Der gute Deutsche: Die Ermordung Manga Bells in Kamerun 1914
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Der gute Deutsche - Christian Bommarius
I.
DIE DEUTSCHEN KOMMEN. Zwei Dampfpinassen schieben sich langsam den Wuri hinauf, Landungsboote mit dreihundert Matrosen im Schlepptau. Admiral Knorr hat sie geschickt, dessen Fregatten Bismarck und Olga zu groß sind für die Fahrt auf dem Wuri und deshalb im Kamerunästuar liegen, einige Meilen vor Duala, einer Ansammlung benachbarter Dörfer. Es ist der 20. Dezember 1884. Max Buchner, seit Monaten der Vertreter Nachtigals, weil der nun auch in Bimbia, Malimba, Klein-Bantanga und Kribi an der westafrikanischen Küste die deutsche Flagge hissen muss, notiert in seinem Tagebuch: »Der Tag der Rache.« Bald nach der Unterzeichnung des Vertrags hatte sich nämlich herausgestellt, dass einige Vertreter der Duala den Vertrag lieber mit England geschlossen hätten. Kum’a Mbape beispielsweise, auch Lock Priso genannt, hatte den Vertrag nicht unterzeichnet; dennoch hatten die Deutschen unter Hochrufen und Gewehrsalven auch in seinem Dorf – Hickory-Town, wie die Engländer sagen, Bonaberi für die Duala – ihre Flagge entrollt. Lock Priso ist zwar kein King, aber immerhin Headman in Hickory-Town, zwar King Bell zur Gefolgschaft verpflichtet, aber im Herzen mehr auf der englischen Seite. Er hatte am 16. Dezember mit seinen Leuten die Siedlung King Bells – Bell-Town bzw. Bonanjo – überfallen und niedergebrannt, um den Deutschen Widerstand zu leisten. King Bell war geflohen, und Buchner – der King Bell für ein »überaus gutes Muster eines Negers« hält – hatte den mit seinem Geschwader vor der afrikanischen Westküste kreuzenden Admiral Knorr zu Hilfe gerufen. Jetzt landen dessen bewaffnete Matrosen am Strand von Hickory-Town, um, wie Buchner schreibt, »die Ehre der deutschen Flagge und die deutsche Oberhoheit durch grosses Schiessen zu erhärten«. Das gelingt. Hickory-Town wird niedergebrannt, und auch in Joss-Town, das sich mit Lock Priso gegen King Bell verbündet hatte, gehen die Häuser in Flammen auf. King Bell erscheint mit seinen Kriegern auf dem Schlachtfeld, um den Deutschen beim Plündern zu helfen. Aber Buchner kommt auch ohne ihn zurecht: »Das Haus des Lock Priso wird niedergerissen, ein bewegtes malerisches Bild. Wir zünden an. Ich habe mir aber ausgebeten, dass ich die einzelnen Häuser vorher auf ethnographische Merkwürdigkeiten durchsehen darf. Meine Hauptbeute ist eine große Schnitzerei, der feudale Kanuschmuck des Lock Priso, der nach München kommen soll.«
Das »große Schießen«, die erste Schlacht deutscher Soldaten seit dem deutsch-französischen Krieg vierzehn Jahre zuvor, ist für die Deutschen also ein voller Erfolg. Rechte Freude aber empfindet Buchner trotz der hübschen Beute nicht. Er fühlt sich seit der Abreise Nachtigals ein wenig verloren, vielleicht, weil er nicht ganz versteht, was er hier in Duala eigentlich soll, umgeben vom versumpften Mangrovengürtel, in diesem feuchtheißen Tropenklima, das dem gebürtigen Münchner so gar nicht behagt. Seine Aufgaben wurden ihm zwar von den Beamten in Berlin erklärt. Er soll im Schutzgebiet Kamerun, das vorläufig aus nichts anderem als den Dörfern Dualas und anderen Orten entlang der Küste besteht, die deutsche Flagge bewachen, zur Not die Gemüter beruhigen und insbesondere die deutschen Faktoreien der Hamburger Handelshäuser C. Woermann und Jantzen & Thormählen beschützen. Aber Schutz ist leichter gesagt als getan, wenn man der einzige Beschützer ist, versehen mit nur zwei Revolvern, einem Drilling, einem Repetiergewehr und der Kriegsflagge: »Für die Agenten der deutschen Firmen war ich eine Enttäuschung, und dass ich ohne Truppe zurückblieb, erregte eine Besorgnis.« Denn was soll er tun, »wenn die Neger rebellisch« werden? Von den einundzwanzig Mitgliedern der deutschen Kolonie, die meisten von ihnen Agenten, wäre im Ernstfall nur wenig Hilfe zu erwarten, schon gar nicht natürlich von den dreißig englischen Agenten in Duala, die noch immer hoffen, die Chiefs der Duala auf ihre Seite ziehen und den Deutschen die Kolonie entreißen zu können. Selbst auf den »vortrefflichen, starken« Peter kann sich Buchner nicht unbedingt verlassen. Den Jungen vom Stamm der Kru hat er sich von einem deutschen Agenten als »Burschen zum Hausbedarf« geliehen, »eine Perle, eine Zierde seines Geschlechtes, einer der wenigen besten Neger, die ich jemals gesehen habe«. Doch schon bald bemerkt Buchner: »Musterhaft ehrlich ist er nicht«. Er stiehlt, geschickt zwar und »fast mit Anmut«. Aber auch das verdient Strafe. Buchner lässt ihn also »ein wenig durchhauen«, wenngleich mit Bedauern.
Immerhin kommen Buchner, als es nach einigen Monaten tatsächlich ernst wird und die englandfreundlichen Duala gegen die deutschlandfreundlichen Duala die Waffen ergreifen, die Korvetten des Admirals Knorr zu Hilfe. Allerdings verschwinden sie gleich wieder und lassen den Interimistischen Vertreter des Deutschen Reichs an den Gestaden des Wuri zurück, der sich – untergekrochen in der Wellblechhütte des Woermann-Agenten – danach noch ein halbes Jahr durch den »wirren struppigen Ölpalmenwald« namens Duala quält, angewidert von dem »stinkenden Morast«, der die Schlucht zwischen Bell- und Akwa-Town füllt, und von Fieberschüben und der Ruhr zunehmend zerrüttet.
Vielleicht würde sich seine Stimmung aufhellen, wüsste Buchner von der wundersamen Vergrößerung der Kolonie in dieser Zeit. Denn während Nachtigal an der westafrikanischen Küste Kreuze unter Schutzverträgen sammelt und der einsame Buchner machtlos mit ansehen muss, wie die Duala »schnöden Wuchergewinn aus ihrem Handelsmonopol« einstreichen, den die deutschen Handelshäuser gerne selber hätten, treffen sich im Winter 1884/85 in Berlin auf Einladung des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck die europäischen Kolonialmächte und die Vereinigten Staaten von Amerika, um dem vor einigen Jahren gestarteten Scramble for Africa endlich ein paar ihnen nützliche Regeln zu geben. Da ist der Wettlauf eigentlich schon fast zu Ende, mit England und Frankreich auf den vordersten Plätzen. Denn bereits 1881 hat Frankreich Tunesien und das Gebiet der heutigen Republik Kongo besetzt, drei Jahre später Guinea; England sicherte sich 1882 das nominell weiterhin osmanische Ägypten, das wiederum Sudan und Teile Somalias beherrschte; Italien verleibte sich 1870 und 1882 Teile Eritreas ein. Mit den »Schutzverträgen« in Lüderitzland, dem späteren Deutsch-Südwestafrika, Togo und Kamerun tritt Deutschland also mit Verspätung in den Kreis der Kolonialmächte ein. Jahrhundertelang hatte sich der Handel Europas mit den Küsten Afrikas auf Sklaven, Gewürze, Tropenholz oder Elfenbein beschränkt. Aber mit der Industrialisierung ist nicht nur das Interesse an neuen Absatzmärkten gestiegen, zugenommen hat auch die Nachfrage nach Rohstoffen: Palmöl wird zur Herstellung von Kerzen und Schmiermitteln benötigt, Palmkerne für die Fabrikation von Seife und Margarine, und dann natürlich der »Baum, der weint«: Kautschuk. Im Jahr 1839 hatte der Amerikaner Charles Goodyear Schwefelsäure unter Kautschuk gemischt und ihn erhitzt. Dieses Verfahren – die Vulkanisation – veränderte die Konsistenz des Rohkautschuks. Er wurde zu elastischem Material, abriebfest, unempfindlich gegen Kälte und Wärme. Der Kautschuk hatte sich in Gummi verwandelt. Drei Jahre nach der Berliner Konferenz wird der Gummi die ganze Welt verwandeln und sie schlagartig beschleunigen. Denn 1888 kommt der schottische Tierarzt John Boyd Dunlop auf die Idee, Gummireifen mit Luft zu füllen, lässt sie noch im selben Jahr patentieren und gründet wenig später das erste Reifenwerk. »Das Auto ist eine vorübergehende Erscheinung. Ich glaube an das Pferd.« Nicht jeder versteht die Zeichen der Zeit so schlecht zu lesen wie der deutsche Kaiser Wilhelm II.; der König von Belgien, Leopold II., hat das richtige Gespür. Ihm gelingt es auf der Berliner Konferenz, den anderen Kolonialmächten die Anerkennung des »Unabhängigen Kongostaates« als sein Privateigentum abzuhandeln, was ihm in den nächsten Jahrzehnten ein sagenhaftes Vermögen und zehn Millionen Kongolesen den Tod bringen wird. Keine Kolonialgeschichte wird mit so viel Blut und Tränen geschrieben wie jene Belgiens.
Für Deutschland bedeutet die Konferenz die Anerkennung als Kolonialmacht. Und immerhin bekommt es doch noch einige schöne Flecken Afrikas. Dass auch Togo und Kamerun dazu gehören, ist vor allem das Verdienst des Hamburger Reeders und Übersee-Kaufmanns Adolph Woermann, der seit Jahren an der westafrikanischen Küste in seinen Faktoreien minderwertigen Branntwein, Waffen und Pulver gegen Palmöl und Kautschuk tauscht. Allerdings blickt er mit Unbehagen auf die englische Konkurrenz und das Zwischenhandelsmonopol der Duala. Schon 1883 hat er in einer Denkschrift den Schutz des hanseatischen Handels durch das Deutsche Reich und ein Ende des Zwischenhandels gefordert, zudem die »Erwerbung eines Küstenstriches in West-Afrika zur Gründung einer Handelskolonie Biafra Bai«, die dann Kamerun heißt. Das Schreiben ihres Mitglieds war von der Hamburger Handelskammer angenommen und an die Reichsregierung weitergeleitet worden. Wider Erwarten hat Woermann Erfolg. Obwohl Reichskanzler Bismarck nichts von deutschen Kolonien hält, sie gar für »Schwindel« erklärt, gibt er Woermanns Drängen schließlich nach. Weshalb? Eine Rolle spielt die Überlegung, dass das Deutsche Reich nicht hinter anderen europäischen Großmächten zurückstehen sollte. Zudem ist die Kolonialpolitik hervorragend geeignet, von den wachsenden sozialen Spannungen in der Gesellschaft des Kaiserreichs abzulenken. Und nicht zuletzt macht sich hier der Einfluss wirtschaftlicher Interessengruppen bemerkbar, die insistieren, dass Deutschland eine sichere Rohstoffversorgung benötige und neue Absatzmärkte für die rasant wachsende Industrieproduktion. Der rührigste und gewandteste Lobbyist ist Adolph Woermann selbst, der Bismarck – einen alten Bekannten – in zahlreichen Gesprächen beeindruckt. Dabei will der Reichskanzler nicht von Kolonien sprechen, weshalb er den Begriff »Schutzgebiete« erfindet, und er verlangt, allerdings vergebens, dass die Handelshäuser die Verwaltung vor Ort und auch die Kosten übernehmen. Als im Sommer 1884 die Möwe mit Nachtigal und Buchner an Bord vor der Küste Kameruns aufkreuzt, hat Woermann sein erstes Ziel erreicht: Die englische Konkurrenz ist abgehängt. Wenige Tage nach der Vertragsunterzeichnung zwischen den Deutschen und den Duala geht der britische Konsul Hewett an der Wuri-Mündung vor Anker, um den Duala nun doch noch das englische Protektorat anzubieten, doch da gibt es für ihn nichts mehr zu gewinnen außer dem spöttischen Titel The too late consul.
An der Berliner Kongokonferenz, die am 15. November 1884 beginnt, nimmt Adolph Woermann nicht nur als Kaufmann teil, sondern auch als frisch in den Reichstag gewählter Abgeordneter von der Nationalliberalen Partei, die eisern zu Bismarck hält und den Imperialismus als Kulturtat betrachtet. Und so erlebt er unmittelbar, wie die Kontinentalmächte die Beute unter sich aufteilen, wobei die jeweilige Gebietsgröße sich nach den Grenzen bestimmt, die auf der Karte Afrikas am Konferenztisch vorläufig markiert werden. Als die Konferenz am 26. Februar 1885 zu Ende geht, umfasst das deutsche Schutz- und Woermanns Handelsgebiet Kamerun 495000 Quadratkilometer. Es ist nur 45858 Quadratkilometer kleiner als das Kaiserreich. Adolph Woermann ist der Aufstieg zum größten deutschen Westafrikakaufmann und mit seiner Woermann-Linie zum größten Privatreeder der Welt nicht mehr zu nehmen.
Die Engländer nennen Westafrika white man’s grave, Buchner nennt es einen der »giftigsten Fieberorte unserer schönen Erde«. Als er im Mai 1885 Duala nach zehn Monaten verlässt, glaubt er sich dem Tod näher als dem Leben, wobei er das Leben in dieser Zeit durchaus als Hölle empfand. Am 17. Mai ankert die Ella Woermann vor Duala. Buchner wird auf einer Bahre an Deck gebracht, schweigend nimmt er Abschied von Natur und Mensch (»Lebt wohl, ihr Ölpalmen und du schnödes Unkrautgesindel«), zurück bleibt sein Hass auf die Duala, »dieses elende Menschenpack«, und eine schöne Erinnerung, ausgerechnet an King Bell und dessen Familie. Von Anfang an hatten King Bells »stattliche Gestalt, seine angenehmen Züge, die fast europäisch waren, würdig, ernst und ruhig«, Buchner beeindruckt, auch sein Benehmen und sein Takt »ließen nichts zu wünschen übrig«. Dass der Deutsche King Bell allerdings für den »besten Negerhäuptling [hielt], mit dem ich je zu tun gehabt habe«, lag vor allem daran, dass King Bell, sehr zum Verdruss vieler Duala, das Wort, das er den Deutschen vertraglich gegeben hatte, gehalten und seine Unterwerfung nie in Frage gestellt hat. Das machte Buchner auch King Bells ältesten Sohn, August Manga Ndumbe Bell, sympathisch, »ein merkwürdig schöner Neger«, der in Bristol erzogen worden war und in »fast vollendetem Englisch« mit Buchner sprach, wenn der von Fieberanfällen ans Bett gefesselt war. Mit Sicherheit hat Buchner auch den ältesten Enkel King Bells, Rudolf Duala Manga Bell, kennengelernt. Er war elf Jahre alt, als Lock Priso mit seinen Leuten Bell-Town, den Wohnsitz von Großvater, Sohn und Enkel Bell, in Schutt und Asche legten. Im Mai 1885 verlässt Max Buchner Kamerun – von chronischem Fieber zermürbt, abgemagert von 140 auf 90 Pfund, aber im Besitz von Lock Prisos Kanuschmuck – an Bord der Ella Woermann.
II.
KAMERUN IST EINE KOKOSNUSS. Wer die Frucht genießen will, muss die Schale sprengen. Und das geht nun einmal nur mit Gewalt. Zumal die Duala kein Entgegenkommen zeigen und ihr Handelsmonopol hartnäckig verteidigen. Sie kaufen europäische Produkte in den Faktoreien von Woermann, Jantzen & Thormählen oder der englischen Händler auf Kredit und bezahlen mit Kautschuk, Palmöl oder Elfenbein, das sie von anderen Stämmen im Landesinnern beziehen, die häufig ihrerseits nur Zwischenhändler sind, ebenfalls für ihr Gebiet auf ihrem Monopol bestehen und den Durchzug von Handelskarawanen mit allen Mitteln verhindern. Weil die ins Inland führenden Flüsse für größere Schiffe unpassierbar sind und der