine geöffnete Arzttasche zu sehen, aus der eine Spritze a tire-tête hervorragt. Über der Tür hinter dem Rücken des Arztes eine Aufschrift – Hilf, bewähre dich. Entlang der Fenster eine andere Aufschrift, die jemanden aufruft, zusammen mit jemandem ständig irgendwohin zu gehen. Eine Mutter im Klimakterium – eine Zwergin – sitzt in der Nähe des Tisches und durchsticht sorgfältig und mechanisch ihren Dutt mit einer Haarnadel. Von den übrigen Requisiten sind lediglich ein mit gewachstem Leinentuch bezogenes Kanapee, das in Reichweite des Praxistisches steht, ein Arzneischrank und darüber ein Bild, eine mehr als ungeschickte, amateurhafte Kopie von Rembrandts »Die Anatomie des Dr. Tulp« genauer zu sehen. Der Kapitän (auf dem Kanapee) legt das Jackett ab, darunter kommt ein khakifarbenes Hemd zum Vorschein. Der Lehrer (auf einem Drehstuhl) wirkt zerknirscht. Wenn man Bilder aufhängt, so müssen diese nicht unbedingt etwas abbilden, sie müssen jedoch »wie lebendig« wirken. Alle

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