Zuwanderer in Betreuungs- und Unterbringungsverfahren: Leitfaden für die gerichtliche und behördliche Praxis
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Ziel des Verfahrens sollte sein, trotz kultureller Unterschiede und eventueller kommunikativer Hürden die bestmögliche Lösung für den Betroffenen zu finden und dabei das von der Herkunftskultur geprägte Wertesystem des Zuwanderers zu berücksichtigen.
Interkulturelle Kommunikation
Im Betreuungsverfahren spielt die Anhörung des Betroffenen und die Kommunikation mit dem Betroffenen und dessen Angehörigen eine zentrale Rolle. Im Fokus des Leitfadens stehen daher Fragen interkultureller Kommunikation. Der Autor gibt Anregungen, wie typische, aus unterschiedlichen Kommunikationsweisen und Wertesystemen resultierende Missverständnisse vermieden werden können.
Dabei werden alle die Kommunikationssituation prägenden Aspekte beleuchtet, z.B. Ort und Zeit der Anhörung, Ablauf der Anhörung, Erklärung der Situation für die Beteiligten, Verdeutlichung der Position des Richters oder des Behördenvertreters, sowie Fragen der zweckmäßigen Auswahl und Einbeziehung von Dolmetschern.
Erörtert werden aber auch Fehlerquellen in ärztlichen Gutachten aufgrund mangelnder Berücksichtigung interkultureller Faktoren.
Ergänzende Themen
Daneben widmet sich der Leitfaden materiellrechtlichen Fragen des internationalen Betreuungsrechts und des Anspruchs auf konsularischen Schutz. Ein eigenes Kapitel beschäftigt sich mit dem rechtlichen und praktischen Umgang mit irregulären Zuwanderern in Unterbringungs- oder Betreuungsverfahren.
Schließlich erläutert der Autor typische Schwierigkeiten bei häufigen Krankheitsbildern und gibt einen Überblick über Besonderheiten im Umgang mit Betroffenen bestimmter Herkunftsländer.
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Book preview
Zuwanderer in Betreuungs- und Unterbringungsverfahren - Christian Dornis
Zuwanderer in Betreuungs- und Unterbringungsverfahren
Leitfaden für die gerichtliche und behördliche Praxis
Dr. Christian Dornis
Richter am Amtsgericht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek | Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Print ISBN 978-3-415-05632-9
E-ISBN 978-3-415-05683-1
© 2016 Richard Boorberg Verlag
E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Titelfoto: © RBV/AGphotographer – Fotolia
Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG | Scharrstraße 2 | 70563 Stuttgart
Stuttgart | München | Hannover | Berlin | Weimar | Dresden
www.boorberg.de
Vorwort
„Das Interessante liegt im Zwischen … zwischen den Worten, zwischen den Menschen, zwischen den Kulturen."
(Yoko Tawada, zit. nach einer Werbekarte des interkulturellen Festivals „eigenarten" Hamburg)
Die Idee zu diesem Buch entwickelte sich in meiner täglichen Arbeit als Betreungs- und Unterbringungsrichter.
Immer wieder entstehen in der Arbeit als Betreuungsrichter oder -rechtspfleger, als Vertreter der Betreuungsbehörde, aber auch als Verfahrenspfleger oder Betreuer besondere Herausforderungen beim Umgang mit Zuwanderern. Diese Besonderheiten werden deshalb relevant, weil es in Betreuungs- und Unterbringungsverfahren nicht nur um die juristisch richtige Entscheidung geht, sondern Gericht, Betroffene, Betreuungsbehörde und evtl. Sozialarbeiter, Angehörige und Ärzte oft gemeinsam an der besten Lösung für den Betroffenen arbeiten müssen. Hier kann es um existenzielle Dinge gehen, wie die Vermeidung von Fixierung, die Frage eines Umzugs in ein Heim, die Frage, wie viel Geld der Betroffene zur freien Verfügung haben darf u.v. a.
Die Arbeit an der für den Betroffenen besten Lösung setzt eine vertrauensvolle Zusammenarbeit des Gerichts und der Betreuungsbehörde mit dem Betroffenen und dessen Angehörigen voraus. Dies ist bei Zuwanderern nicht selbstverständlich, sondern es gibt oft eine große Hemmschwelle, Vertrauen zu dem deutschen Gericht als Institution oder dem Richter/der Richterin als Person aufzubauen. Ursache hierfür können Sprachprobleme, kulturell bedingte Missverständnisse, ein grundsätzliches Unverständnis des gerichtlichen Verfahrens oder auch als unangenehm erlebte Erfahrungen mit den Behörden in Deutschland oder in den Herkunftsländern sein. Besondere Schwierigkeiten ergeben sich bei traumatisierten Zuwanderern.
Beispielhaft treten folgende Schwierigkeiten auf:
ein Unverständnis des Betreuungs- oder Unterbringungsverfahrens: Die verschiedenen Rollen der Beteiligten im Verfahren können nicht richtig eingeordnet werden. Der Wert, der der Selbstbestimmung beigemessen wird, wird nicht verstanden.
ein generalisiertes Misstrauen oder (im Gegenteil) überhöhte Erwartungen an den Richter
Überempfindlichkeit aufgrund von Diskriminierungserfahrungen, Rückzugstendenz, Angespanntheit
Fehldeutungen von kulturell bedingtem Verhalten durch Ärzte oder Gericht
Dieses Buch versucht, zusammenhängend die typischen Probleme im Umgang mit Zuwanderern zu beschreiben und Lösungen aufzuzeigen. Das Buch ist primär aus der praktischen Erfahrung heraus geschrieben und erhebt keinen wissenschaftlichen Anspruch. Auch die zitierte Literatur begreift sich deshalb als Auswahl. Ein stark praxisbezogener Ansatz bedingt zudem zwangsläufig, dass der Praktiker vieles als selbstverständlich oder als banal wahrnehmen wird.
Letztendlich muss jeder Praktiker seinen eigenen Weg des Umgangs mit Zuwanderern finden. Oft hilft es schon, sich Besonderheiten und spezielle Problemlagen klarzumachen. Wenn dieses Buch dazu beiträgt, für die Herausforderungen im Umgang mit Zuwanderern in Betreuungsverfahren zu sensibilisieren und Anregungen für einen sinnvollen Umgang mit Betroffenen mit Migrationshintergrund zu geben, dann hat es seinen Zweck schon erfüllt.
Auch deshalb ist das Buch bewusst kurz gehalten mit hinweisen auf leicht zugängliche weiterführende Literatur. Meine Empfehlung ist: Lesen Sie es „in einem Rutsch durch, nehmen Sie für sich die Anregungen mit, die sie für nützlich halten. Wo sie mehr lesen wollen, folgen Sie den Literaturhinweisen und vergessen Sie den „überflüssigen Rest
☺.
Dieses Buch kann aber nur die speziellen Herausforderungen abbilden, die im gerichtlichen oder behördlichen Verfahren entstehen. Tipps für die interkulturelle Betreuungsarbeit sind hier nicht zu finden.
Über jegliches Feedback, kritischer oder zustimmender Art oder über weitere inhaltliche Anregungen würde sich der Autor freuen.
Itzehoe, den 28. 9.2015
Christian Dornis
christian@dornis.de
Inhalt
Vorwort
1. Überblick: Zuwanderer in der betreuungsgerichtlichen Praxis
1.1 Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Deutschland
1.2 Zuwanderung und ihre psychischen Folgen
1.3 Zuwanderer in der betreuungsgerichtlichen Praxis
1.4 Die Folge: Notwendigkeit interkultureller Kompetenz bei den Akteuren des Betreuungsverfahrens
2. Grundprobleme interkultureller Kommunikation im betreuungsgerichtlichen Verfahren
2.1 Kulturabhängigkeit menschlicher Kommunikation
2.2 Interkulturelle Kommunikation
2.3 Vorurteile und eigene Kulturgeprägtheit der Interpretation
2.4 Kulturstandards
2.5 Zuwanderermilieus, Transkulturalität und Wertestruktur
2.6 Kollektive und individuelle Ohnmachtserfahrungen
2.7 Typische Missverständnisse in Situationen interkultureller Kommunikation
2.8 Männer und Frauen
2.9 Der Wert der Selbstbestimmung
2.10 Sprachkenntnisse bei Zuwanderern
2.11 Der Dolmetscher als Werkzeug und Akteur im Verfahren
2.12 Kleidung
2.13 Das Verständnis der Situation
2.14 Die Rollen der Beteiligten und deren Rollenwahrnehmung
2.15 Die wörtliche Übersetzung von Redewendungen
2.16 Aspekte interkultureller Kompetenz
3. Das betreuungsgerichtliche Verfahren
3.1 Zentrales Anliegen: Wahrung der Menschenrechte der Betroffenen
3.2 Übersicht über die verschiedenen gerichtlichen Verfahren im Bereich des Betreuungs- und Unterbringungsrechts
3.3 Die Rolle der Betreuungsbehörde
3.4 Die wichtigste Verfahrenshandlung: die persönliche Anhörung des Betroffenen
3.5 Das interkulturelle ärztliche Gutachten
3.6 Das Verfahren zur Einrichtung der Betreuung
3.7 Verfahren über Unterbringung und freiheitsentziehende Maßnahmen
3.8 Die Zwangsbehandlung
3.9 Eilverfahren
4. Der Anspruch auf konsularischen Schutz
4.1 Informations- und Belehrungspflicht in Freiheitsentziehungsverfahren
4.2 Informationspflicht in Betreuungsverfahren
4.3 Die Behandlung von Doppelstaatsangehörigen
5. Internationales Betreuungsrecht
5.1 Das anwendbare materielle Recht
5.2 Die gegenseitige Anerkennung von Betreuungsentscheidungen
5.3 Im Ausland errichtete Vorsorgevollmachten
6. Besondere Problemlagen bei ausgewählten Krankheitsbildern
6.1 Scheinerkrankungen
6.2 Demenz
6.3 Depression
6.4 Trauma
6.5 Anpassungsstörungen
6.6 Schizophrenie und andere Wahnerkrankungen
6.7 Suchterkrankungen
7. Undokumentierte Zuwanderer
7.1 Bedeutung und Besonderheiten
7.2 Das Betreuungsgericht und § 87 Abs. 2 AufenthG
8. Die großen Zuwanderergruppen und ihre Besonderheiten
8.1 Türken und Kurden
8.2 Zuwanderer aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa
8.3 West- und Südeuropäer
8.4 Zuwanderer aus dem arabischen Raum
8.5 Zuwanderer aus dem Iran, Afghanistan und Pakistan
8.6 Ost- und südostasiatische Zuwanderer
8.7 Menschen afrikanischer Herkunft
8.8 Andere Gruppen
9. Fazit: Zusammenfassende Verhaltensempfehlungen für die Anhörungssituation
Literaturverzeichnis
Der Autor
Danksagung
Stichwortverzeichnis
1.
Überblick: Zuwanderer in der betreuungsgerichtlichen Praxis
1.1 Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Deutschland
Weiterführende Literatur:
Meier-Braun, Karl Heinz/Weber, Reinhold, Migration und Integration in Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2013.
In der betreuungsgerichtlichen Praxis spielen Zuwanderer – wie überall in der gerichtlichen Praxis und wie in der Gesellschaft insgesamt – eine immer größere Rolle. Hierin spiegelt sich der ständig zunehmende Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung wider.
Ein bedeutender Anteil der Wohnbevölkerung in Deutschland, nämlich fast zehn Prozent besitzt keine deutsche Staatsangehörigkeit. Jeder fünfte Einwohner Deutschlands hat einen Migrationshintergrund. Immerhin 13,3 Prozent der Menschen in Deutschland verfügen über eine eigene grenzüberschreitende Migrationserfahrung.
Statistisch teilt sich die Wohnbevölkerung ohne deutsche Staatsangehörigkeit nach Altersgruppen und wichtigen Herkunftsländern entsprechend der Tabelle auf der Folgeseite auf.
Die größte Ausländergruppe bilden danach mit Abstand die Türken, gefolgt von Polen und Italienern.
Interessanter als die Staatsangehörigkeit, die im Betreuungsverfahren von eher untergeordneter Bedeutung ist,¹ sind die Zahlen über die Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Denn die besonderen Herausforderungen, die das Betreuungsverfahren im Umgang mit Zuwanderern stellt, sind ganz unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen.
Ausländische Bevölkerung am 31.12.2014
Quelle: Statistisches Bundesamt nach Daten des Ausländerzentralregisters²
Bevölkerung mit Migrationshintergrund³ 2013
Quelle: Statistisches Bundesamt nach Daten des Mikrozensus⁴
Auffällig ist, dass die für die betreuungsgerichtliche Praxis besonders relevante Altersgruppe der über 65jährigen im Vergleich mit dem Anteil dieser Altergruppe unter Deutschen vergleichsweise klein ist, was sich aber innerhalb der verschiedenen Zuwanderergruppen stark unterscheidet. Auch sind die 65jährigen mit Migrationshintergrund eine der am schnellsten wachsenden Bevölkerungsgruppen Deutschlands. Insgesamt liegt das Durchschnittsalter der Bevölkerung mit Migrationshintergrund bei 35,5 Jahren und damit etwa 11 Jahre unter dem Durchschnittsalter der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund von 46,4 Jahren.
Von der zugewanderten Wohnbevölkerung von insgesamt etwas über 10 Millionen Menschen⁵ haben mehr als die Hälfte eine Aufenthaltsdauer von mehr als 20 Jahren. Insgesamt stellt sich die Aufenthaltsdauer wie folgt dar:
Quelle: Statistisches Bundesamt nach Angaben des Mikrozensus⁶ (Angaben in 1 000)
In den Großstädten ist der Anteil von Einwohnern mit Migrationshintergrund besonders hoch, Tendenz weiter steigend.
In Frankfurt (Main) haben inzwischen (2014) etwa 45 Prozent der Einwohner einen Migrationshintergrund. In Nürnberg, Stuttgart, München, Düsseldorf, Köln, Hannover und Duisburg liegt der Anteil zwischen 30 und 40 Prozent. Hamburg, Bremen und Berlin erreichen noch Anteile zwischen 25 und 30 Prozent.⁷
Die formale Bildung und die soziale Situation ist bei Personen mit Migrationshintergrund schlechter als bei Personen