Am Ende des Regenbogens: Erzählung
By Rainer Gross
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Rainer Gross
Rainer Gross, Jahrgang 1962, geboren in Reutlingen. Studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Lebt mit seiner Frau als freier Schriftsteller seit 2014 wieder in Reutlingen. Bisher veröffentlicht: Grafeneck (Pendragon 2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (Pendragon 2008); Kettenacker (Pendragon 2011); Kelterblut (Europa 2012). Bei BoD u.a. erschienen: Die Welt meiner Schwestern (2014); Yûomo (2014); Haus der Stille (2014); Schrödin-gers Kätzchen (2015); Haut (2015); My sweet Lord (2016); Holiday (2016); Am Ende des Regenbogens (2016); Scheherazade (2017); Die sechzigste Ansicht des Berges Fuji (2017); Der Sommer der Glühwürmchen (2017); In der fernen Stadt (2017).
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Am Ende des Regenbogens - Rainer Gross
CHENEY
Die Dominosteine purzeln durcheinander. Die im Kopf. Einer reißt den andern mit. Das ganze Gerüst aus Wörtern, Gefühlen, Bildern, aus Erinnerungen und Bedeutungen bricht zusammen. Leere im Kopf, ein Knäuel im Bauch. Wut, Tränen vor unterdrückter Wut. Du weißt, dass das immer wieder geschieht. Du kannst nichts dagegen tun.
Nur deine Stiefel anziehen, die bunten Regenbogenstiefel, und deine Jacke, sonnengelb und glänzend mit roten Knöpfen, die knattert und flattert, und hinaus in den Regen treten, in die Frische und Feuchte. Du gehst durch die Straßen und hast keinen Namen mehr. Am Hafen unten saugt es dich in die verhangene Ferne über dem Fluss, zwischen Möwen und Containerschiffen.
Du wirst traurig. Dann wütend, auf eine sanfte Art, mehr nach innen. Besser wütend als traurig, denkst du und weißt nicht, woher du diesen Satz hast. Manchmal bestehst du nur aus Sätzen fremder Leute. Dann spürst du eine Luftigkeit in deinen Lungen, die dich ballonhaft über die Stadt treibt. Bald spürst du nichts mehr.
Nur das Skalpell kannst du noch spüren, das Einmalskalpell, das du in der Apotheke gekauft hast, auf deiner Haut. Sacht ritzt du ein, bis es rot wird und tropft. Ein fernes Weh, dumpf und wattig. Es tut nicht weh, das Weh. Es erleichtert. Ich bin nicht ganz bei mir, denkst du, während dein Arm die Stigmata zeigt, stille Muster aus Verzweiflung. Aber das willst du sein: bei dir.
Die Regenbogenstiefel sind aus Gummi, Naturkautschuk mit verstellbarer Wadenweite. Du könntest sie also enger machen, aber du magst es, wenn der Schaft um deine Waden flabbelt. Die Stiefel haben grobe Sohlen in Rot und einen Gummistreifen über die Sohlennaht geklebt in Blau mit einer Linie in Flieder. Die Farben der Regenbogenstreifen wiederholen sich: Flieder, Blau, Hellblau, Grasgrün, Gelb, Rot, Orange, Violett und dann von Neuem. Dreimal. Ein geringelter Stiefel. Mit einem aufgeklebten Schild, das das Label des Herstellers trägt. Sie kommen aus England.
Du nimmst sie zur Hand, das saubere Paar, nebeneinander wirken sie wie Geschwister, denen du vertraust. Du schlüpfst hinein, erst in den einen, dann in den anderen. Du brauchst keine dicke Socken, es ist warm geworden, jetzt im Frühsommer. Du krümmst und streckst die Zehen, prüfst mit dem Spann und der Ferse das Spiel unten im Hohlraum, spürst den Schaft an deinen Waden und wie der Saum sich bewegt mit den ersten Schritten.
Gummistiefel hast du schon als Kind geliebt. Damit warst du sicher vor allem, gewappnet gegen alles, was kommen mochte: Pfützen, tiefe Bäche, Schlamm, feuchter Sand, Brennnesseln, Kuhfladen, Wespen, die am Fallobst fraßen. Du bist auf dem Land groß geworden, in der Holsteinischen Schweiz. In einer kleinen Stadt. Nicht dass deine Eltern Bauern gewesen wären; aber Oma und Opa waren es, jetzt im Ruhestand, ein paar Tiere hatten sie noch und selbst vor den pickenden Hühnerschnäbeln schützten dich deine Stiefel.
Vielleicht hast du da auch deinen ersten Regenbogen gesehen. Er war nicht so schön bunt wie im Fernsehen. Er war blass und seltsam verdoppelt, und die dunkle Wolkenwand dahinter sah drohend aus. Opa erklärte dir, dass die Sonne auf den fallenden Regen scheinen muss, damit es einen Regenbogen gibt, aber dir war das egal. Im Physikunterricht hast du vom Prisma gehört und von Newton, aber das war dir auch egal.
Erst später, mit sechzehn, fandest du das Wort dafür: Freiheit.
Mit Vater hast du nie über so etwas geredet. Du hast ihn in der Ruhe gelassen, in der er gelassen werden wollte. Oft kamst du zu ihm und wolltest auf seinen Schoß. Er war stumm und verlegen. Er hatte keine Zeit für dich. Früher hatte er mit dir geliebelt und gescherzt, du hast dich an seinen behaarten Armen festgehalten. Dann nicht mehr. Du wusstest nicht warum. Manchmal schloss er das Schreibzimmer ab, in dem er nach Feierabend arbeitete. Mutter erklärte dir dann, dass es ihm nicht gut gehe und er Ruhe brauche. Du hast ihn geliebt, aber ob er dich liebte, weißt du nicht.
Bis heute nicht.
„Wie heißt du?"
„Jule."
„Welches Sternzeichen hast du?"
„Ich halte nichts von Sternzeichen."
„Bist du gebürtige oder geborene Hamburgerin?"
„Was ist das für eine Frage? Ich bin Hamburgerin."
„Du bist also nach Hamburg zugezogen. Wann war das?"
„Als ich elf war."
„Wo bist du geboren?"
„Auf dem platten Land. Mehr sag ich nicht."
„Und wie alt bist du?"
„Ist das wichtig für dich?"
„Du kannst nachher fragen. Jetzt bin ich dran. Drei Minuten. Also: Wie alt bist du?"
„Bald vierzig. Und du?"
„Einunddreißig."
„Und?"
„Nichts und. Was arbeitest du?"
„Ich bin Praxishelferin bei einem Augenarzt."
„Was ist deine Lieblingsfarbe?"
„Bunt. Wie der Regenbogen."
Du bist hingegangen aus Spaß. Um es einmal auszuprobieren. Ein ganz schöner Stress, deshalb heißt es Speed Dating. Zehn Männern hintereinander gegenüber sitzen, in drei Minuten Fragen stellen, um sich ein Bild zu machen, hinterher haben dir drei ihre Adresszettel in den Kasten geworfen. Du hast deine Adresse niemandem gegeben.
Nie wieder, hast du dir geschworen.
Du hast eine Lieblingsdecke. Einen Quilt, den deine Oma genäht hat. Eine Flickendecke, mit Spitze eingesäumt, lauter Quadrate aus Leinen, Baumwolle, Seide, Wolle, mit Blumen, Punkten, Streifen, Paisleymuster, eine bunte Decke, natürlich. Eine, die Heimeligkeit und Sicherheit vermittelt, schon als Kind.
Du hast dich manchmal aufs Bett gesetzt und die Decke über dich gezogen, über den Kopf, sodass dich niemand mehr finden konnte. Ein Versteck. Ein Platz, wo du allein sein kannst, unsichtbar, wo nichts mehr dich erreichen kann. Du hast gekichert und gesungen, dir die Ohren zugehalten, gebetet, mit deinen Fingern gespielt im Zwielicht unter der Decke. Du hast die dumpfe Luft gespürt, die allmählich entstand, du hast sie gern geatmet, sie hat dich ruhig gemacht. Es war warm unter der Decke und dämmrig. Manchmal hast du das gebraucht.
Wenn Vater dich nicht angehört hat. Wenn du nicht mit ihm sprechen duftest. Wenn er auf dem Sofa saß und vor sich hin grübelte, unantastbar. Wenn die Eltern sich stritten, über jenen Mann damals, mit dem Mutter sich eingelassen hat, der Mann war dir egal, Vaters Kränkung und Wut auch, warum und worüber sie streiten, ist dir egal – du hast nur eines verstanden: Sie sind sich wichtiger als du.
Wenn du schon ausgeschlossen bist, wenn schon dein Zuhause kein Heim mehr war, dann wolltest du das richtig machen. Ausgeschlossen. Zurückgezogen. Aus der Welt. Daheim sein bei dir selbst. Oder bei Gott, wenn du unter der Decke mit ihm gesprochen hast, ihm alles erzählt, was dir weh tut und dich traurig macht.
Das hat geholfen.
Den Quilt hast du noch. Mitgenommen beim Umzug. Mitgenommen, als du dir eine eigene Wohnung gesucht hast. Es wundert dich nicht, dass du das heute noch tust: unter der Decke sitzen.
Du tust es, wenn dir alles zuviel wird. Wenn sich die Lage nicht mehr überblicken