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Nadeln im Heu: DIE-Reihe
Nadeln im Heu: DIE-Reihe
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Nadeln im Heu: DIE-Reihe

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About this ebook

Mord oder Selbstmord? Der 57-jährige Ingenieur Villinger war auf dem Weg zu seiner Wohnung zusammengebrochen und starb während des Transports ins Krankenhaus an den Folgen einer Vergiftung. Motive für einen Selbstmord gibt es nach Aussagen zahlreicher Zeugen keine. Peter Brückner übernimmt den Fall. Als sich herausstellt, dass ein weiterer Ingenieur unter gleichen Umständen zu Tode kam, geht die Ermittlungsarbeit in eine neue Richtung.
LanguageDeutsch
Release dateMay 27, 2016
ISBN9783360501301
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    Book preview

    Nadeln im Heu - Fritz Erpenbeck

    Impressum

    eISBN 978-3-360-50130-1

    © 2016 (1968) Verlag Das Neue Berlin, Berlin

    Cover: Verlag

    Die Bücher des Verlags Das Neue Berlin erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

    www.eulenspiegel.com

    Fritz Erpenbeck

    Nadeln im Heu

    Das Neue Berlin

    Peter Brückner erzählt

    1

    Mord oder Selbstmord? Wenn diese Frage vor uns Kriminalisten auftaucht, wird die Arbeit manchmal besonders kompliziert. Die Ergebnisse der kriminaltechnischen Ermittlungen lassen in solchen Fällen zunächst beide Möglichkeiten zu, die Ergebnisse der psychologischen Ermittlungen nicht minder; das Motiv ist, wenn überhaupt andeutungsweise erkennbar, für einen Freitod zu unbestimmt und schwach, das Motiv für einen Mord fehlt oft gänzlich.

    So war es auch hier. Ein Ingenieur Thomas Villinger, siebenundfünfzig Jahre alt, war auf dem Wege von der Omnibushaltestelle zu seiner Wohnung zusammengebrochen und während des Transports zur Rettungsstelle an den Folgen einer Vergiftung verstorben. Nach den Aussagen zahlreicher Zeugen, insbesondere seiner Frau, mit der er in guter Ehe lebte, gab es keinerlei Motiv für einen Selbstmord.

    Es war auch höchst unwahrscheinlich und widersprach überdies allen Erfahrungen, daß der Mann, wenn er Selbstmord begehen wollte, das Gift nicht zu Hause, sondern in einem öffentlichen Lokal, einer Wirtschaft gegenüber seiner Arbeitsstätte, eingenommen haben sollte; denn er mußte damit rechnen, daß ihn der Tod im Omnibus oder auf der Straße ereilen würde. Wenn Herr Villinger damit nicht die Absicht einer Demonstration verfolgte – und dafür lag nach unseren Ermittlungen nicht der geringste Grund vor –, dann kam nur Mord in Frage. Aber auch dafür gab es nach all unseren sehr sorgfältigen Erkundungen weit und breit kein Motiv. Wir hatten nur einen Anhaltspunkt: In der Wirtschaft hatte Herr Villinger mit einem gutgekleideten, dickbäuchigen, etwa gleichaltrigen Mann, der eine Brille trug, eine viertel oder halbe Stunde in ruhigem, anscheinend sogar freundschaftlichem Gespräch zusammengesessen, dann hatten sich beide mit Handschlag voneinander verabschiedet; der Gesprächspartner hatte die Zeche bezahlt und war wenige Minuten später ebenfalls gegangen.

    Unsere Kommission war intensiv damit beschäftigt, diesen Gesprächspartner, den niemand zu kennen schien, ausfindig zu machen. Da wurde ich zu unserem Chef, Oberstleutnant Trewes, befohlen. Er reichte mir ein Aktenstück. »Übernehmen Sie bitte auch diesen Fall, Genosse Hauptmann«, sagte er.

    Ich warf einen Blick auf die erste Seite. »Warnemünde?« fragte ich erstaunt.

    Oberstleutnant Trewes nickte. »Sehen Sie sich die Geschichte an«, sagte er, »und Sie werden wissen, warum.«

    Als ich in meinem Büro die Akte aufschlug und einige Seiten gelesen hatte, wußte ich allerdings, warum der neue Fall nicht, wie es sonst selbstverständlich ist, von den örtlichen Dienststellen bearbeitet, sondern unserer Kommission zusätzlich übergeben wurde. Das war bis in Einzelheiten hinein der gleiche Vorgang wie unserer! Er ereignete sich einen Tag später. Man brauchte nur andere Namen einzusetzen. Ein Herr Waldemar Dönhoff, ebenfalls siebenundfünfzig Jahre alt, Ingenieur der Warnow-Werft, hatte mit einem, wie mehrere Zeugen aussagten, etwa gleichaltrigen, dicken Mann mit Brille in einem kleinen Lokal einen Grog getrunken, sich mit dem Unbekannten ungefähr eine halbe Stunde lang ruhig unterhalten; auf dem Heimweg war er plötzlich an den Bordstein gefahren, aus dem Wagen gestiegen, und während noch einige Passanten hin und her rieten, ob er betrunken sei, war er verstorben. Wie Villinger an Gift.

    Das war der kurz zusammengefaßte Sachverhalt. Eine in der Kriminalistik unseres Staates beinahe absurde Sache. Allerdings sah es damals in manchem noch anders aus als heute. Unsere Kommission erhielt den Auftrag, nachdem wir kurze Zeit zuvor den Mord in der Künstlerpension Boulanka aufgeklärt hatten. Das war vor drei, vier Jahren.

    Als ich mich anschickte, den vorliegenden Bericht niederzuschreiben, und dafür das Material sichtete, wurde mir plötzlich bewußt, was man im Lauf der Zeit, oft absorbiert von seinen privaten und beruflichen Angelegenheiten, kaum richtig bemerkt: Wie schnell und grundlegend sich unser Leben ändert! Damals war die technische Revolution erst für wenige ein konkreter Begriff; an die Probleme der Leitungs- und Führungstätigkeit tasteten wir uns heran; in der Wissenschaft war man noch keineswegs zu echter Kollektivarbeit gelangt, der geniale – oft auch gar nicht geniale – Einzelgänger wurde noch stark überschätzt.

    Aber ich will hier beileibe keine politische Abhandlung schreiben, ich wollte lediglich den Leser bitten, das Gesamtmilieu dieses Berichts und einige darin vorkommende Geschehnisse nicht durch die Gegenwartsbrille zu sehen und zu werten.

    2

    Ich beauftragte Oberleutnant Becker, sofort nach Warnemünde zu fahren und dort, zusammen mit den Genossen, die den Fall Dönhoff bislang bearbeitet hatten, weiter intensiv zu ermitteln und dabei besonders auf Zusammenhänge mit unserem Fall Villinger zu achten.

    Oberleutnant Becker war für diese Arbeit gerade der richtige Mann. Seine Abneigung gegen jedes haltlose Spekulieren, seine Neigung, nur feststehende Tatsachen als beweiskräftig anzuerkennen, seine beinahe pedantische Arbeitsweise, gepaart mit streng logischem Denken und kriminalistischer Klugheit, würden ihn davor bewahren, aus der geradezu auffälligen Parallelität der beiden Fälle voreilige Schlüsse zu ziehen. Denn es ist ein alter Erfahrungssatz der Kriminalistik: Was allzu offen vor einem liegt, stimmt meist nicht. In unserem Beruf muß man stets mit den sonderbarsten Zufällen rechnen. Die überaus erstaunliche, ja verblüffende Ähnlichkeit des Geschehens in Berlin und in Warnemünde konnte trotz allem rein zufällig sein.

    Als Oberleutnant Becker dies vor seiner Abreise bei unserer Dienstbesprechung in seiner trockenen Art vortrug, griente Leutnant Lorenz, unser junger Mitarbeiter, lausbubenhaft. Wie ich ihn kannte, hatte er sich längst insgeheim eine bestimmt sehr phantasievolle Theorie zurechtgesponnen.

    »Halten wir folgende Tatsachen fest«, dozierte Becker. »Erstens, beide Tote hatten denselben oder einen ähnlichen Beruf. Aber aus der sehr allgemeinen Bezeichnung ›Ingenieur‹ läßt sich gar nichts schließen. Der eine war Statiker, also Mathematiker, der andere, soweit das aus den bisherigen Unterlagen hervorgeht, Spezialist für elektrotechnische Geräte auf Hochseeschiffen, also Physiker. Das ist ein großer Unterschied, eine nur scheinbare Parallele. Zweitens, beide haben das tödliche Gift in einem öffentlichen Lokal zu sich genommen, oder es ist ihnen dort beigebracht worden. Es handelt sich, wie die toxikologische Analyse besagt, in beiden Fällen um Nikotin, das, in Alkohol aufgelöst, nahezu geschmacklos ist. Ungefähr die gleiche, in den vorliegenden gerichtsmedizinischen Gutachten angegebene Menge angenommen, setzt die tödliche Wirkung frühestens nach vierzig bis fünfzig Minuten, spätestens in einer knappen Stunde ein; das ist von der physischen Konstitution des Vergifteten und einigen anderen Faktoren abhängig, etwa wenn hinterher noch Bier getrunken wurde. Zu beachten ist, daß der Tod ziemlich plötzlich, oft schlagartig, nach einem zwar starken, aber relativ kurzen Unwohlsein eintritt.«

    Kriminalchemie war Oberleutnant Beckers Steckenpferd, er betrieb sie im Fernstudium. Sicherlich hätte er seinen Vortrag auch jetzt noch weiter ausgedehnt und uns mit unverständlichen Formeln und Fachfremdwörtern eingedeckt, wäre ihm nicht Leutnant Lorenz ins Wort gefallen. »Gut und schön, aber was folgern Sie daraus?«

    »Daß hier eine echte Parallele vorliegt, besser gesagt: vorliegen kann.«

    »Und drittens?« fragte ich.

    »Das Zusammentreffen zweier gleichaltriger Männer mit einem, wenn nicht zwei verschiedenen, ebenfalls gleichaltrigen Männern in kleinen öffentlichen Lokalen. Hinzu kommt die von Zeugen als ruhig oder sogar kameradschaftlich bezeichnete Unterhaltung mit diesem Mann oder diesen Männern.«

    »Eine echte Parallele?« fragte ich.

    Becker hob abweisend die Hand. »Eine Parallele, die durchaus zufallbedingt sein kann. Genauso«, fuhr er fort, »verhält es sich mit der vierten Tatsache: Beide Opfer ereilte der Tod auf dem Heimweg. Hätte einer von beiden seine Wohnung früher erreicht und wäre dort gestorben, wäre die Parallele weiter fragwürdig geblieben.«

    »Das ist doch Sophisterei!« rief Lorenz temperamentvoll.

    »Entschuldigung, Genosse Oberleutnant. Was wollten Sie damit sagen?«

    »Sehr einfach«, antwortete Becker und lächelte überlegen.

    »Die Tatsache, daß der Tod in beiden Fällen auf der Straße eintrat, läßt keineswegs den Schluß zu, daß dies beabsichtigt war. Es kann in einem Fall beabsichtigt gewesen sein, im anderen nicht. Oder in keinem. Oder in beiden. Wohlbemerkt, Genossen, ich behaupte nicht etwa, daß es so war, aber ich möchte vermeiden, daß wir aus einer vielleicht ganz zufälligen Parallelerscheinung irreführende Schlüsse ziehen, die lediglich unsere Ermittlungen mißleiten würden.«

    »Mit anderen Worten«, warf ich leicht ironisch ein, »in beiden Fällen wird uns bis jetzt noch nicht einmal die Kardinalfrage beantwortet, ob Mord oder Selbstmord vorliegt.«

    »Wenn Sie gestatten, Genosse Hauptmann«, sagte der höfliche Oberleutnant Becker, »möchte ich die Kardinalfrage anders stellen: Gibt es überhaupt einen Zusammenhang zwischen beiden Fällen?«

    Ich nickte. »Hoffentlich verschafft uns Ihre Ermittlungstätigkeit in Warnemünde darüber bald Klarheit. – Viel Erfolg!«

    3

    In unserem Berliner Fall waren schon vorher von mehr als zwanzig unserer Mitarbeiter nicht weniger als dreiundfünfzig Menschen befragt worden, wie ja überhaupt, wenn es sich um die Aufklärung eines unnatürlichen Todesfalls handelt, vom ersten Augenblick an eine dem Laien unvorstellbar intensive und aufwendige Ermittlungstätigkeit der Kriminalpolizei einsetzt.

    Die Witwe des Ingenieurs Thomas Villinger und seine näheren Angehörigen, einen neunzehnjährigen Sohn und eine vierundzwanzigjährige verheiratete Tochter, hatte ich selbst befragt.

    Die Witwe, die in Angermünde geborene Klara Schulz, fünfundfünfzig Jahre alt, empfing mich in einer mit altmodischen Möbeln vollgestellten Neubauwohnung in Weißensee. Eine betuliche Frau, für deren Tagwerk mir Staubwischtuch, Blumengießkanne und Handarbeitsbeutel charakteristisch schienen. Während sie meine Fragen beantwortete, trocknete sie immer wieder die Tränen, die ihr unaufhörlich über die rosigen Backenpolster rannen. Sie sprach eintönig-weinerlich. »Thomas hatte keine Feinde«, sagte sie. »Thomas konnte gar keine Feinde haben. Er war ein so anständiger Mensch. Er tat niemand etwas zuleide. Alle mochten ihn gern. Sein Vorgesetzter, Herr Lüders, sagte öfter: ›Wenn alle Mitarbeiter so fleißig und zuverlässig wären wie Sie, Herr Villinger …‹« Sie wischte sich wieder die reichlich fließenden Tränen.

    »Litt Ihr Mann an einer Krankheit?«

    »Sein Herz war ein bißchen schwach. Wenn er Treppen steigen mußte, pustete er.«

    »Könnte es vielleicht sein, daß er außerdem noch an einer unheilbaren Krankheit litt, von der Sie nur nichts wußten?«

    Sie vergaß das Weinen und sah mich ärgerlich abweisend an. »Es gab bei Thomas nichts, was ich nicht wußte.«

    »Nun«, wandte ich freundlich ein, »es wäre doch denkbar, daß er plötzlich vom Arzt erfahren hätte …«

    Sie schüttelte den Kopf und fiel mir ins Wort: »Thomas war schon mindestens ein halbes Jahr lang nicht beim Arzt.«

    »Konnten Sie denn das kontrollieren?«

    »Da gab es nichts zu kontrollieren. Bei Thomas nicht. Ich wußte immer alles, was er tat. Er verschwieg mir nichts.«

    »Dann hat er Ihnen also auch gesagt, daß er sich am Donnerstagabend mit jemand treffen wollte?«

    Frau Villinger seufzte ein paarmal tief und weinte lange, bevor sie antwortete: »Er hat mir nur gesagt, daß er etwas später nach Hause käme. Ich sollte mich mit dem Abendessen danach richten. Aber es würde bestimmt nicht länger als eine Stunde dauern.«

    »Das wäre dann gegen neunzehn Uhr gewesen?«

    Sie nickte.

    »Frau Villinger«, mahnte ich, »Sie müssen sich zwingen, genau nachzudenken. Sie dürfen mir glauben, daß ich Ihren Schmerz verstehe und mitfühle. Aber Sie wollen doch gewiß ebenso wie wir, daß die unerklärlichen Umstände seines Todes festgestellt werden.«

    Wieder nickte sie, ziemlich lebhaft sogar.

    »Wir wissen bis jetzt nur, daß Ihr Mann sich nach Arbeitsschluß, also kurz nach siebzehn Uhr, in der Wirtschaft Lommer gegenüber dem Konstruktionsbüro mit einem etwa gleichaltrigen, dicken Herrn traf und sich mit ihm ungefähr eine Viertelstunde lang unterhielt. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, daß die beiden sich gestritten haben. Als Ihr Mann das Lokal verließ, hat er sich, wie der Wirt Lommer und zwei Gäste gesehen haben, von dem unbekannten Herrn freundschaftlich verabschiedet. Ihr Mann hat, wie die drei Zeugen übereinstimmend aussagten, keinen irgendwie erregten oder deprimierten Eindruck gemacht. Haben Sie vielleicht eine Vermutung, wer der Herr, mit dem Ihr Mann sich traf, gewesen sein könnte?«

    Sie schüttelte den Kopf.

    »Frau Villinger«, gab ich ihr zu bedenken, »wenn Ihr Mann, wie Sie vorhin erklärten, Ihnen stets alles mitzuteilen pflegte, dann müßte es Sie, zumindest später, doch stutzig gemacht haben, daß er Sie diesmal im unklaren gelassen hatte. Aber vielleicht hat er Ihnen den Namen des Herrn genannt, und Sie haben nur nicht darauf geachtet oder ihn vergessen.«

    Sie schüttelte abermals den Kopf. »Ich glaube nicht«, sagte sie nach einer Pause des Nachdenkens. »Nein, Thomas hat nur gesagt, ich sollte mit dem Abendessen warten. Er träfe sich mit einem Bekannten, der ihn am Vormittag angerufen hätte.«

    »Das ist ja ganz neu, Frau Villinger! Es hat ihn also jemand angerufen. Wann? Und wie lange dauerte das Gespräch? Welchen Eindruck machte Ihr Mann danach?«

    »Nicht hier zu Hause. Wir haben gar kein Telefon. Im Büro. Thomas hat es mir beim Mittagessen erzählt.«

    »Wie – er hat lediglich gesagt, jemand habe ihn im Büro angerufen, um sich mit ihm zu treffen, und Ihr Mann, der Ihnen doch sonst alles mitteilte, hat Ihnen weiter nichts erzählt? Er hat nicht einmal den Namen des Anrufers genannt? Fanden Sie das denn nicht sonderbar?«

    Wieder weinte Frau Villinger lange und ausgiebig. Dann sagte sie monoton: »Der Herr wäre nur vorübergehend in Berlin, nur ganz kurz.«

    »Sehen Sie, Frau Villinger, das ist wichtig für uns! Was hat Ihr Mann noch erzählt?«

    »Thomas sagte, er könnte nicht gut absagen, er müßte sich wohl oder übel mit ihm treffen. Aber er brächte ihn bestimmt nicht mit zum Abendessen.«

    »Denken Sie bitte mal scharf nach, Frau Villinger. Hat Ihr Mann gesagt oder wenigstens eine Andeutung gemacht, warum er seinen Bekannten – denn um einen solchen handelte es sich doch zweifellos – nicht zu sich nach Hause mitbringen wollte?«

    Die Antwort, die ich nun erhielt, machte mir klar, wie unsagbar dürftig die Anhaltspunkte waren, um tatsächlich oder psychologisch zu irgendeinem Motiv vorzudringen.

    Frau Villinger antwortete, während ein neuer Tränenguß ihr breites, gutmütiges Gesicht näßte: »Weil wir uns ungestört die dritte Folge des Fernsehspiels ansehen wollten.«

    Auch alle weiteren Antworten Frau Villingers brachten mich nicht weiter. Sie vertieften lediglich den Eindruck, den ich schon beim Betreten der Wohnung von dem kleinbürgerlich abgeschiedenen Milieu des Verstorbenen und seiner Frau hatte. Es gab kein erkennbares, ja, nicht einmal zu vermutendes Motiv für einen Mord oder Selbstmord.

    4

    Oberleutnant Becker hatte zwei Tage vor seiner Abreise bei dem Vorgesetzten Villingers, Herrn Lüders, sowie bei der Kaderleitung des Betriebs Auskünfte eingeholt, und andere Mitarbeiter der Kriminalpolizei hatten etwa ein Dutzend Architekten, Planer, Bauführer, Zeichner und Büroangestellte befragt, die unmittelbar oder mittelbar mit dem Toten zu tun gehabt hatten.

    Zunächst ergab sich ein sehr einheitliches Bild. Thomas Villinger, ein kleiner, unansehnlicher Mann, war eine schwerfällige, gutmütige Natur. Er hatte tatsächlich keine Feinde, nicht einmal Widersacher, wenn man von jenen Kollegen und Kolleginnen absieht, die ihn für gesellschaftliche Interessen zu gewinnen versuchten. Dagegen leistete er zähen Widerstand.

    »Nicht etwa aus politischen oder sonstwie weltanschaulichen Gründen«, sagte Herr Lüders zu Becker, »sondern aus, wenn ich so sagen darf, angeborener Bequemlichkeit. Kollege Villinger kannte nur eines: sein Zuhause. Er war ein Mensch, wie er bei uns kaum noch vorkommt – ein Stehengebliebener.«

    Becker erkundigte sich nach Villingers beruflicher Tätigkeit und seinen Leistungen.

    »Er war die Zuverlässigkeit in Person. Sein Fleiß und seine Pünktlichkeit in allen Dingen waren vorbildlich. Neuerungen pflegte er – ohne es auszusprechen – zunächst abzulehnen, aber er fügte sich dann achselzuckend. Es dauerte stets eine Weile, bis er von ihrem Nutzen auch für seine Arbeit überzeugt war. Dann aber arbeitete er nach der neuen Methode ebenso gewissenhaft und

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