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Immer die Nacht: 14 Geschichten am Rande der Welt
Immer die Nacht: 14 Geschichten am Rande der Welt
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Immer die Nacht: 14 Geschichten am Rande der Welt

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About this ebook

Wenn der Tag seine letzten Bronzeschuppen abwirft, der Horizont mit Dunkelheit umhüllt wird, eine angespannte Stille über das Land die Macht übernimmt, und die müden Augen durch plötzliche Gedanken geöffnet werden, dann ist es Zeit, die Nacht willkommen zu heißen. Denn sie bringt Geschenke mit: die magischen Momente, die träumerischen Halluzinationen, das Unmögliche, das Irreale und das Unglaubliche. Den Geist durchdringt die Fantasie. Nachts. Immer nur nachts.
Todor Todorov beweist wieder einmal mit diesen Geschichten, dass er ein begnadeter Meister der Sprache ist. Er führt den Leser mit absoluter Sicherheit durch das Delirium der Nacht und lässt ihn in einem Film-Noir als Komparse ein verrücktes Spiel miterleben. Das Drehbuch besteht aus plötzlichen Wendungen von Wahn und Verbrechen. Hier treffen sich unheilvolle Träumer, Stadtschamanen und Telefonmörder. Alles und Alle bewegen sich auf einem magischen Untergrund: Wörter, Gefühle, Bilder. Die Farben der Dunkelheit. Du und Ich. Gefährliche Geschichten von hier bis zum Rand der Welt. Nachts, wenn die Erinnerung erwacht.
"In der Dunkelheit ist nichts Dunkles. Die Nacht hat ein leuchtend rotes Herz. Und alles ist rot."
LanguageDeutsch
Release dateFeb 11, 2016
ISBN9783957710826
Immer die Nacht: 14 Geschichten am Rande der Welt

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    Immer die Nacht - Todor Todorov

    Immer die Nacht | Reihe: Via Egnatia

    Todor Todorov

    Immer die Nacht

    14 Geschichten am Rande der Welt

    Aus dem Bulgarischen

    von Elvira Bormann-Nassonowa

    der gott der nacht

    das fünfundzwanzigste bild

    dort unten

    ein weiteres zimmer

    ein

    fünfzehn minuten

    immer die nacht

    knut svenson

    magda

    manchmal im norden

    niemand soll die erde berühren

    rezept für eine welt

    setz-auf-tod.com

    taube unterm hut

    von der natur verführt

    biographisches

    Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme.

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Buch

    in der Deutschen Nationalbibliografie;

    detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

    http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    This book was published with the support of the program

    National Book Center at the National Palace of Culture

    Erste Auflage 2016

    © Größenwahn Verlag Frankfurt am Main, 2016

    www.groessenwahn-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten.

    ISBN: 978-3-95771-081-9

    eISBN: 978-3-95771-082-6

    IMPRESSUM

    Immer die Nacht

    Reihe: Via Egnatia

    Autor

    Todor Todorov

    Erschienen 2012

    bei Ciela Verlag: Издателство Сиела, Sofia, BG

    Originalausgabe:

    ›Винаги нощта‹

    © Todor Todorov

    Übersetzung

    Elvira Bormann-Nassonowa

    Seitengestaltung

    Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

    Schriften

    Constantia und Lucida Calligraphy

    Covergestaltung

    Marti O´Sigma

    Coverbild

    © Todor Todorov

    Lektorat

    Edit Engelmann

    Gößenwahn Verlag Frankfurt am Mainr

    Februar 2016

    ISBN: 978-3-95771-081-9

    eISBN: 978-3-95771-082-6

    Seit drei Nächten bin ich schon hier. Ich glaube nicht, dass es einen Ausweg gibt. Und es ist mittlerweile auch egal. Das Einzige, was mich jetzt interessiert, sind die Nächte. Immer die Nächte.

    Ich weiß nicht mehr, weshalb ich hier bin, unter diesen Wilden. Das Letzte, an das ich mich erinnere, ist, dass ich ein Glas Malt-Whisky leere. Eine Boeing 747. Hinter der Scheibe nur ein grenzenloser, blauer Himmel. Das Eis klimpert im Glas. Ich nicke ein.

    Als ich erwache, sehe ich, wie die Sonne in dichten Gewitterwäldern versinkt. Gewitterwäldern. Diese grimmigen Bergrücken verwilderten Grüns scheinen jeden Moment loszutoben und dabei aus ihrem aufgewühlten Schoß Wind, Chaos und Schrecken in die ganze Welt zu schleudern. Der Himmel wirkt dunkel und schwer. Stählern. Es ist kalt.

    Ich lebe inmitten ursprünglicher Gerüche. Ich stinke nach Kot, faulen Früchten und Schweiß. Frisches Blut. Leben im Rohzustand. Das Original.

    Am ersten Abend bringt man mir bunte, getrocknete Blätter, zu einer Rolle geformt. Die Rolle ist mit einem dicken, braunen, zuckerähnlichen Gemisch gefüllt. Nachdem sie sie angezündet haben, sauge ich daran und mein Kopf füllt sich mit Rauch. Ich beobachte die nackten, schmutzigen Körper der Wilden und sie erscheinen mir immer abartiger. Ich höre das Donnern der Erde, während sie herumspringen, dann schwinge ich mich mühelos nach oben. Mein Flug ist still, ein nächtlicher Kreis am Himmel, langsam tauche ich mit dem Körper in den kühlen Tau der Wolken. Ich sehe die Teilung der Zellen, die elektrische Strahlung der Moleküle, das Leben, die Arterien, in denen das Blut kocht, die Wut, das Verlangen, die Schlafenden, in der Erde erkaltete Gehirne, aus denen im Frühjahr Schneeglöckchen wachsen, Tod im Herzen der Sonne, stehlende Augen, ich sehe die Geschwindigkeit des Spermas, den Todesengel, die Geburt der Erde und die geheime Alchimie des Schlafes, Liebe und Schrecken überall unter dem Dach der Nacht.

    Als ich erwache, spüre ich einen dumpfen Schmerz im Kopf, mein Mund ist zur Faust geballt und ausgebrannt vor Durst. Glücklicherweise entdecke ich neben meinem Kopf ein Tongefäß, das mit klarem, kaltem Wasser gefüllt ist. Ich stille meinen Durst und schlafe wieder ein unter den massiven gelben Strahlen einer tropischen Sonne.

    Bei Sonnenuntergang unternehme ich meinen ersten Fluchtversuch. Noch weiß ich nicht, dass es auch der letzte sein wird. Ich schleiche mich durch Farne, rötliches Gestrüpp, Dornenbäume und Sumpflöcher. Nach etwa einer halben Stunde wird die Dämmerung intensiver. Noch immer dringt kein Zeichen zu mir, dass mir jemand auf den Fersen ist. Ich tauche in den Ozean des Dschungels ein, es wird feucht und kalt und ich denke sehnsuchtsvoll an die hässlichen Wilden, ihre wärmenden Feuer und aufgerollten bunten Blätter, gefüllt mit Zucker und Mondstaub, von dem sich das Gehirn entleert, indem es die Nacht begattet. Um mich herum verschlingen riesige Raubfalter Vögel und werden selbst von monströsen Raubblumen gefressen, die von der Dunkelheit und dem Duft der Nacht geweckt worden sind. Ich laufe weiter in der zermalmenden Anmut des natürlichen Kannibalismus. Allerorten hacken verängstigte Geschöpfe, deren Augen von der Dunkelheit vergrößert sind, mit dem Stachel ihrer Schnäbel ins Fleisch des Nächsten. Die Natur frisst sich auf. Natürlich verliere ich die Hoffnung, nachdem ich mir noch eine Stunde lang den Weg durch ein Dickicht von Mücken gebahnt habe, um schließlich wieder vor dem Feuer zu stehen, an dem mein Stamm die Gräser der Nacht anzündet. Am Ende meiner Kräfte lasse ich mich auf den Boden fallen und starre lange in den schwarzen Himmel.

    Die Wilden sprechen nicht. Ihr Leben ähnelt eher dem der Blumen, der Gräser, dem Qualm und Rauch ihrer Kräuter, dem donnernden Gewitter, den blinden Augen des Schmetterlings. Sie leben nicht wie auf einer Insel inmitten der Natur. Sie sind alles, was die Natur ist. Jeder Sternenstrahl, jeder Tropfen Gift. Sie sind in ihr, organisch umschlossen wie im Mutterleib, ihr Leben fließt aus dem Schoß der Natur, wie das Blut durch die Venen strömt. Grausam und vollkommen unschuldig.

    Nur wenige von ihnen geben artikulierte Laute von sich, und diese stellen eher einen Rhythmus dar, ein Mandala wiederkehrender Töne, als wirkliche Worte. Das sind die Stammesweisen, die Schamanen, die viele Stunden in der Dämmerung singen, während sie vor den starren Blicken ihrer urgesellschaftlichen Kameraden ihre geistreichen Kräuter rauchen.

    Tagsüber geschieht im Wesentlichen nichts. Lediglich die Hitze. Eine verzehrende, schneidende Hitze. Und das Warten auf die Nacht.

    Am dritten Abend bringt man das schönste Mädchen des Stammes zu mir, eine dunkelhaarige Indianerin mit brauner Haut und feuchten, schwarzen Augen. Die Wilden machen Feuer, rauchen Gras und erwarten offenbar, dass ich sie mir nehme. Ich verliere keine Zeit. Ich knabbere an ihren schönen, dunklen Brüsten, öffne ihre Schenkel, ihre Knie, ihre Lippen. Während ich sie liebe, spüre ich, wie sich die Erde um mich zu drehen beginnt, ich bin die Erdachse, der Baum der Erkenntnis, das Totem und das Tabu. Das Mädchen kreischt und wirft den Kopf nach links und rechts, und ich stoße sie noch stärker, prähistorisch. Ich habe es nicht eilig, lasse mich in ihr aufgehen, in ihrem feuchten Innern, für einen Augenblick in der ewigen Nacht des unsichtbaren kosmischen Uterus versunken. Nachdem ich einmal für kurze Zeit die schmale Insel der Glückseligen betreten habe, erinnere ich mich plötzlich, wie das Meer meine Füße umspülte, an das Geräusch des Wellenschaumes und gleichzeitig an die geschmeidige Stille der Winternächte im Gebirge. Eine episodenhafte Eruption der Sinne. Die ekstatische Erinnerung dauert einen Lidschlag lang. Dann lodert alles auf, mein Penis entfaltet sich in ihr wie ein Edelweiß, während ich lange und überreichlich komme.

    Am nächsten Tag darf ich mich ausruhen. Man serviert mir Brühen, aromatische Tinkturen und saftige, fleischige Früchte. Das behagt mir. Ich würde gern der hiesige Gott werden. Der Gott der Nacht. Die Blätter werden bläulich, als die Sonne im Westen untergeht, der Schleier der Finsternis fällt herab. Wieder träume ich von der Nacht.

    Der vierte Abend. Die Wilden versammeln sich um das rituelle Feuer, atmen die Dämpfe von Riesenschirmpilzen und lila Baumrinden ein, die langsam in den Flammen verschwinden. Ihre Augen pulsieren – stumm-erstaunte Blicke, in der Dunkelheit blass erscheinende Gesichter, lange knochige Finger, indianische Magie, schwarze Schatten, schwarze Nacht, schwarze Hirne. Sie binden mich an Holzbalken, die sie zu den lüsternen Feuerzungen tragen. Für mich wurde ein breites Floß angefertigt, das sie nun über den Flammen herablassen. Für einen Moment erblicke ich das Mädchen von gestern – ihr Haar ist hinten zusammengebunden, sie hat reine Haut, ihre Augen leuchten im Dunkel. In ihrem Schoß trägt sie eine Gottheit.

    Ja, ich bin der Gott der Nacht. Ich überlasse mich den Händen dieser Tiere. Es ist Zeit für das Abendessen.

    Alles hatte – ich kann mich noch gut daran erinnern – an einem verregneten Morgen am achtzehnten Oktober begonnen. Also, ich stehe nackt am Fenster und atme ruhig die kühle Luft ein. An einem solchen Tag sind die Straßen nass und still. Das Fenster steht offen, der Wind bauscht die Gardine leicht auf, am Glas laufen feine Wasserspritzer hinab. Es ist grau. Und dieser Regen, diese Tropfen! Sie machen das Leben zu einem Traum. Die ganze Nacht über, an der Fensterscheibe, trägt mich der Regen wie ein Zug … Vom Sommer verbrannte, buntzerzauste Blätter flackern

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