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Im Wald, da sind die Schweine: Jugendbuch
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Im Wald, da sind die Schweine: Jugendbuch
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Im Wald, da sind die Schweine: Jugendbuch

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About this ebook

„Ich bin die Sonne – fass mich nicht an. Ich bin der Wind, den niemand fangen kann. Ich bin das Rascheln der Blätter, hab die Augen zu, flieg durch die Welt – wer dagegen bist du?“
Wenn es Lutz schlecht geht, spielt er sein Spiel, das ihn unsichtbar macht. Hätte er nicht seinen kleinen Bruder, wäre er schon längst abgehauen. Denn wenn sein Vater betrunken ist, dann schlägt er Lutz brutal. Das allerdings darf niemand erfahren, selbst Nini nicht, in die er sich Hals über Kopf verliebt. Und als ob Lutz nicht schon genug Probleme hätte, muss er bald herausfinden: Warum faselt der Gärtner, Jupp, ständig von gefährlichen Schweinen? Und was hat er zu verheimlichen?
„Im Wald, da sind die Schweine“ zeigt ein ernstes Thema aus einer anderen Perspektive. Es bleibt noch jede Menge Raum für Abenteuer, erste Liebe und einen Hauch Magie.
LanguageDeutsch
PublisherTWENTYSIX
Release dateMay 19, 2016
ISBN9783740736194
Im Wald, da sind die Schweine: Jugendbuch
Author

Krauss Tina

Tina Krauss, geb. 1974 in Saarbrücken, verheiratet, lebt mit ihren drei Töchtern und zwei Hunden in Dudweiler (bei Saarbrücken), wo sie seit 1996 als Erzieherin arbeitet. Sie begann schon in der Schulzeit mit dem Schreiben, bevorzugt dabei sozialkritische Themen und gewann als Jugendliche den Wettbewerb „Gewalt oder was!“, ausgeschrieben von der Zentrale für Politische Bildung/Hörzu). „Im Wald, da sind die Schweine“ ist ihr Debüt. Nach der Begegnung mit einem Keiler begann sie diesen ungewöhnlichen Jugendroman zu schreiben.

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    Im Wald, da sind die Schweine - Krauss Tina

    -

    [1] Nini

    Im Wald, da sind die Schweine, ’s gibt große und ’s gibt kleine,

    Als wir 1984 in das große, alte Haus mit den hohen Decken zogen, war ich schon eine ganze Weile elf. Eigentlich war ich also schon halb zwölf. Ich war eine ganze Menge halb, wenn ich mir´s recht überlegte. Also war ich in dem Sinn eine ganze Menge Halbes und noch nichts Ganzes. Zum Beispiel war ich halb Türkin, halb Deutsche.

    Das war die Schuld meines Vaters, der ganz Türke war. Gut, genaugenommen war es auch die Schuld meiner Mutter, die ihres Zeichens ganz Deutsche war. Aber das fiel nicht so stark ins Gewicht, da ich die deutsche Hälfte an mir lieber mochte, weil sie nicht so laut, gefühlvoll und einfach weniger auffällig war. Meinen Bruder mochte ich nicht so.

    Manchmal dachte ich, das wäre, weil er auch das Vorrecht hatte, ein richtiger Deutscher zu sein. Er hieß Thomas, war schlaksig, dreizehn und blond wie ein Engel und mein Papa war nicht seiner. Meine Mutter sagte, ich solle nicht traurig sein darüber, dass ich türkisches Blut habe, denn auf so einen Papa, wie Thomas ihn hat oder eigentlich niemals hatte, müsse man nicht neidisch sein. Das Einzige, was er gut könne, sei sich vom Acker machen, wenn es brenzlig würde. So einen könne sie echt nicht mehr gebrauchen, da kriege sie Plaque, meinte sie immer, während sie mir einen Kuss auf die Stirn gab. Ich dachte, meine Mutter wüsste, dass ich dann und wann unter meinem Halb-Sein litt und ab und zu unter meinem Halb-Bruder ganz besonders. »Na, wie geht´s denn unserem kleinen Äffchen heute?«, fragte er oft am Frühstückstisch und zog mich an meinen schwarzen Haaren. Nicht so doll zwar, aber fest genug, dass ich mich ärgerte und meine Mutter ihm einen abschätzigen Blick zuwarf, der ihn verstummen ließ. Trotzdem sah er mich dann immer so seltsam an. Meine Mutter jedenfalls machte außer mir normalerweise keine halben Sachen. So hatte sie meinen Vater Kerim geheiratet und war bei dieser Gelegenheit gleich zum Islam übergetreten, was man daran erkennen konnte, dass sie seitdem tatsächlich ein Kopftuch trug. Ich sagte es bereits, sie machte keine halben Sachen.

    Draußen auf dem großen Platz spielten ein paar Kinder. Zwei Mädchen schlugen ein Seil und eines mit langen blonden Zöpfen sprang darüber. Das machte sie gar nicht so übel. Jedenfalls war sie bisher nicht hängengeblieben. Die Fensterscheibe war etwas blind vor Dreck, man konnte darauf schreiben. Mein Finger zogen ein N, I, N, I,V, schließlich ein E. Als meine Mutter mit einem Umzugskarton ins Zimmer schneite, wischte ich schnell mit dem Handrücken über die Buchstaben.

    »Ach, die muss ich bald mal putzen! Aber nicht heute und so wie es aussieht auch nicht morgen«, sagte sie, während sie einen Karton auf die alten Holzdielen knallte.

    »Würden wir nicht so oft umziehen, hättest du mehr Zeit zum Putzen!«

    »Mir ist klar, dass es für dich nicht leicht ist. Aber denk doch mal, hier hat Papa einen guten Job. Und du weißt, seit dieser dummen Geschichte mit dem Führerschein, ist es wichtig, dass er mit dem Bus dorthin kommt!«

    »Ja, ja schon klar, es ist ja alles wichtig, nur ich nicht!«

    »Ach, Nini!«, sagte sie nur und sie hatte dabei einen so traurigen Klang in der Stimme und fuhr sich so müde über die Stirn, dass mir das Gesagte gleich leidtat. Dennoch drehte ich mich einfach um und hörte nur, wie sie die Tür zuzog.

    [2] Lutz

    ’s gibt dicke und ’s gibt dünne. Sie gründeln in der Rinne ...

    Da saßen wir nun in der Herbstsonne und alles brummte und summte. Alle wuselten um mich rum, nur ich, ich konnte nicht und ich mochte nicht, denn mir tat auf Deutsch gesagt der Arsch weh. Aber das war ja nix Neues. Neulich hatte die Frau Hantel mich nach der Stunde gefragt: »Sag mal Lutz, wo holst Du dir denn immer diese blauen Flecke?« Da hatte ich gesagt: »Ach Frau Hantel. Das kommt vom Ringen, da geh‘ ich doch immer mit meinem Cousin hin. Das macht Spaß!« Und ich hatte dabei so toll gegrinst, wie es nur ging, mit meiner geschwollenen Backe.

    »Na sieht aber so aus, als ob du noch üben musst«, hatte sie gemeint und mir liebevoll über den Kopf gestreichelt.

    »Versprochen!«

    In diesem Moment hätte ich ihr am liebsten alles gesagt. Es tat so gut, wie sie mir die Hand auflegte. Doch, was hätte sie getan? Und was, wenn sie mich dann von Leon trennen würden? Nein, dann ertrag ich das lieber weiter. Ich musste auch an Mama denken.

    Sehnsüchtig beobachtete ich Leon. Ich war etwas neidisch auf ihn. Wie er immer wieder den roten Eimer mit Sand füllte und auskippte, als ob es nichts um ihn gäbe. Als sei dies sein Sandkastenuniversum und selbst ich käme dort nicht mehr hinein. Niemand täte das, der älter als fünf ist. Es sei denn er stellte Asyl und Grund genug hätte ich ja. Es war ihm gelungen, eine beachtliche Sandburg aufzutürmen.

    »Toll gemacht!«, lobte ich ihn, und er strahlte über sein pausbäckiges Kindergesicht. Leon bedeutet 'Löwe' und natürlich sind Löwen auch gute Kämpfer. Mein Bruder machte seinem Namen alle Ehre. Er kämpfte für sein Sandreich und strich mit Eifer die Seitenwände seiner Burg glatt. Ich half ihm dabei, wie ein großer Bruder hilft, was Leon nicht wusste: Am liebsten wäre ich in seine Sandburg eingezogen, hätte eine Sandprinzessin geheiratet und alles wäre gut. Leider wäre mein Asyl sicherlich abgelehnt worden. Es gab keines für Kinder über fünf, denn dann fängt es an. Oder konnte man sich dann nur daran erinnern. Versonnen spielte ich das Spiel, das ich immer spielte: » Ich mache mich unsichtbar - Ich bin die Strahlen der Sonne - Fass mich nicht an».

    Ich bin der Wind, den niemand fangen kann. Ich bin das Rascheln der Blätter, hab die Augen zu, flieg durch die Welt und wer dagegen bist du?« Immer wieder sagte ich mir diesen Zauberspruch, ich versuchte mich zu lösen aus meinem Körper und rief: »Bitte lieber Gott, schicke mir jemanden, der mich versteht!« Aber ich war schlecht in meinem Spiel. Niemand beachtete mich, niemand sah mich, außer mein Vater! »Aber ich übe weiter Frau Hantel! Versprochen!«

    [3] Nini

    Sie grunzen und sie schaben. Sie wälzen sich im Graben.

    Mittlerweile hatte ich ein Loch in den Staub der Scheibe gekratzt. Es fühlte sich besonders angenehm an, die Außenwelt zu beobachten und selbst absolut geschützt zu sein, selbst wenn es nur von Staub war. Müßig spähte ich zu den Hüpfern hinaus, die sich endlich abgewechselt hatten. Ein Mädchen von etwa acht Jahren im mausgrauen Sommerkleid sprang. Nicht nur der Wind machte ihr Unterfangen fast unmöglich, er blies das unpassende Kleidungsstück, wohin es ihm gefiel. Auch ihre Beine schienen ihr nicht wirklich zu gehorchen.

    Da sah ich ihn unter der großen Eiche, deren Blätter schon begannen sich herbstlich zu färben, obgleich die Sonne unbeeindruckt brüllend heiß vom Himmel schien. Unscheinbar war er, dunkelblondes, zipfeliges Haar auf denen die Sonne schimmerte und der Wind spielte. Die Haare harmonierten gut mit seiner gebräunten Haut und dem hellen, ärmellosen Hemd. Ich sah den Jungen, der etwas älter als ich zu sein schien, nur von hinten. Und doch; etwas in sagte mir, dass sich unser beider Schicksale verflechten würden. Sei es für einen Sommer oder für ein ganzes Leben. Wer wusste das schon? In dem Moment, als ich mich näher an die Scheibe drückte, beugte er sich vor und steckte ein Zweiglein sehr sorgfältig in eine Sandburg. Das Kleinkind in meinem Augenwinkel war nur schemenhaft zu erkennen, und ich beschloss, meinen Beobachtungsposten zu verlassen.

    [4] Lutz

    Ist so ein Schwein noch klein, dann darf es glücklich sein.

    Ein lauer Wind wehte durch die Allee. Er blies einige Blätter vor sich her, die sich entschlossen hatten, vorzeitig vom Baum zu fallen. Ich wusste, meine Zeit hier in diesem Paradies, war begrenzt. Ich würde in die Vorhölle zurückkehren müssen und alles würde umso schlimmer werden. Die Sonne stand schon so tief, dass ich gegen sie anblinzeln musste, als sich eine Gestalt näherte.

    Sie hatte einen ausgefransten Jeansrock, der knapp überm Knie endete und ein schulterfreies Top mit großen grauen Streifen. Außerdem war das Oberhaar zu einem frechen Pinsel gebunden. Das restliche Haar glitzerte schwarz auf ihre Schultern. Ihre Bewegungen waren anmutig, obwohl sie Clogs trug, die diesen, wie auch schon letzten Sommer, total angesagt waren. Dann kam allerdings das Beste: ihr Lächeln. Es war mir, als ob alle meine Gebete erhört würden, als ob alle meine Gebrechen mit einem Mal heilten und sich mit ihrem Mund auch das Himmelstor öffnete. Einen Moment dachte ich darüber nach, als sie so im Gegenlicht stand, ob Gott mir endlich einen Engel gesandt hatte.

    »Das wurde auch Zeit!«

    Dass ich meine Gedanken laut ausgesprochen hatte, wurde mir erst bewusst, als sie ihre sommerbesprosste Stirn in Falten zog. Sie setzte sich auf den Rand des Sandkastens und sagte: »Ich bin Nini!«

    »Setz dich doch!«, sagte ich verspätet. »Mir gehört dieser Sandkasten hier!«

    Nini lachte schallend. »Und alles, was darin ist?« Sie sah auf meinen Bruder.

    »Darf ich dir vorstellen, das ist mein Bruder Leon.« Er war gerade mit seiner kleinen Gießkanne zurückgekehrt und bewässerte sein kleines Reich. Das Wasser aus dem Straßengraben versickerte fast augenblicklich im Sand. Aber in manchen Kuhlen hielt es sich doch lange genug, dass Leon darin herumpatschen konnte. Glück glitt über sein kugeliges Kindergesicht, als die Matschtropfen spritzten.

    »Süüüß!«, meinte Nini.

    Und ich wusste, dass sie recht hatte. »Ja, nur für ihn bin ich noch hier!«

    »Hmm! Wie meinst du das?« Sie sah sehr betroffen aus.

    »Ach, ich meine, nur weil es schon spät ist. Aber er liebt den Sandkasten.«

    »Ja, das kann ich verstehen.« Das Mädchen sah nachdenklich aus.

    Irgendwie hatte ich für einen kurzen Augenblick das Gefühl, dass sie die Trauer über das verlorene Sandkastenreich auch spürte.

    »Wie heißt du eigentlich?« Fest sah sie mich mit ihren dunklen Augen an und mir wurde heiß und kalt.

    »L-l-lutz!«, stotterte ich.

    »Lustiger Name!«, kicherte Nini.

    »Ja, ich weiß. Der is´n bisschen doof. Ich hab das Gefühl meine Eltern konnten mich noch nie besonders gut leiden.« Absichtlich machte ich eine besonders gekränkte Miene.

    Nini fasste meine Hand.

    »Ach Quatsch, nur lustig! Mein Vater kommt aus der Türkei. Du glaubst nicht, was es dort für seltsame Namen gibt. Die wären hier glatt verboten. Eigentlich heiße ich Ninive.«

    »Echt!«, stieß ich ungläubig hervor. Unwillkürlich näherte ich mich ihrem Gesicht, und es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich jemanden unbedingt küssen wollte. Es interessierte mich nicht, dass die Hüpferinnen uns erst angestarrt hatten und dann samt Seil verschwunden waren. Es interessierte mich nicht, dass die Glocken in der Ferne läuteten und dass mein Vater mit seinem Gürtel wartete. Nur sie war wichtig. Dieser sommersprossige Engel und dass ich irgendwie mit meinen Lippen zu ihm kam. Noch ein paar Zentimeter. Schon konnte ich ihren Atem schmecken, nahm ihren Geruch von Erdbeeren wahr. Ich liebe Erdbeeren. Da traf mich mitten in diesen verzauberten Moment ein Matschklos, den mein Bruder mir auf die Wange warf. Erschrocken taumelte ich zurück, ich konnte überhaupt nicht verstehen, was da gerade passiert war. Eigentlich dachte ich schon Nini hätte mich geohrfeigt. Und auf gewisse Weise hätte ich das sogar verstanden.

    Ungläubig griff ich in die Reste der tropfenden Masse, die noch an meiner Wange hafteten. »Oh, Leon!« Auch der kleine Übeltäter selbst wirkte überrascht, dass sein Geschoss sein Ziel gefunden hatte. Dann gluckste er fröhlich.

    Und wir drei bogen uns vor Lachen. Leon hatte mir ganz schön die Tour vermasselt. Ich hoffte sehr, dass das nicht für die Zukunft zur Gewohnheit würde.

    »Ich wohn jetzt im Dritten«, sagte Nini.

    »Ich im Zweiten. Ich habe heute Morgen den Möbelwagen gesehen.«

    »Am Montag geht die Schule wieder los. In welche gehst du denn?«, wollte Nini wissen.

    »Ich gehe in die Edith–Stein 6b. Ist zwanzig Minuten von hier. Ich bin mal hängen geblieben. Ich hab´s nicht so mit Schule.« Beschämt senkte ich den Kopf. Beinahe erwartete ich Schläge. Stattdessen griff sie behutsam nach meinem Kinn und hob es an.

    »Cool! Ich soll auch in die 6b. Ich wurde mal zurückgestellt, aber jetzt läuft´s ganz gut!«

    »Bei mir ist noch ein Sitzplatz frei!« Das war knallhart gelogen. Aber bis Montag würde es wahr werden und wenn ich den schielenden Sebastian eigenhändig von meinem Nebenplatz prügeln müsste. Nini zwinkerte mir zu.

    »Wollen wir uns dann treffen?«

    »Na klar! Ich freue mich!«

    Das war nicht gelogen.

    [5] Lutz

    Doch ist ein Schweinchen groß, ist nicht mehr so viel los. Es fragt sich: Was geschieht warum und wieso mach ich mich so krumm?

    Ich betete zu Gott und Gott hatte ein Einsehen. Er ließ mich vor meinem Vater die Tür öffnen. Ich setzte meinen Bruder in seinen Hochstuhl und streichelte ihm die Locken. Sogleich ergriff er das bereitgelegte Plastikbesteck, um damit auf die Fläche vor sich einzutrommeln. Meine Mutter kam leicht verschwitzt aus der Küche, stellte eine Schüssel auf den Tisch, um sich die Hände an der gestreiften Schürze abzuwischen. Noch immer hatte ich dieses warme Gefühl, als hätte ich sie tatsächlich geküsst. Ich dachte: »Dieses Gefühl kann mir niemand nehmen. Es ist nur meins.« Nie zuvor wollte ich etwas nur für mich besitzen. Nicht den He–man und auch als die Carrerabahn ihren Geist aufgegeben hatte, war ich ungerührt. Doch ich merkte, dass dieses Gefühl anders war, es war nicht sichtbar, man konnte es nicht kaufen und es war höchstwahrscheinlich nicht einmal verboten. Doch das machte es nicht minder interessant. So war ich mir ziemlich sicher - es wäre nur meins! Das zauberte mir unwillkürlich ein Lächeln ins Gesicht.

    Doch ich sollte mich täuschen, denn als meine Mutter mit den Fingerspitzen meine Haare berührte schienen feinste Antennen die Veränderung anzuzeigen. Sie erstarrte, schaute in mein Gesicht und lächelte unwillkürlich auch. Doch ihre Stirn zog sich in Falten, als wollte sie sagen: »Hier gibt es doch nix zu lachen!« Noch bevor sie das in Worte fassen konnte, ging die Tür auf. Sie zuckte richtig zusammen, und es tat mir weh, das zu sehen. Mein Vater stapfte in den Raum, und seine Gegenwart wollte das warme Gefühl vertreiben. Meine Haare stellten sich für einen kurzen Moment am ganzen Körper, vor allem, aber im Nacken. Schon hatte er seinen massigen Körper auf den Stuhl sacken lassen, der ächzte kurz, gab die Beschwerde aber schließlich auf.

    Alle, sogar mein kleiner Bruder, sahen plötzlich zu Boden, und ich hatte das Gefühl, dass die Welt in unserem kleinen Wohnzimmer den Atem anhielt. Ich überlegte, was man wohl alles bei einem Atemzug der Welt tun könnte, man sie vielleicht sogar retten? Könnte ich mich retten, bevor das Jüngste Gericht losbräche? Dann kam mir in den Sinn, dass er es doch merken musste. Alle waren so stocksteif und vor Angst erstarrt. Konnte er das wollen? Machte es ihm nichts aus, dass niemand ihn ansah? Ächtung war früher eine weitverbreitete Strafe und sehr machtvoll, wie ich ´mal in der Bücherei gelesen hatte.

    »Was soll das? Wieso starrst du mich so an?«, herrschte er mich mit seiner schneidenden Stimme an.

    »Ach Papa, ich hab nur geträumt!«

    »Sollst du nicht nachts träumen? Ich hab´ mir einen Sohn gewünscht, der weniger träumt und mehr tut!«

    »Nicht alle Träume werden erfüllt,« gab ich zurück. »Aber vielleicht hast du ja bei Leon mehr Glück.«

    Jetzt starrte er mich erbost an, aber die Schimpfworte steckten in seinem Hals und verursachten ein rotes Gesicht. Seine Hände jedoch lagen ruhig neben seinem Teller.

    Ich hatte wieder dieses schöne warme Gefühl. »Eins zu null!«, dachte ich. »Eins zu null!« Meine Mutter stellte die restlichen Schüsseln auf den Tisch und lächelte unsicher. Er schaute sie an und auch, wenn ich nicht annahm, dass er sie liebte, glaubte ich zu merken, wie sich in seiner Hose etwas regte, und das lenkte ihn von meiner Bemerkung ab. Nein, ich war schon lange kein Kind mehr.

    [6] Lutz

    Im Wald, da sind die Schweine, sie bleiben gern alleine.

    Nach dem Abendessen räumte Mama den Tisch ab. Wir stellten das Geschirr in die Spüle und sie ging ins Bad, denn sie würde, wie jeden Samstag in die Kirche gehen. Ich fragte mich, ob das noch helfen könne. Sie nahm Leon mit. Er hopste ihr um die Füße, als sie ihr Tuch band.

    »Mama du, ich hab noch Hausaufgaben. Und für mein Seelenheil ist´s glaub ich eh schon zu spät.

    «Hoffentlich bereust du das nicht irgendwann.« Sie lachte ein bisschen und das war selten. Doch ich ahnte nicht, wie recht sie behalten sollte.

    Endlich war ich allein. Vater war gleich nach dem Abendessen in die Kneipe aufgebrochen und nicht vor Mitternacht zurück zu erwarten. Es gab eben für jeden einen Ort, wo er sich am liebsten aufhielt. Bei meinem Vater war es die Kneipe. Der positive Nebeneffekt war, dass es uns dann auch besser ging, wenn er dort war. Ich freute mich darauf, wieder in diesem warmen Gefühl zu baden. Aber zuvor badete ich meine Hände in Spülwasser. Denn ich hatte beschlossen, meiner Mutter einen Gefallen zu tun. Immer wenn Papa nicht in der Nähe war, fühlte ich mich frei.

    Doch ich war traurig. Denn leider hatte ich nicht das Glück wie andere ständig frei zu sein. Nein, über mir hing andauernd dieses Damoklesschwert mit Namen Wolfgang. Wenn ich nur wüsste, was er wirklich wollte, warum er so brutal war und uns schlug. Ich würde ihm seinen Wunsch erfüllen. Aber ich kannte ihn nicht. Und wenn, hätte ich ihm geben können, was ihn glücklich macht?

    Nun hatte ich schon den letzten Teller in der Hand und spülte mit dem Lappen Soßenreste weg. Draußen lag alles so friedlich und still. Nebel war aufgezogen, und man sah von den Eichen und Kastanien nur noch die Silhouetten. Die Schwaden zogen über den Hinterhof die Straße entlang, gerade so, als seien sie Besucher aus der Schattenwelt oder Spione, die nur darauf warten jemanden zu verraten, gruppierten sie sich im Lichtkegel der alten Laterne. Ich hängte das Handtuch zur Seite und ging durch die düstere, etwas muffige Wohnung. Weißer Rauputz im Flur, alte ausgetretene Dielen am Boden, die knarrten, wenn man darüber ging. Hinten im schummrigen Wohnzimmer blähten sich die Gardinen mit den riesigen Blumen hinter dem gekippten Fenster. Schließlich öffnete ich die grün lackierte Tür, ging zu dem Bett, auf dem die selbst gemachte Steppdecke lag. Der Mond schien schon in mein Fenster und leckte mit seinen Strahlen auch an meinem Kissen. Hinter der altmodischen Schlafstätte, die zumindest entfernt an eine Koje erinnerte, war die Wand mit Holz vertäfelt. Verstohlen zog ich die eine Latte, die lose war, zur Seite und das abgewetzte Tagebuch hervor. Unter dem Bett stand die Kiste mit dem Bleistift, den ich brauchte. Ich schlug das Buch auf und malte große Buchstaben auf die nächste freie Seite N-i-n-i-v-e, was für ein Name, was für ein Mädchen. Sie hatte so schöne Augen, und ich begann, sie zu malen. Besser ich mache meine Augen kurz zu, um ihre ganz deutlich zu sehen. So döste ich im Mondlicht und Nini war bei mir und das warme Gefühl, das nur mir gehörte. Nini lachte. Das Lachen drang bis zu den Augen vor und dann drehte sie sich um. »Was ist? Willst du Nachlauf spielen?« Ich streckte meine Hände aus. »Bitte bleib doch! Du darfst auch neben mir sitzen!«

    Bumm, bumm, bumm drang es an mein Ohr. Konnten Ninis Schritte so schwer sein? Bumm, bumm, bumm. Ich riss die Augen auf. Das kam von der Tür. »Oh, bitte lass es nicht Vater sein!« Hatte er seinen Schlüssel vergessen? Blitzschnell checkte ich die Schlüssel am Bord. Seiner war nicht da. Ich machte schnell die Kette vor und öffnete einen Spalt: »Ja?«

    Die alte Plenschke vom Vierten stand mit einem Wäschekorb vor der Tür, den sie jetzt geräuschvoll auf den Boden knallte. Ich fuhr zusammen und machte schnell die Kette weg.

    »Ja, Frau Plenschke. Kann ich was für sie tun?«

    »Wo is'n dein Vater?«

    »Es ist niemand da Frau Plenschke. Kommen sie doch bitte morgen wieder. Am besten gegen Mittag.« Wenn ich an den Kater meines Vaters dachte, war das das Beste, was ich ihr raten konnte.

    »Ja, ich verstehe schon!« Sie schaute unter ihren Lockenwicklern auch sehr verständnisvoll aus, »Aber so geht es nicht, Junge! Mittlerweile habe ich deinem Vater mindestens schon fünf Mal gesagt, dass mit dieser Gemeinschaftswaschmaschine etwas nicht stimmt. Nun hat sie aber meine Lieblingsbluse gefressen. Sieh!«

    Unwirsch wühlte sie in dem Korb herum.

    »Dieser Ärmel ist das Einzige, was noch übrig geblieben ist.« Entsetzt starrte ich auf den gelben Fetzen aus Seide.

    Ich schluckte. »Leider kann ich ihnen wirklich nicht helfen. Mein Vater hat Termine – wichtige Termine!«

    »Schatzi!« Ohne Vorwarnung nahm sie mein Kinn zwischen ihre langen rotlackierten Fingernägel. »Den einzigen Termin, den dein Vater hat, ist der mit Captain Morgan. Ich verlange Entschädigung, Aufklärung und meine rote Pyjamahose, die hat das Ding sich nämlich ebenfalls einverleibt. Habe ich die bis morgen nicht, bin ich beim Chef der Siedlung und das wird deinem Herrn Vater gar nicht gefallen. Das glaub mir mal! Also hol ihn lieber ganz schnell.« Sie sprachs, drehte sich um und nahm ihren Korb. »So eine Frechheit! 50 Pfennig weg! Bluse weg...«, murmelte sie beim Gehen.

    »Wer ist Captain Morgan?«, rief ich. Aber sie winkte nur ab.

    [7] Nini

    Sie mögen nicht die Leute, denn sie sind ihre Beute.

    Meine Eltern sahen mich vielsagend an. »He, Nini, ich weiß, es ist schwer für dich, aber glaub mir, es tut mir leid, wenn es dir schlecht geht!« Mein Vater griff mir beschwichtigend an die Schulter. »Es geht mir nicht schlecht!«, hörte ich mich selbst sagen. Ja, eigentlich hatte die Begegnung mit diesem Lutz alles verbessert, vor allem meine Laune und die Angst vor der neuen Schule. Aber er war schon seltsam, so in sich gekehrt, anders als die Jungs in meiner alten Klasse. Jetzt wusste ich, warum ich ihn mochte - endlich mal ein Junge, der anders war.

    »Bist du eigentlich noch wach?« Mein Bruder hielt mir die Schüssel mit dem Karottensalat direkt unter die Nase: »Jetzt ess ich ihn selber!«

    »Tschuldigung!« Dieses Wort hatte ich lang nicht mehr zu Thomas gesagt und nun schaute er verdattert. Als sich seine Verwunderung wieder gelegt hatte, versuchte er in einer vermessenen Geste, meine Stirn mit seiner hellen Hand zu berühren, gerade als müsse er meine Temperatur messen. So weggetreten war ich allerdings auch wieder nicht. Sofort schlug ich seine Hand weg und stand so resolut auf, dass beinahe mein Stuhl umfiel.

    »Bin eh fertig!« Ich rauschte schnell ab, noch bevor meine Eltern ihre Münder leer bekamen, um etwas zu sagen. Außerdem war es offensichtlich, dass es vermeiden wollten aufzustehen, da ihre Knochen wegen des anstrengenden Umzuges sicherlich noch schmerzten. So konnte ich ein paar Minuten später unbehelligt mit Vanessa telefonieren, meiner Freundin, die ich am anderen Ende der Stadt zurücklassen musste. Um dies zu bewerkstelligen, musste ich die Schnur des Telefons bis zum Äußersten dehnen, sodass ich mich auf die Badewanne setzen konnte.

    »Das nächste Mal ruf ich dich aus der Telefonzelle an, dann kann wenigstens nicht jeder mithören.«

    »Wie, jeder?« wollte Vanessa wissen.

    »Ach meine Leute, die nerven mich!«

    »Verstehe! Und sonst so?«

    »Ach das Haus ist verlottert und es ist nicht viel los. Aber das, was los ist, gefällt mir.«

    »Also sind die Aussichten heiter?«, vermutete meine Freundin.

    »Wolkig mit Aufheiterungen«, bestätigte ich.

    »Verstehe!« sagte sie wieder und ich wusste, sie verstand tatsächlich.

    »Ich ruf dich am Montag an«, versprach ich.

    »Wir wollen nächste Woche ´mal ins Kino. 'Eis am Stiel' läuft - kommst du dann auch?«

    »Und wenn wir da nicht reinkommen? Ich muss immerhin zweimal umsteigen« gab ich zu bedenken.

    »Ach ich hab Schminke!« versicherte sie. »Na, dann - bis nächste Woche!«

    [8] Lutz

    Sie woll‘n die Schweine jagen und wollen sie erschlagen.

    Was sollte ich jetzt tun? Was nur, was? Meine Mutter war nicht da und das würde erfahrungsgemäß noch eine Weile so bleiben. Und Vater? Wenn er etwas hasste, dann eines: Wenn er aus seiner Kneipe gerissen wurde. Dort war der einzige Ort, wo er ein richtig guter Mensch war und kein Tyrann.

    Ich hatte es vor Jahren, als ich gerade in die Schule gekommen war, beobachtet, wie nett er zu der Bedienung gewesen ist. Silke hieß die damals.

    »Silke kauf dir was Schönes!«, hatte er gesagt und gelächelt. Da sah er aus wie ein anderer. Die Silke war sehr schön und hatte auch gelächelt. Ich stand in der Tür. Aber als er mich sah, da war er wieder ganz anders.

    Wütend schnaubte er: »Was willst du denn hier, du Rotznase?« Ich zog selbige hoch und sagte: »Die Mama hat gesagt, ich soll um Geld fragen. Sie will einkaufen

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