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Die Werke der Barmherzigkeit
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Ebook174 pages2 hours

Die Werke der Barmherzigkeit

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Von Thukydides an bilden Grausamkeit und Geschichte ein unzertrennliches Paar. Doch was treibt uns dazu, zu foltern, zu schänden, zu töten? Was ist geschehen, wenn »man nicht länger ermisst, was man liebend gewinnt, was man hassend verliert«? Vor allem aber: Was sind uns angesichts dieser Geschichte heute die Werke der Barmherzigkeit aus dem Matthäus-Evangelium?
Der Erzähler erforscht die Erinnerung der einstigen Erbfeinde Deutschland und Frankreich. Seine unorthodoxe Methode: Er befragt nicht nur die Literatur, er geht tiefer und folgt der Geschichte bis hinein in die Körper deutscher Männer. Hier erst findet er, was Geschichte sinnlich erfahrbar macht. Was über Generationen tief in uns eingebrannt ist, beginnt plötzlich aufzuflammen. Die Grauen der Vergangenheit werden wach, werden spürbar, werden wirksam.
Trost sucht der Erzähler in der Malerei Caravaggios, die der Wirklichkeit oft mehr Realität abringt. Er flieht nicht in das Refugium der Kunst, er trägt sie zurück in den Alltag: Er überträgt ihre erotische Dimension auf die Körper seiner Liebhaber, sieht in ihnen auch die Enthauptung Johannes des Täufers oder den Ungläubigen Thomas, oder den »verletzten Körper eines Heiligen«.
Riboulet zeigt, wie es gelingen kann, den schmalen Grat zwischen Eros und Thanatos mit historischem Bewusstein und erotischer Hingabe zu erkunden. Mit subtiler Kraft seziert der ebenso scharfsinnig analysierende wie sinnlich empfindende Autor die historisch aufgeladenen Körper, dass es uns durch Mark und Bein geht.
LanguageDeutsch
Release dateJun 16, 2016
ISBN9783905951868
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    Die Werke der Barmherzigkeit - Mathieu Riboulet

    nichts.

    1.

    Die nadten bekleiden

    LANGE BIN ICH ein Gefangener des vagen, unausgesprochenen Gefühls geblieben, demzufolge Deutschland nicht zu bereisen sei. Zwar ließ ich mich von keiner bestimmten Vorstellung leiten, weniger noch von Groll, in meiner Familie aber ging man ganz einfach nicht nach Deutschland. Wenn überhaupt, durchfuhr man es hastig, um nach Dänemark, nach Polen zu gelangen, oder auch auf dem Rückweg von Ungarn. Nun, da mehr als die Hälfte meines Lebens vorüber ist, sage ich mir, dass es an der Zeit sei, dieses große Stück Europas zu sehen, das sich vom Rhein bis zur Oder erstreckt, von den Alpen bis zur Ostsee, an der Zeit, die Menschen zu sehen, die es bevölkern, von ihm träumen, an es denken, von ihm leben. Ich will den Körper eines dieser Männer in meine Arme schließen, deren Sprache ich nicht spreche, den Körper eines dieser Männer, die die Geschichte mir lange Zeit feindlich gegenüberstellt hat, den Körper eines deutschen Mannes. Ich begebe mich also eines schönen Maientags nach Köln, es ist ganz nah, man muss nicht einmal den Rhein überqueren, und ich tue, was für einen Franzosen seine Sinnesschwere hat: mit einem Deutschen schlafen. Es war einfach und zart. Woraufhin ich beschloss, dass ich Deutschland und die Deutschen liebte: Man kann nicht ständig behaupten, dass immer nur Tod und Verderben den Rhein überquert haben.

    Einen Körper zu berühren stellt keine einfache Geste dar, sie ist sogar derart heikel, dass man sie des Denkens beraubt hat, um aus ihr einen Automatismus zu machen. Allein die Verrückten, Mörder und Liebenden halten, bevor sie den anderen erreichen, in ihrer Bewegung einen Moment lang inne. Sich die Zeit des Blicks gewähren, sich die Zeit des Denkens gönnen, und dann erst, wenn man alles gewählt hat – den Ort, den Moment und die Geste –, die Hand auflegen, das eben erlebte ich mit dem deutschen Körper. Doch frage ich mich auch, wie man sich packt, wenn man beabsichtigt, einander umzubringen. Mit der Geste eines Kriegers?

    Ich hob meinen linken Arm, legte meine Hand an seinen Nacken, fühlte ihn breitbeinig dastehen, stark und stämmig, regungslos. So dockte ich behutsam an. Dann, in der plötzlichen Geschmeidigkeit seiner Nackenmuskulatur, fühlte ich unsere Eintracht sich ausbreiten. Nun legte sich seine linke, deutsche Hand ihrerseits um meinen Nacken und zog gegen den seinen meinen nun furchtlosen französischen Körper, meine Lippen betteten sich in die seinen, meine rechte Hand direkt unterhalb seines linken Schlüsselbeins, dort, wo stämmige Männer das exakte Maß ihrer Beschaffenheit preisgeben. Ich verspürte ein heftiges Verlangen nach fester Struktur, starken Knochen und Ankerplatz, das diese Geste befriedigte. Von seinem Nacken ablassend, tastete sich meine linke Hand durch den feinen Stoff seines Hemdes hindurch langsam an seinen Wirbeln hinab und verursachte gleich einem Reflex eine analoge Bewegung seiner Finger auf meinem Rücken, und diese langsame Erkundung lieferte mir die ersten ersehnten Schlüssel zu der eigenartigen und komplexen Konstruktion, vor der ich stand. Deutsch. Dieser angezogene Junge ist für mich bereits nackt, gekleidet in mein Begehren.

    Vorher hatte ich nie an die Deutschen, an Deutschland, an die deutsche Sprache denken können, ohne am Horizont dieser Gedanken nicht auch die Spur des Konflikts sich abzeichnen zu sehen, der uns dreimal feindlich gegenüberstellt hat, eine umso verderblichere, hartnäckigere Spur, als sie ererbt war und nicht erlebt. Meine Urgroßmutter, die starb, als ich sechs war, und von der ich zahlreiche und präzise Erinnerungen hege, wurde im Jahr der Pariser Kommune geboren; über sie also bin ich an das ausgehende neunzehnte Jahrhundert gebunden, an die armen Leute und den Krieg. Man kommt nicht ohne Folgen wenige Wochen vor Sedan und der Niederschlagung des Pariser Aufstands zur Welt, und sei es auch in einem spürbar armen ländlichen Winkel. Als Beweis will ich die Hartnäckigkeit des Bildes der »Pickelhaube« im familiären französischen Vokabular anführen, ein Bild, das wieder aufgegriffen und in der Folge erweitert wurde durch die »Dicke Bertha« und die »Fritze«, sowie durch die wenig schmeichelhaften, unmittelbar daran geknüpften Werte. Die Bedeutung, die bei dieser Hartnäckigkeit die Rolle der beiden folgenden Konflikte einnahm, deren zeitweilige Erzähler zunächst mein Großvater, dann mein Vater waren, und die auf diese Weise die unbewusste Flamme der immer stärker flackernden, aber nie ganz erloschenen Feindseligkeit am Leben hielten, ist offensichtlich. Ich ertappe mich sogar dabei, wie ich nach einer Mahlzeit sage: »Noch eine, die die Boches nicht kriegen werden«, als wäre ich jemals persönlich bedroht worden … Laut Hölderlin, einem deutschen Dichter, ist »die Sprache dem Menschen gegeben, […] damit er zeuge, was er sei / geerbet zu haben.«

    Aber es gibt die Wörter, wie man weiß, und es gibt die Dinge. Das »Ding« ist in diesem Fall der große bebende Körper, an dessen Saum ich mich halte und umgekehrt. Direkt über uns, irgendwo senkrecht über unserem Schulterkreis, schweben unsere Ahnenfolgen. Unsere Hände, Hände des Friedens und der Begierde, haben nach dem anderen gegriffen, wir sind also ausgeliefert, er mir, ich ihm, und blitzartig ahne ich, was uns geschähe, sollten unsere Hände sich plötzlich beschweren mit ererbter Gewalt, mit auferlegter, historischer Strafe: statt Liebeslied ein Leichenfeld. Die Risswunden, die wir uns augenblicklich zufügen würden, wären keine herbeigerufenen und begrüßten sexuellen, sondern unserem unantastbaren Wohl direkt angetane, unverzeihliche. Entlang der Punktierung meiner Wirbelsäule würde die deutsche Hand also meinen Rücken öffnen, ich wäre von klebriger Hitze durchpulst, bald schon würden sich meine Augen, mein Mund mit Blut füllen, ihm hingegen hätte ich die Brust durchbohrt und die Klinge stecken lassen, damit die Wallung nicht entweicht; dann würden wir voneinander abrücken, um allein zu sterben, ohne jede Kontaktmöglichkeit mit dem Körper unseres Feindes: noli me tangere, um ungehindert in den Himmel zu fahren.

    Ich werde die Nacht damit verbringen, mich an diesem Deutschen zu laben, es wird eine Wonne werden, daran besteht kein Zweifel, und mit den Schatten der in meinen Knochen schlummernden Handvoll Ahnen, die erst den Dolch ziehen, dann das Blut strömen lassen mussten, um irgendeinen hübschen Sachsen zu erledigen, anstatt ihm schönzutun, werde ich eindringen in ihn, um seine Wärme zu erkunden, so tief, wie es mir erlaubt sein wird, ohne aus meinem Eintritt ein unbefugtes Eindringen zu machen. Und ich gehe davon aus, dass in ihm zwei, drei blonde Rheinländer erzittern werden, welche ein paar vor Zorn, Ohnmacht und Angst trunkene Bretonenschädel zu zerschmettern hatten, deren verblasste Spuren ich im Spiel seiner Lenden noch gut fühlen werde. Was tun mit all diesen Toten, wo leben, wie sich lieben?

    Anfangs schulterte ich die Last der Sprache, der Geschichte, des Landes und der Zeit, in welche ich geraten bin. Es gab bei den Meinen keinerlei Ressentiment gegen die Männer und Frauen, die wie sie, jedoch jenseits des Rheins, aberwitzige Kräfte in Konflikten verschwendet hatten, bezüglich derer man mir schon sehr früh beibrachte, dass sie weniger von einem angeblichen Hass der einen gegen die anderen herrührten als von der Entfesselung politischer, wirtschaftlicher, religiöser oder geografisch bedingter Mechanismen. Doch gab es da, in Verbindung mit den unschlüssigen Schwankungen, aus denen unsere Leben gewoben sind, einen mal laschen oder rissigen, mal bis zum Ersticken festgezurrten Faden, die Histoire, an die man ein großes H heftete, und auf diesem Faden drei Tatsachen, eng miteinander verquickt in einer Art zeitlichem Kontinuum mit der Aufgabe, diese drei Tatsachen in ein und denselben historischen Rhythmus umzuwandeln, bei dem jede Bewegung die Voraussetzungen für die Entfaltung der nächsten schaffen sollte: das Ende des Second Empire im eingekesselten Sedan, mit, unter anderem, der Folge der hiesigen Geburt des Deutschen Kaiserreichs und der dortigen Niederschlagung der Pariser Kommune; dann, mit dreiundvierzig Jahren Abstand, das Eröffnungsgemetzel des zwanzigsten Jahrhunderts; schließlich, gut zwanzig Jahre später, der Nazismus. Danach, nichts mehr.

    Es sind dies schwerwiegende Tatsachen, deren Leugnung keinesfalls bewirken würde, dass sie nicht stattgefunden hätten. Sie sind eingeschrieben in den großen deutschen Körper, den ich, um in ihm aufzugehen, heute Abend erwählt habe. Gelingt es mir, dessen bereitwillige Öffnung zu erwirken, werde ich in meinem eigenen Körper diesen Frieden schließen können, den die Verträge seit Langem abgezeichnet haben, dem sich jedoch, seit ich hier bin, etwas zutiefst Ungedachtes in mir verweigert. Weil eben die Studien, die Betrachtungen, das Wissen, aus denen ich schöpfe, letztlich an einer Barre des Undenkbaren immer wieder auf Grund laufen, bin ich nun in Köln. Denn am Ende sind stets wir es, die in den Tiefen unserer Eingeweide die Abgründe der Geschichte bergen, die es aufzusuchen gilt, um mit ihnen in der Stille der Gesten zu tanzen. Also packten der Deutsche und ich uns wieder an den Nacken, um ineinander einzutauchen, geräuschlos und ohne Hass.

    Aber ich frage mich noch immer, wie man den anderen ergreift, den man zu töten gedenkt. Mit der Geste eines Henkers? Und was man tut, wenn man getötet hat und rückwärts auf seinen Ellbogen, seinen Knien diese in der Erde klaffenden Schützengräben zurücklegt, um den Tod zu geleiten, ihn zu säen, wohl wissend, dass er nichts wachsen lässt?

    Im Gespräch mit der Schriftstellerin Marie-Hélène Lafon berichtet Madame Jean, siebzigjährige Bewohnerin des Departements Cantal, im nach ihr benannten, 2010 von Sophie Bruneau und Marc-Antoine Roudil gedrehten Dokumentarfilm, dass sie ihren Vater in den Fünfzigerjahren auf einer Pilgerreise nach Verdun begleitet hat. Ihre Stimme wird unmerklich brüchig. Sie spricht von der Reise, sie sagt: »Ich weinte von Bar-le-Duc bis nach Verdun.« Ich sitze in der Dunkelheit des Saals. Sie war noch nicht geboren, als ihr Vater in den Krieg zog, ich war noch nicht geboren, als sie diesen Weg zurücklegte. Diese Ergriffenheit, die sie bei einem Abstand von über fünfzig Jahren unvermindert überwältigt, ruft meine eigene hervor, die mich ebenfalls überwältigt, und das seit Langem schon: Mit zehn Jahren schnürte mir allein die Vorstellung, dass man Männer in den Kampf schicken kann, die Kehle zu. Ich war niedergeschmettert von dem, was mir ein tragisches Schicksal schien. Ich wusste noch nicht, dass das eigentlich Unerträgliche darin besteht, ein Stück Fleisch zu sein, ohne dem Schlachthof auch nur irgendwie entrinnen zu können, und dass das Unglück derer, die keinen Frieden fanden, als es aufzuhören galt, noch immer nachhallt, lange nachdem sie verstummt sind. Seit bald schon hundert Jahren weine ich ab Bar-le-Duc, wenn ich in den Krieg ziehe. Seit bald schon hundert Jahren weine ich im Hinterland, wo man uns zurückgelassen hat, unter Frauen gemischte Kinder, von Kindern überforderte Frauen. Was tun mit all diesen Toten?

    2.

    Die Toten begraben

    ES GAB EINEN pro Jahr. Und bei jedem verlor sich der Klang einer rissigen Glocke im Abend, in der gähnenden Leere der Felder und Überfülle der Wälder, in den von Schlaflosigkeit und Hoffnung erschöpften Seelen. Einen pro Jahr, mit metronomischem Gleichmaß, pedantischer Sorgfalt, unbeteiligter, eisiger Achtsamkeit, das Vaterland, wie man damals noch sagte, hatte sich geholt, was es offenkundig als Anrecht betrachtete, fordernder noch als der Sensenmann, der stets wählerisch war beim Alter, der Lebensenergie, dem Mut und der Kraft, während Ersteres nahm, was kam, einfach so daherkam, ohne Unterscheidung des Rangs, Vermögens oder Geschlechts.

    An den Ersten erinnern sich alle, als wäre es gestern gewesen, und dieser Erinnerungen wegen wird es auf ewig gestrig bleiben. Henriette war recht spät in den Garten hinuntergegangen, um Grünzeug zur Streckung der Suppe zu holen und kam wieder herauf, indem sie ihre abgewetzte Schürze, in die sie das Gepflückte gebettet hatte, an ihre Taille drückte, als ihre Schwester Émilie sie plötzlich zurückhielt.

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