Das Richtige im Leben tun: Wie wir unseren Weg finden
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About this ebook
Eine Frage einer Zuhörerin ist unter anderem: »Ich werde mich entscheiden müssen, ob ich den Mann, mit dem ich seit fünf Jahren eine enge Beziehung habe, heiraten soll. Mit diesem Schritt wäre ein Umzug quer durch Deutschland verbunden, wovor ich Angst habe. Ich würde mich von meinem Mann abhängig machen. Ist dieser Zweifel ein Zeichen für eine nicht gar so tiefe Liebe?«
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Book preview
Das Richtige im Leben tun - Eugen Drewermann
NAVIGATION
Buch lesen
Cover
Haupttitel
Inhalt
ÜBER AUTOR UND HERAUSGEBER
ÜBER DAS BUCH
IMPRESSUM
HINWEISE DES VERLAGS
Eugen Drewermann
Das Richtige im Leben tun
Wie wir unseren Weg finden
Herausgegeben von Stephan Cartier
Patmos Verlag
INHALT
Vorwort
Einleitung
I. Sich selbst verstehen – warum wir denken, fühlen und handeln, wie wir es eigentlich nicht wollen
Fremd sein
Gewalt gegen Kinder
Stress
Urlaub
Leben mit Lügen
Betrug
Untreue
Verlust von Freunden
Schuldgefühle
Waschzwang
Esssucht
Narzissmus
Fetischismus
Sadomasochismus
Todesangst
Alkoholiker
Gutes Gewissen
Krankheit
Sucht nach Harmonie
Angst vor Menschengruppen
Wissen, das man träumt
II. Die Richtung ändern – Krisen, Glück und andere Entscheidungen
Wochenend-Ehe
Vaterliebe
Familienstreit
Überbehütet
Ehebruch
Von den Kindern getrennt
Enkelkinder entzogen
Entschuldigen
Trauma nach der Schwangerschaft
Hoffnung
Computerspiele
Schizophrenie
Schuldenfalle
Hartz IV
Verantwortung
Alkoholismus
Alzheimer
III. Das Richtige im Leben tun – wie wir unseren Weg finden
Folgenschwere Lüge
Wahrheit
Eltern
Respekt
Neue Ziele
Arbeitslosigkeit
Familiengründung
Fehlende Erlebnisse
Zeiterfahrungen
Angst vor neuer Beziehung
Mutter im Seniorenheim
Sehnsüchte
Traumsymbole
Behinderung als Schicksal
Vertrauensverlust
IV. Sagen, was man wirklich will – Vertrauen in sich selbst stärken
Zur Ruhe kommen
Erbe
Geschwisterstreit
Selbstzweifel
Hilflosigkeit
Schwiegereltern
Nachgeben
V. Die Macht der Gefühle – wir sind traurig, weil wir weinen
Neu verliebt
Schuldzuweisung
Bestrafung
Seitensprung
Missbrauch
Gefühle
Die Farbe der Träume
Brustkrebs
Heimatgefühl
Depressionen
Instinktive Wahrheit
VI. In Frieden gehen – Augenblicke des Abschieds
Vorbereiten auf den Tod
Abschied nehmen
Tod des Partners
Kindstod
Trauerarbeit
Selbsttötung
Hilfe bei der Trauer
Organtransplantation
Vorwort
Wenn du etwas wissen willst und es
durch Meditation nicht finden kannst, so rate ich dir,
mein lieber, sinnenreicher Freund: mit dem nächsten Bekannten,
der dir aufstößt, darüber zu sprechen.
HEINRICH VON KLEIST
»Mit anderen Worten«
Es gibt Antworten, bei denen man nicht glauben mag, dass es Fragen für sie gibt. Immer wieder sind wir im Team, das seit mehr als fünf Jahren die Radiosendung »Redefreiheit« mit Eugen Drewermann im Nordwestradio produziert, verblüfft über die Umwege des Lebens, die sich an den Fragen unserer Hörerinnen und Hörer ablesen lassen.
Da ist die 72-jährige Anruferin, die berichtet, dass sie ihren Mann während einer Kreuzfahrt mit einer anderen Passagierin in flagranti in der Kabine erwischte. Sie liebt ihn dennoch, hat ihm vergeben – doch nun sei er es, der sich nicht mehr mit ihr versöhnen wolle. Und da ist der Mann, der sich noch nach Jahrzehnten an eine Ohrfeige seines Vaters erinnert und unter der damaligen Ungerechtigkeit bis heute leidet. Da ist die Mutter und Großmutter, die ihre Enkel nicht mehr sehen darf, weil ihr Schwiegersohn sie für den Tod seiner Frau, also ihrer Tochter, verantwortlich macht.
Es sind Geschichten, die so unglaublich verschlungen klingen – dennoch passieren sie, und in der »Redefreiheit« haben die Menschen, die sie erlebten, ein Forum, um mit dem Theologen und Psychoanalytiker Eugen Drewermann hierüber zu sprechen. Kein Thema ist tabu, kein Problem zu klein oder zu groß, zu tragisch. Und zum Glück hören wir auch immer wieder Geschichten wie die von der Frau, die ihren Brustkrebs überwand und seitdem jeden Tag aufs Neue erfährt, was Glück bedeuten kann.
Aus diesen Fragen und Antworten ist das Buch »Das Richtige im Leben tun« erwachsen – verdichtet aus rund 100 Radiostunden. Es zeigt Eugen Drewermann von einer anderen Seite als viele seiner bisherigen Werke. Dort sind es meist die wortwörtlich ganz großen Fragen des Glaubens und des Lebens, die ihn beschäftigen; hier ist es das Leben selbst. Bewusst wurden in unserem Buch rein persönliche Fragen aufgenommen, nicht die Anfragen zu philosophischen oder geschichtlichen Problemen. Alle Beiträge wurden anonymisiert, auch diejenigen, die ursprünglich mit Namen gesendet wurden. Dies schien uns wichtig, um Personen zu schützen, denn die Öffentlichkeit einer Radiosendung ist flüchtiger als die des gedruckten Wortes.
Im Januar 2008 ging die »Redefreiheit« erstmals auf Sendung. Die Idee war einfach: Einmal im Monat, jeweils am letzten Samstag, sollten Hörerinnen und Hörer mit Eugen Drewermann reden können. Für drei Stunden sitzt er zusammen mit dem Moderator Jörg-Dieter Kogel im Sendestudio des Nordwestradios, der Gemeinschaftswelle von Radio Bremen und dem Norddeutschen Rundfunk, und beantwortet Fragen. Viele Ratsuchende schreiben E-Mails, einige rufen an oder »chatten«, wie es auf Neudeutsch heißt.
Die Segnungen des Internets bescheren Eugen Drewermanns »Redefreiheit« mittlerweile Hörer weltweit. Den Rekord hält die Mail eines Deutschen aus Los Angeles. In der Schweiz versammeln sich nachweislich ganze »Radiogemeinden« am letzten Samstagabend des Monats um den Empfänger, und auch aus Albanien erreichte uns schon einmal eine Mail. So kommt es, dass die »Redefreiheit« Menschen in New York und Castrop-Rauxel auf dem Umweg eines Hörfunkstudios nahe der Weser in Bremen miteinander verbindet. Ein schöner Gedanke, der durch dieses Buch nun weitergetragen wird.
Oft erreichen uns nach einer Sendung Anfragen von Hörern, ob man ihnen das Manuskript zusenden könnte; was wir immer mit Bedauern verneinen müssen – weil es schlicht kein »Drehbuch« für die Sendung gibt. Eugen Drewermann beantwortet alle Fragen spontan und ohne Vorbereitung. Seine Argumente, seine Erfahrungen und Vergleiche kommen aber so unglaublich souverän daher, dass der Eindruck abgelesener Texte nicht Wunder nimmt. Deswegen haben wir die übliche Logik der Buchproduktion herumgedreht. Es entstand ein Skript nach der wörtlichen Rede, jener allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Sprechen, wie Heinrich von Kleist sie 1806 als Programm für gute Ratsuchende empfahl.
Einem so systematischen Denker und umsichtigen Formulierer wie Eugen Drewermann ist dieses Verfahren nicht fremd, ähnelt es doch eben jener Gesprächssituation, die er als Psychotherapeut und Seelsorger kennt. Gleichwohl hat Eugen Drewermann bei der Vorbereitung des Buches immer wieder Ergänzungen in die Transkriptionen eingefügt und dort Erläuterungen angebracht, wo sie den Leserinnen und Lesern das Verständnis der damaligen Situation erleichtern. Die Gespräche, die er mit den Hörerinnen und Hörern der »Redefreiheit« führte, sind trotz ihrer Kürze keine Rezepte. In ihrer komprimierten Form zeigen sie aber, dass sich die überwältigenden Probleme, die einen Einzelnen beschweren, auf einen Kern reduzieren lassen. Und über diesen kann man in aller Freiheit sprechen und etwas für sich und andere erfahren.
»Mit anderen Worten…« ist eine immer wiederkehrende Formulierung Eugen Drewermanns in seinen Antworten. Dies klingt eigentlich wie eine Entschuldigung für eine Wiederholung. Doch für mich ist sie vielmehr die Formel zum Erfolg dieser Sendung und für Eugen Drewermann Kunst der Beratung: das Bekannte etwas anders zu formulieren, um hierdurch etwas Neues im Alten zu finden.
So nehmen manche Gespräche eine ganz eigene, unerwartete Wendung. Eines begann beispielsweise mit der Frage nach dem Umgang mit dem nahenden Tod, und Eugen Drewermann fand einen großartigen und unerwarteten Satz wie diesen, der zeigt, dass sich in jeder, aber auch jeder Lage ein Hoffnungsschimmer gewinnen lässt: »Die beste Vorbereitung auf den Tod ist ein richtiges Leben.« Es ist nie zu spät, etwas anzufangen.
Am Ende des Anfangs zu diesem Buch ist noch besonders wichtigen Menschen dafür zu danken, dass es entstehen konnte. Da ist zunächst Karen Krug, die die Gespräche von der Rede aufs Papier übertrug, dann Thomas Nahrmann, der Lektor des Patmos Verlags, den das Projekt dieses Buches sofort überzeugte und der es weit über das technische Maß intensiv begleitete, dann Jürgen Francke, der die Hörer und Anrufer der »Redefreiheit« seit fünf Jahren souverän begrüßt und durch die Sendung leitet, und natürlich Jörg-Dieter Kogel, der die »Redefreiheit« im Nordwestradio nicht nur moderiert, sondern auch erfunden hat. Der größte Dank geht aber an die eigentlichen Hauptpersonen: Die Hörerinnen und Hörer, die uns an ihrem Leben teilhaben und daraus lernen lassen.
STEPHAN CARTIER
Einleitung
Was es nicht ist, aber sein könnte
Nein, dies ist nicht und will nicht sein das tausendste Ratgeberbuch für alle Fälle. Beim »Ratgeben« steht ein vermeintlich Wissender jemandem gegenüber, der von sich tatsächlich glaubt, in diesem oder jenem sich nicht auszukennen. Doch beide irren sich. Niemand weiß besser über den Ratsuchenden Bescheid als dieser selbst, und drum kommt alles darauf an, dieses sein unbewusstes Wissen um sich selbst zu aktivieren – durch ruhiges Zuhören, einfühlendes Begleiten, nicht festgelegtes Vorstellen von Möglichkeiten und Faktoren, die das Geschilderte beeinflussen, und durch den möglichst völligen Verzicht auf eigenes Bewerten und Beurteilen. Ganz so wird hier versucht zu reden, doch: Zuhören, Austausch in Wechselrede, Pausen des Nachdenkens und stillen Nacharbeitens können nur begrenzt Teil einer Rundfunksendung sein. Da ist ein Anruf – man hört eine Stimme, und wie sie spricht (rasch, langsam, zittrig, fest, erregt, verschüchtert…), kann manchmal mehr besagen als das inhaltlich Gesagte. Dank den Möglichkeiten heutiger Technik gehen manche Strompostsendungen ein, und da gilt dasselbe: Wie stellt jemand sich dar, wie ist die Art seines Ausdrucks, wie leitet der Moderator Jörg-Dieter Kogel den Text ein, wie, als sein erster Interpret und Zuhörer, liest er ihn vor …?
»Angriffsziel Moskau« heißt ein Film, der in der Zeit des »Kalten Krieges« spielt: Eine Staffel des strategischen Luftwaffenkommandos der Amerikaner befindet sich im Anflug auf die sowjetische Hauptstadt und wird sie atomar vernichten, – sie ist nicht mehr zurückzurufen, doch alles ist ein schrecklicher Irrtum, und der US-Präsident versucht dem Kreml-Chef zu erklären, dass es sich nicht um einen geplanten Angriff, sondern um ein Versehen handelt, – er möge auf einen Vergeltungsschlag verzichten, er möge nicht ein weltweites Inferno auslösen… In dieser Situation sind die Dolmetscher gefragt. Sie dürfen nicht einfach übersetzen, was gesagt wird, sie müssen die Tonlage, die emotionalen Schwingungen, die Persönlichkeit des Sprechenden zu erfassen suchen, denn das entscheidet über die Bedeutung, die dem Inhalt zukommt.
In den Sendungen der »Redefreiheit« ging und geht es nicht gleich um den Untergang der ganzen Welt, wohl aber oft genug um Leben und Tod, Sinnsuche und Verzweiflung, Liebe und Angst, Sehnsucht und Einsamkeit, – um den Bestand der Welt, die jeder für sich selbst entwirft oder in die hinein er sich geworfen sieht. Ein paar – manchmal verrauschte – Sätze und man erahnt darinnen eine ganze Welt in einem Krisenaugenblick, an einem Punkt, an dem sich vieles, wenn nicht alles, jetzt entscheidet. »Ratgeben« kann da niemand, wohl aber durch Respekt belohnen, dass da jemand wagt, sich mitzuteilen, und sein Vertrauen bestätigen für ihn und alle, die mit zuhören. Man kann und will und darf nicht sagen: »So ist das also bei Ihnen«, doch andeuten, erwägen, vorstellen, verarbeiten, lässt sich die Vielzahl vorschwebender Möglichkeiten, in denen sich dann jeder für sich selber angesprochen fühlen mag. In keinem wirklichen Gespräch würde man so verfahren; man würde warten, wie der andere sich Schritt für Schritt in Stückchen klarer sieht und mitteilt; jedoch an was sich alles denken lässt und dass es nichts gibt, was man als Gefühl nicht äußern oder als Gedanken nicht mitteilen dürfte, – das ist eine Grundhaltung, die es wohl lohnt, Gehör zu finden.
Die Gesprächssituation ist schon durch ihre Kargheit konzentrierend: das Mikrophon, ein abgedunkeltes Studio, in das die Beleuchtung eines Innenhofes und der angrenzenden Restauranträume hereinfällt, sowie das Gesicht, die Hände, die Gestalt des Moderators Jörg-Dieter Kogel – alles andere kann für die nächsten drei Stunden egal sein. Eingespielt wird in gewissen Abständen Musik (Beethoven, Brahms, Chopin…), die hilft, Gefühle, Eindrücke, Gestimmtheiten anklingen oder ausklingen zu lassen, vorab ausgewählt entsprechend der Thematik und den zu erwartenden Schwerpunkten, die damit verbunden sind. Auch ist sie eine Anregung, hören zu lernen auf sich selbst. »Das Wichtigste geschieht einfach von innen her, – durch Begleiten, Dabeisein, Zuhören und ein vorsichtiges Anregen von Möglichkeiten.« Zu Recht hat Stephan Cartier seine Gesprächsauswahl auf diesen Schlusssatz hingeführt, denn gerade darauf läuft’s hinaus: Zugang gewinnen zu den versperrten Zonen der Seele lässt sich nur, indem man den verdrängten Gefühlen die Wortvorstellung zurückgibt, indem man die Ängste und Schuldgefühle im Hintergrund des Erlebens zur Sprache bringt und indem man die Poesie und Phantasie träumender Sehnsüchte und Wünsche wiedererweckt.
Dass solche »Redefreiheit« sei, ist Sinn der Sendung, die Jörg-Dieter Kogel konzipiert und eingerichtet hat. Der Dank an ihn und alle Hörer verbindet sich deshalb zugleich auch mit dem Wunsch, es möchte das freimütige Gespräch, begonnen in einem abendlichen Studio in Bremen, fortwirken in vermehrtem Mut zur eigenen Person, in größerer Selbstachtung und Beachtung dessen, was die Seele, wenn auch noch so leise, sagt, und in der Zuversicht, ein offenes Ohr zu finden beim Versuch, es mitzuteilen.
Von Herzen
EUGEN DREWERMANN
I. Sich selbst verstehen – warum wir denken, fühlen und handeln, wie wir es eigentlich nicht wollen
Fremd sein
Immer häufiger erlebe ich meine Handlungen, aber auch meine Gedanken als merkwürdig, unerklärlich, so, als ob sie nicht von mir stammten. Vorgestern noch habe ich mich mit einem fremden Menschen im Supermarkt gestritten, weil er sich vorgedrängelt hatte. Eigentlich ist so etwas nicht meine Sache, aber dennoch habe ich es getan. Später kam ich mir selbst fremd vor. Ich bin mir unsicher, glaube aber nicht, schizophren zu sein. Wie könnte ich hier Gewissheit haben?
Wir reagieren nicht selten auf eine bestimmte Situation in einer Weise, die uns unbekannt vorkommt, weil sie keine Kontinuität mehr aufweist zu dem, wie wir uns normalerweise vorkommen. In dem konkreten Beispiel, das Sie schildern, könnte ich mir vorstellen, dass Sie im Grunde ein sehr geduldiger Mensch sind, der vieles mit sich machen lässt, aber auch immer mal wieder erleben muss, dass andere ihm auf die Füße treten oder zuvorkommen. Und plötzlich beschließen Sie – oder besser: Sie beschließen eben nicht, denn das geschieht ja in Ihnen –, dass Sie sich das an einer bestimmten Stelle nicht mehr bieten lassen können. Sie stehen an der Kasse und warten, und irgendjemand – wie selbstverständlich – mogelt sich vor. Und jetzt sind Sie nicht mehr willens, das hinzunehmen. Jetzt ist das Maß für Sie voll. Das ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Und so entsteht ein Widerspruch. Einerseits sagen Sie sich: »So bin ich nicht, und so will ich nicht sein, ich bin eigentlich bescheiden, zurückgezogen, ich werde mich doch nicht zur Wehr setzen.« Dann aber bliebe es dabei: Jeder könnte Ihnen zuvorkommen, jeder könnte Sie an die Wand drücken. Sie würden sich zur Rolle des Mauerblümchens verurteilen. Vielleicht aber ist doch das, was sich spontan in Ihnen gemeldet hat, gar nicht so verkehrt: Auch Sie haben ein Recht, da zu sein. Auch Sie dürfen nicht einfach beiseite geschoben und übergangen werden. Die Reihe war an Ihnen, und das haben Sie angemeldet. So verstehe ich die Situation.
Fremd ist jetzt nur, dass Sie bisher offenbar gar nicht gewohnt waren, sich in solchen Situationen zu Wort zu melden und Einspruch einzulegen. Der Ausschluss von sich selber, die Fremdheit in dieser Aktion könnte indessen aufhören, wenn Sie sich sagen: »Auch in Zukunft möchte ich überlegen, wie ich mich äußern kann, wenn man mir über den Mund fährt, wie ich mich bemerkbar machen kann, wenn ich beiseite gestellt werde, wie ich meine Interessen ein Stück einbringen kann, wenn sie unbeachtet bleiben.« Mit anderen Worten: Gerade in dem, was sich als fremd vorgedrängt hat, wo Sie jetzt sagen: »Es ist wie eine fremde Person, das bin gar nicht ich«, könnte doch eine Aufforderung liegen, genau das, was sich da spontan gemeldet hat, als Ihr Eigenes zu erklären und in Ihre Vorstellung zu integrieren. Fragen Sie sich, wie Sie das bisher Fremde in Ihr eigenes Verhalten einbauen können. Dann ist es nicht mehr nur spontan, es bricht nicht einfach nur durch, es meldet sich nicht zu Ihrer eigenen Überraschung, sondern Sie überlegen sich bereits im Vorlauf, wie Sie Ihr Verhaltensrepertoire verbreitern können, um sich gegebenenfalls günstiger einzustellen.
Sie werden wieder in den Supermarkt gehen, wieder wird eine Schlange an der Kasse stehen – was mache ich jetzt? Die Frage lohnt sich. Vielleicht kommt nicht wieder so ein Bursche, der Ihnen die Gelegenheit gibt, jetzt das Gelernte anzuwenden. Aber wenn es denn sein sollte, könnten Sie sich vorstellen, dass Sie in aller Ruhe, und zwar als Sie selber und ohne dass sich etwas Fremdes einmischt, in Ihrer Identität und aus Überzeugung sagen: »Aber bitte, darf ich auf meinem Platz bleiben? Ich stehe schon länger hier.« Freilich, dem geht voraus, dass ein solches neues Verhalten zwischen passiver Duldsamkeit und explosivem Ärger nicht ganz schnell und ganz einfach zu lernen sein wird; aber es ist wie in der Mathematik: wenn man schon mal die Rechenart begriffen hat, fällt das Üben nicht so schwer. Es geht um einen Kompromiss nicht nur mit den anderen, sondern vor allem auch mit sich selbst, mit der Art von biederer Bravheit, die man mal gelernt hat, und dem alten Zorn, der sich darüber aufgestaut hat.
Gewalt gegen Kinder
Es ist ein Eingeständnis der Hilflosigkeit, aber ich schaffe es nicht, meine beiden Kinder zu erziehen, ohne mit Strafen zu drohen. Die beiden sind elf und dreizehn. Dabei sind es nicht nur einfache Androhungen wie: »Du darfst nicht an den PC«, oder: »Du darfst kein Fernsehen mehr schauen«, manchmal schlage ich auch einfach so, und ich weiß nicht, warum. Ich selbst hatte eine Kindheit ohne jede Ohrfeige. Diese Tatsache, dass ich weiß, dass es falsch ist, dass ich keine Ausrede habe, dass ich Gewalttätigkeit nicht geerbt habe, macht mich ratlos. Können Sie mir helfen, mich zu verstehen?
Ich glaube, dass Sie es sehr, sehr gut meinen und dass Sie bestimmte Vorstellungen von dem haben, was für Ihre beiden Kinder das Beste ist. Die kommen freilich jetzt in ein Alter, wo man sich in der Pubertät natürlich absetzen muss von den Eltern, wo man einen eigenen Willen beansprucht und auch einmal ausprobieren will, wie weit das gehen kann, und wo die Grenzen der Erziehungsperson, der Mutter, gesetzt werden. Ich höre auch, dass Sie im wesentlichen von sich allein sprechen, wie wenn die ganze Erziehungslast auf Ihren Schultern läge, als wenn Ihr Mann zum Beispiel, wenn es ihn denn gibt, nicht sehr hilfreich Ihnen zur Seite stehen könnte. Dabei bräuchten Jungen eigentlich einen Vater, der sich einmal hinsetzt und zeigt, wo es lang geht; in aller Ruhe. Das alles scheint Ihnen zu fehlen, und so erkläre ich mir auch einen Teil Ihrer Hilflosigkeit, dass Sie oft mit dem Rücken zur Wand stehen, sich auch oft