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Integrativer Unterricht in der Praxis: Erfahrungen - Probleme - Analysen
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Integrativer Unterricht in der Praxis: Erfahrungen - Probleme - Analysen

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Praxisnahe Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem Schulalltag einer Volksschul-Integrationsklasse gibt Susanna Bews in diesem Buch weiter, fundierte Informationen, wie die neuen Aufgaben gemeinsam bewältigt werden können. Ihr positives Resümee: Die individuellen, sozialen und kognitiven Fähigkeiten aller Beteiligten werden herausgefordert - Lernen mit hohem persönlichen und sozialen Nutzen kann erfolgreich stattfinden.
LanguageDeutsch
PublisherStudienVerlag
Release dateJun 8, 2016
ISBN9783706558198
Integrativer Unterricht in der Praxis: Erfahrungen - Probleme - Analysen

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    Integrativer Unterricht in der Praxis - Susanna Bews

    Literaturverzeichnis

    Vorwort

    Fördern ohne auszusondern

    Schulreform in Österreich ist im Zeichen der Bildungspartnerschaft ein schweres Unterfangen. Zentrale Merkmale der österreichischen Schulreform sind, bei starker parteipolitischer Fixierung, die Entstehung von Entscheidungsmonopolen, sowie Kompromiß und Stagnation1. Echte Bürgerbeteiligung und entsprechender Reformwille sind in der österreichischen Schulentwicklung-sgeschichte nicht bekannt.

    Umso erstaunlicher ist es, daß in den letzten Jahren von der Öffentlichkeit relativ unbeachtet eine bedeutsame Schulreform durch die Entwicklung von Formen des gemeinsamen Unterrichts von behinderten und nichtbehinderten Kindern in Gang gekommen ist. Initiativen von Eltern behinderter Kinder - quer zu allen politischen Parteien - haben es gemeinsam mit engagierten LehrerInnen und Expertinnen geschafft, eine Reform von unten einzuleiten2, deren Auswirkungen auf die gesamte Schule noch nicht vorherzusehen sind.

    Der neu eingeforderte Bildungsauftrag der Schule kann in diesem Zusammenhang so definiert werden: Fördern ohne auszusondern, wobei davon auszugehen ist, daß die Integration (Nichtaussonderung) pädagogisch für die Entwicklung aller Kinder - ob behindert oder nichtbehindert - förderlich ist, indem die individuellen sozialen und kognitiven Fähigkeiten und Möglichkeiten aller Kinder ohne sozialen Ausschluß in den Mittelpunkt gestellt werden müssen.

    Historisch ist die Entwicklung der Sonderschulen nicht von der Förderung behinderter Kinder ausgegangen, sondern von den katastrophalen Zuständen in der allgemeinen Schule (z.B. mit bis zu 100 Kindern in einer Klasse), die jede gemeinsame Entwicklung unmöglich machte3. Die folgende bürgerlich philantropische aber auch sozialdemokratische Vorstellung der speziellen Heilung, Therapie und Pädagogik für behinderte Kinder (z.B. bei Glöckel), kippte allerdings zunehmend in institutionalisierte Überwachung des Andersartigen und in gesellschaftliche Abwehr von Behinderung um4.

    Eltern von behinderten Kindern waren hingegen immer schon gegen Aussonderung. Daß sie sich nun politisch organisieren und auch LehrerInnen darin Chancen für eine Schulreform sehen, die ihren Schulalltag entscheidend verändern kann, ist neu. Sicher hat dazu beigetragen, daß sich in den letzten Jahren die Möglichkeiten von sozialen Bürgerbewegungen auch bei uns verbessert haben und daß eine größere Sensibilität, bezogen auf die Einlösung von deklarierten Grundrechten bzw. Menschenrechten, entstanden ist.

    Bei den neuen Bestrebungen nach Integration handelt es sich hier allerdings nicht um isolierte österreichische Versuche. Im Gegenteil: Österreich ist - bezogen auf den internationalen Stand der Integration von behinderten Menschen - ein Entwicklungsland (vgl. z.B. die Integrationsgesetze folgender Staaten: USA, Kanada, Norwegen, Dänemark, Schweden, England, Spanien, Italien). Dennoch wurden in Österreich in den letzten Jahren sowohl in Kindergärten als auch in Schulen weitgehende Erfahrungen mit der Integration gesammelt. Diese Erfahrungen sind überaus positiv und zugleich zutiefst widersprüchlich, wobei es für die zukünftige Entwicklung entscheidend sein wird, ob die notwendigen strukturellen Voraussetzungen für die Nichtaussonderung geschaffen werden.

    Das vorliegende Buch gibt einen ausgezeichneten Einblick in den Schulalltag einer integrativen Klasse und bietet gleichzeitig eine wichtige Analyse, wie Integration in Zukunft besser unterstützt werden kann, damit die Integration in Österreich nicht ein einsames Pflänzchen im Irrgarten österreichischer Schulreform bleibt.

    Volker Schönwiese

    Vorwort zur 2. Auflage

    Es ist sehr erfreulich, daß dieses Buch in die zweite Auflage geht und inzwischen so etwas wie ein Standard-Werk zum integrativen Unterricht geworden ist. Der Bedarf nach praxisnaher Dokumentation und Analyse der schulischen Integration ist offensichtlich groß.

    In Ergänzung zum ersten Vorwort kann noch angemerkt werden, daß sich schulpolitisch Versuche der Spaltung ohne Reform abzeichnen. Einerseits wird Integration geduldet (15. SCHOG-Novelle, Versprechen der Übernahme der Integration in die Sekundarstufe), andererseits versucht die Sonderschulen auszubauen sowie mehr und neue äußere Differenzierung einzuführen (Einführung von Eliteschulen, Versuche der Veränderung der Lehrpläne von Hauptschule und AHS-Unterstufe, der Ruf nach Privatisierung).

    Es ist zu befürchten, daß die Selektionsfunktion von Schule durch immer mehr äußere Differenzierung verstärkt wird und Integrationsklassen zum Angebotsteil eines sich weiter spaltenden Schulsystems wird. Deregulierung (statt Erstarrung), und damit Abschied von gemeinsam begründeter Politik, ist nicht umsonst das wichtigste Schlagwort der letzten Jahre. Das schon genannte Ziel von Integration, erstmals in der Schulgeschichte wirklich eine gemeinsame Schule für alle zu schaffen, wird so unterlaufen und in sein Gegenteil verkehrt.

    In diesem Zusammenhang ist es ein lokales österreichisches Phänomen der erstarrten Bildungspartnerschaft, daß ein gemeinsamer Unterrichts der 10-15jährigen z.B. in Form der integrierten Gesamtschule hierzulande als sozialistisches Schreckgespenst gehandhabt wird, obwohl in nahezu allen entwickelten Industriestaaten (mit der Ausnahme des deutschsprachigen Raumes und Japan) die integrierte Gesamtschule schon seit Jahrzehnten umgesetzt ist (allerdings ohne daß behinderte Kinder damit auch schon integriert wurden).

    Es muß immer wieder betont werden: Integration ist keinesfalls irgend eine humanitär/karitative Idee. Die Forderung nach Integration und damit nach innerer Differenzierung (Individualisierung und Kooperation am gemeinsamen Gegenstand - bitte keinesfalls mit den sog. Koop-Klassen verwechseln!5) ergibt sich als klare Konsequenz, wenn Bildung wissenschaftlich begründet und nach unseren besten Kenntnissen umgesetzt werden soll.

    Hoffentlich bleibt die Chance im österreichischen Bildungssystem, Integration und neue Qualität einzuführen, weiter bestehen.

    Anmerkungen

    1   vgl. DERMUTZ, Susanne: Der österreichische Weg - Schulreform und Bildungspolitik in der Zweiten Republik. Verlag für Gesellschaftskritik, Wien 1983, Seite 54 ff.

    2   vgl. FORCHER Heinz/SCHÖNWIESE Volker: Zur Geschichte der schulischen Integration in Österreich. In: MEISTER, Birgit/SCHÖNWIESE, Volker/THALER, Klaus/WIESER, Ilsedore (Hrsg.): BLINDER FLECK UND ROSAROTE BRILLE. Behinderung und Integration als Herausforderung für Familie, Kindergarten und Schule. Österreichischer Kulturverlag, Thaur 1989, Seite 91-105.

    3   vgl. ALTSTAEDT Ingeborg: Die Entwicklung der Sonderschule als Teil des niederen Schulwesens. In: DEPPE-WOLFINGER, Helga (Hg.): Behindert und abgeschoben. Zum Verhältnis von Behinderung und

    Gesellschaft. Beltz Verlag, Weinheim 1983, Seite 131-144.

    4   vgl. GSTETTNER, Peter: Die nicht stattgefundene Begegnung oder: Zur fortgesetzten Abwertung von Abweichenden. In: FORSTER,

    Rudolf/SCHÖNWIESE, Volker (Hg.): Behindertenalltag - wie man behindert wird. Verlag Jugend und Volk, Wien 1982, Seite 131-152.

    5   FEUSER, Georg: Behinderte Kinder und Jugendliche zwischen Integration und Aussonderung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1995, Seite 168 ff

    Einleitung

    Den Schulversuch Integration gibt es in Wien seit Herbst 1986. Nichtbehinderte und behinderte Kinder lernen und leben miteinander und werden auf ihre Zukunft vorbereitet.

    Es war sicher kein Zufall, daß ich als Lehrerin mit diesem Schulversuch noch vor seiner Installierung bekannt wurde. Meine eigene Sozialisation wurde geprägt durch Achtung vor allen Menschen und von der Solidarität gegenüber Minderheiten. Meine Eltern, die als Widerstandskämpfer in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt wurden, lehrten mich Toleranz gegenüber Menschen, die anders sind.

    Die Integrationsbewegung wurde aufgrund der Forderungen und des Durchhaltevermögens einiger engagierter Elterngruppen möglich gemacht. Betroffene Eltern haben großen Anteil daran, daß in Wien die erste Integrationsklasse eröffnet werden konnte. Die Integrationsbewegung hat an der Basis eine solidarische Kraft entwickelt. Dadurch ist sie nicht mehr so leicht zu stoppen und kann darüber hinaus ein Potential im täglichen Kampf gegen die Ausgrenzungs- und Isolationstendenzen der Gesellschaft bilden. Dieses Widerstandspotential wird umso wichtiger, je härter die Gesellschaft gegenüber allen Abweichenden, Außenseitern, ‘Minderleistern’, Alten, Kranken, Fremden und ‘Nicht-Normalen’ mit dem Stempel der Randgruppen-Stigmatisierung reagiert. (GSTETTNER 1990, S. 9)

    Für mich ist die Auseinandersetzung mit Fragen der Integration vor allem mit einer Demokratisierung unserer Schulen verbunden, die auf einem humanen Menschenbild basieren sollte, wo Platz ist für alle Kinder, wo das gemeinsame Lernen nicht als Gnadenakt oder Zugeständnis an einige engagierte Utopisten gesehen wird, sondern als selbstverständliches Recht.

    1

    Vorbereitungsphase

    Ich war bereits zwei Jahre an dieser Volksschule, als ich im April 1986 davon in Kenntnis gesetzt wurde, daß ein Versuch zur Integration behinderter Kinder in das Regelschulwesen gestartet werden sollte. Eine sehr engagierte Kollegin unseres Lehrkörpers sollte mit dem Pilotversuch in Wien beginnen. Ich möchte nicht unerwähnt lassen, daß an unserer Schule der Anteil ausländischer MitschülerInnen sehr hoch ist, es für uns also immer schon Berührungspunkte zur Auseinandersetzung mit Benachteiligungen von Minderheiten in unserem Schulsystem gegeben hat und wir dadurch mit Vorurteilen gegenüber Minderheiten bereits konfrontiert waren. Auch deshalb wollten wir uns und die Eltern unserer Schule mit dem Schulversuch auseinandersetzen, zumindest sollte er bekannt gemacht werden.

    Um uns alle mit der Thematik von Behinderung in unserer Gesellschaft im allgemeinen und der möglichen Integration geistig behinderter Kinder vertraut zu machen, starteten wir eine Projektwoche an unserer Schule, ich knüpfte Kontakte zu Institutionen, die sich mit Behinderung befaßten, und wollte solche selbst kennenlernen. Bei meinen ersten Hospitationsbesuchen in Sonderanstalten entdeckte ich auf einmal Ängste und unbekannte Emotionen, die ich mir zuerst nicht erklären konnte. Vor allem interessierte mich immer mehr die Frage: Wo sind denn die behinderten Menschen in unserem Alltag? Ich war vorher in meinem Leben nur peripher mit Behinderten konfrontiert worden, im Straßenbild fallen sie nicht auf, und wenn man auf einen Behinderten trifft, schaut man verlegen und mitleidig weg und weiß nicht recht, wie man sich verhalten soll. Andererseits sah ich nun in Heimen und Sonderschulen eine so große Anzahl geistig behinderter Kinder, daß ich mich immer stärker fragen mußte: Warum steckt man sie einfach weg, sondert sie aus der ‘normalen’ Gesellschaft aus? Gefährden sie gar unser Bild einer gesunden Gesellschaft? Nach außen hin wird diese Absonderung immer als besondere Betreuung angepriesen, in speziellen Institutionen für Behinderte könnten diese Menschen fürsorglich und besser betreut werden. Nach meinen Besuchen in solchen Anstalten kam diese meine Einstellung zu den Sondereinrichtungen sehr ins Wanken (siehe BEWS 1989, S. 21). Der Gedanke: Integration setzt dort ein, wo zuerst ausgesondert wurde gewann immer mehr an Bedeutung. Dabei wurde mir immer klarer, daß sich Überlegungen im Zusammenhang mit der Integration auf alle Gruppen, die derzeit aus unserem vielgegliederten Schulsystem ausgesondert werden, umlegen lassen.

    Während der Projektwoche, an der sich alle Klassen unserer Schule beteiligten, versuchten wir Erstkontakte mit Klassen von Sonderschulen in kooperierender Form zu knüpfen, gemeinsame Ausflüge, Spiel-, Musik- und Werkstunden zu gestalten, da wir der Meinung waren, daß sich Ängste und Vorurteile gegenüber Behinderten vor allem im persönlichen, intensiven Kontakt abbauen lassen. Aus der Vorurteilsforschung ist z.B. bekannt, daß häufige oberflächliche und zufällige Kontakte gar nichts an Vorurteilen ändern, sondern sie eher verstärken. (CLOERKES 1982, S. 565) Für die Eltern organisierten wir einen Film- und Diskussionsabend, der über Probleme behinderter Kinder Auskunft gab und eine Diskussion mit Hilfe einer betroffenen Mutter in Gang bringen sollte. Das alles war nur ein Tropfen auf den heißen Stein, jedoch sicherlich eine Möglichkeit, daß sich alle Menschen in unserem Schulhaus und die Eltern, deren Kinder bei uns zur Schule gehen, mit den Problemfeldern ansatzweise auseinandersetzen konnten und niemand im neuen Schuljahr gänzlich unvorbereitet mit behinderten Kindern zusammentreffen würde.

    Während dieser Zeit stellte ich fest, wie groß die Chancen waren, mit so einem Schulversuch innovative Arbeit für die Unterrichtsarbeit insgesamt zu leisten. Unterrichten nach verschiedenen Lehrplänen, kein Druck mehr, alle Kinder über einen Kamm scheren zu müssen. Die Möglichkeit, aus der Situation der Einzelkämpferin in der Schulklasse herauszutreten, mit einer Kollegin über Probleme sprechen zu können (damals wußte ich noch nicht, wie sehr die Kooperation aller Beteiligten einen Kernpunkt der Integrationspädagogik darstellt), all dies sah ich als neue Denkanstöße, an meiner eigenen Unterrichtsarbeit Veränderungen vornehmen zu können.

    Persönliche Vorbereitung

    Im April 1987 erfuhr ich, daß ich im kommenden Schuljahr die nächste erste Klasse an unserer Schule, die integrativ - im Sinne einer gemeinsamen Beschulung nichtbehinderter und behinderter Kinder - geführt werden sollte, übernehmen dürfe. Ich besuchte daraufhin verschiedenste Sondereinrichtungen und vor allem die Sonderschule, von der wir die Kinder zugewiesen bekommen würden. Dies war mein erster bewußter Kontakt mit geistig behinderten Kindern, der sich über einen längeren Zeitraum erstreckte. Ich war geschockt über meine eigenen zwiespältigen Gefühle, einerseits wollte ich meinen theoretischpädagogischen Ansatz einer Schule für alle Kinder verwirklichen, andererseits wußte ich selbst noch nicht, wie ich mit Behinderung umgehen sollte, zumal ich die Atmosphäre in den Sonderschulen, die ich primär als Aufbewahrungsanstalt erlebte, erst verdauen mußte. (Manchmal hatte ich das Gefühl, ich könne dieses Haus nie wieder betreten.)

    Zu diesem Zeitpunkt kannte ich schon die Kollegin, mit der die kommende Integrationsklasse geführt werden sollte. Wir trafen uns öfter, ich lud sie zu mir ein, um einen Gedankenaustausch zu forcieren. Als ich meine Betroffenheit und Ängste über meine Erlebnisse und Eindrücke in den Sonderschulen für Schwerstbehinderte äußerte, wurde ich heftigst kritisiert. Das als Entschuldigung für die Berechtigung der derzeitigen Zustände der Sonderschule gebrachte Argument: Es wird aber immer Kinder geben, die man nicht im Regelschulwesen halten kann, und für die braucht man dann die Sondereinrichtung stieß bei mir auf heftigen innerlichen Widerstand. Ich konnte diese Aussage emotional nicht annehmen, zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht rational argumentieren. Das veranlaßte mich auch, mich mit der vielschichtigen Problematik über Behinderung und der sogenannten Integrationsfähigkeit noch intensiver auseinanderzusetzen. Ich wollte es nicht gelten lassen, daß die behinderten Kinder, die ab nun in die Regelschule gehen würden, ausgesucht sein könnten. Sicher beginnt man sich tiefergreifend mit dem Sinn einer Sache dann auseinanderzusetzen, wenn einem Begrenztes und Negatives widerfährt. Inzwischen weiß ich, daß die Frage: Wer kann integriert werden bzw. wer nicht? an sich unzulässig ist. Damit wird womöglich impliziert, daß nur Kinder mit Behinderungsformen oder einem Grad der Behinderung aufgenommen werden können, die einem herkömmlichen, normalen Unterricht zu folgen imstande sind, die also anpassungsfähig genug sind, keine Veränderung des Unterrichts inhaltlicher und organisatorischer Art nötig zu machen. Damit wird eine Schuldzuweisung von Integrationsfähigkeit auf das betreffende Kind veranlaßt, anstatt die Möglichkeiten und Grenzen im derzeitigen Schulsystem zu suchen. Eine Veränderung der Bedingungen, die eine Schule für alle Kinder ermöglicht, kann aber nur stattfinden, wenn sie auch als konkrete Schwierigkeiten einzelner Personen in bestimmten Situationen und der Institutionen, in die sie eingebettet sind, gesehen werden. Hinz meint zu den Zweifeln über diese Frage: ..., daß die Kategorie ‘Integrationsfähigkeit’ keinen positiven Beitrag um integrative Beschulung zu leisten vermag. (HINZ 1990, S. 134) Die Auseinandersetzung mit diesen immer wieder auftretenden Argumenten lehrte mich zu erkennen, wie oft ich die falschen Fragen stellte, und machte mich sensibel dafür, daß Integration nicht mit verdeckter oder beschönter Form von Aussonderung beginnen dürfe oder gar eine Schaffung von zwei Klassen von Behinderten, nämlich integrierbare und nicht integrierbare, zur Folge haben dürfe. Akzeptiert man die gemeinsame Beschulung aller Kinder als menschliches Grundprinzip, werden alle theoretischen Begründungen überflüssig. Es sind unsere grenzen, wenn wir es nicht schaffen, uns das gemeinsame leben und lernen mit einem schwer behinderten kind vorzustellen, wenn wir die notwendigen organisatorischen bedingungen nicht herstellen können, um ein schwer behindertes kind täglich in die schule zu transportieren, zu windeln, zu füttern. (SCHÖLER 1987, S. 241)

    Vorbereitung auf die Kinder und die Eltern

    Nach den ersten Versuchen, unsere beiden Standorte zu bestimmen, versuchten wir Lehrerinnen, Informationen über die Kinder, mit denen wir arbeiten sollten, einzuholen. Ich wußte nun, daß die Klasse aus 15 deklarierten Volksschulkindern und drei schwerstbehinderten Kindern bestehen würde. Zusätzlich wurden wir gebeten, ein Kind aufzunehmen, von dem bekannt war, daß es bereits zweimal aus der Volksschulklasse zurückgestellt worden war, das jedoch nicht als geistig schwerstbehindertes Kind einzustufen war, zumal sich die Eltern geweigert haben, das Kind in eine Sonderschule zu geben. Anfangs war ich sehr unsicher darüber, wie ich mit dieser Tatsache umgehen sollte, einerseits wollte ich nicht, daß die Zahl der aufzunehmenden Kinder überschritten würde (zu diesem Zeitpunkt war die Richtlinie: 15 Volksschulkinder), andererseits kam es mir absurd vor, ein Kind in die Allgemeine Sonderschule geben zu müssen, wo doch die Integrationsklassen gerade gestartet wurden. Nach einer Aussprache mit der Mutter des Kindes und einem Kennenlernen von Herbert nahmen wir ihn gerne zu uns in die Klasse. Die Mutter meinte, daß sie alles in ihrer Macht Stehende unternehmen würde, um ihrem Kind die Laufbahn einer Sonderschule zu ersparen, und wenn es sein müsse, würde sie es privat unterrichten lassen.

    Wir beriefen unseren ersten Elternabend ein, der noch im Juni - also vor Beginn der großen Ferien und der ersten Klasse - stattfand. Initiative dazu und das Besorgen aller Adressen ging auf meine Bemühungen zurück, es ist nämlich nicht üblich, den ersten Elternabend noch im Juni vor Beginn des folgenden Schuljahres abzuhalten, ich wollte jedoch die Eltern und die Kinder, die mitkommen wollten, schon vorher kennenlernen, und sie sollten die Möglichkeit erhalten, Fragen zu stellen, die Schule und uns kennenzulernen.

    Beim Elternabend überwog die positive Stimmung, es gelang im großen und ganzen, Inhalte und Schwerpunkte über das kommende Schuljahr zu vermitteln.

    Protokollauszug dieses Elternabends:

    Ein Vater: Ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen, wie soll der Unterricht aussehen, sind die Kinder immer beisammen, wie wird die Notengebung aussehen? Die Kinder können doch gar nicht alle rechnen lernen? (Damit sind die behinderten Kinder gemeint). Eine Mutter: Werden die Kinder auch genug lernen für ihre Zukunft? Können wir zuschauen kommen?

    Diese Beschreibung zeigt deutlich, daß die Eltern von offizieller Seite keinerlei Informationen über den Schulversuch erhalten haben, außer einem kurzen Gespräch bei der Einschreibung ihres Kindes, da ja die Teilnahme am Schulversuch auf freiwilliger Basis erfolgen soll, daß keinerlei Vorstellungsmöglichkeit Platz hat und auch Ängste versteckt sind, sich konkret auszudrücken. Vor allem was Fragen über die behinderten Kinder betrifft, ist große Unsicherheit spürbar, manche Eltern wissen nicht einmal, wie sie solche Kinder benennen sollen. Da ist es vielleicht einfacher, man übersieht einstweilen die Behinderten, es ist doch peinlich, über sie zu sprechen, wenn die betroffenen Eltern anwesend sind. Auch ich war der Aufgabe noch nicht gewachsen, offen und ohne Scheu in eine Diskussion über die angerissenen Problemfelder einzusteigen.

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