Kraniche über dem Haus
By Judith Stein
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Die Häufung bestimmter Krankheiten wie z.B. Depression innerhalb einer Familie ist nie zufällig und hat eine Geschichte, die weit und generationsübergreifend zurückreicht. Judith, Kind von durch den Zweiten Weltkrieg traumatisierten Eltern, erzählt ihre Familiengeschichte und versucht dabei, eine Erklärung für ihre körperliche und seelische Versehrtheit – und die ihrer Geschwister und ihres Cousins – zu finden und endlich den Teufelskreis zu durchbrechen, der ihre Familie seit vier Generationen umgibt.
Mit wachen Augen und Ohren trägt die Autorin ihre Vergangenheit und ihre teils schmerzhaften Erfahrungen in der Psychotherapie zusammen. Betroffenen will sie Mut machen, sich intensiv mit der Biographie der Eltern und Großeltern auseinanderzusetzen und die gewonnenen Erkenntnisse gegen das eigene Leid zu wenden.
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Kraniche über dem Haus - Judith Stein
Judith Stein
Kraniche über dem Haus
Für meine geliebte Tochter, die zu mir steht und der ich hoffentlich trotz allem eine gute Mutter bin.
1. Auflage 2010 © 2010 by Judith Stein Lehmanns Media, Berlin www.lehmanns.de Alle Rechte vorbehalten Umschlagfoto: Judith Stein Lektorat und Layout: Frauke Budig, Berlin Druck und Bindung: Docupoint Magdeburg Printed in Germany ISBN 978-3-86541-368-0
Vorwort
Judith Stein lässt den Leser an der Lebens- und Leidensgeschichte einer Familie aus Ostwestfalen über fünf Generationen teilhaben. Dabei stellt sie anschaulich dar, wie Erziehung, soziales Umfeld, aber auch erbliche Disposition zum Auftreten von seelischen Störungen führen können. Die individuellen Verläufe scheinen manchmal schicksalhaft und kaum beeinflussbar zu sein.
Aber die Autorin zeigt auch, dass man etwas gegen seine seelische Krankheit/Störung tun kann – wenn auch nicht jede Therapieform für jeden geeignet ist. Vielen Patienten hilft es, sich die Zusammenhänge der Krankheitsentstehung zu verdeutlichen – zum Beispiel, indem sie ihre Biographie zu Papier bringen, um sich von unangemessenen Schuldgefühlen frei zu machen.
Kraniche über dem Haus ist ein Buch, das anderen Betroffenen Mut machen soll, weil es auf eigenen Erfahrungen und wahren Begebenheiten beruht.
Dr. med. Thomas Degener Arzt für Nervenheilkunde-Psychotherapie
Hinweis: Mit Rücksicht auf noch lebende Personen wurden sämtliche Namen geändert. Alles andere entspricht wahren Begebenheiten.
Teil 1
Eine ostwestfälische Familiengeschichte über fünf Generationen
Mitten in Westfalen steht auf einer Anhöhe ein Haus, das irgendwann einmal den Namen „Höhe West" erhalten hat. Dort, wo es steht, grenzen drei Gemeinden aneinander, weswegen die Umgebung auch Dreiländereck genannt wird. Heute ist es einer Querstraße zugeordnet, die früher ein winziger Feldweg war, und trägt eine andere Hausnummer. Sein Äußeres hat sich ebenfalls verändert. Schaut man allerdings von Osten, kann man noch recht genau nachvollziehen, wie es ehedem zwischen den Feldern gehockt hat. Umgeben von Feldern ist es noch immer; das Gebiet ist kein Bauland. Im Sommer wogen reife Kornfelder auf jeder Seite des Hauses, dann ist die Landschaft golden. Im Winter kann man gen Westen den Sonnenuntergang sehen – wohin man schaut, ist Landschaft. Die Nachbarhäuser haben sich nie sehr nahe herangewagt. Immer ist Wind auf der Höhe. Die Jahreszeiten unterscheiden sich noch deutlich voneinander – Sommer ist Sommer und Winter ist Winter. Nicht so wie in einer Großstadt mitten im Ruhrgebiet. Das Haus war immer ein düsteres Haus. Die Geschichte der Familie beginnt mit dem Kauf dieses Hauses. Es hat viele Fenster. Die oberen im Giebel sind blind. Von den Obstbäumen, die es umstanden, stehen noch ein paar Apfelbäume, vor allem aber ein riesiger Birnbaum, der über und über mit Efeu umwuchert ist. Die prächtigen Kirschbäume wurden schon vor fast dreißig Jahren gefällt. Damals hatte man noch die Sorte Roggen auf den Feldern, die hoch auf den Halmen stand und ordentlich Stroh ergab. Die Ähren reichten den Kindern ins Gesicht und sie wurden vor der Roggenmuhme gewarnt, die die Kinder mitnimmt, wenn sie in die Kornfelder gehen. Am Rand der Felder, fast bis ans Haus, wuchsen Kornblumen und vereinzelt Mohn, wilde Stiefmütterchen und Adonisröschen. Und in jedem Frühjahr und Herbst zogen die Kraniche über das Haus.
Gebaut wurde das Haus als Dorfschule. Es war von allen Dörfern etwa gleich weit entfernt und lag noch Ende des neunzehnten Jahrhunderts mitten im Wald. Die Kinder hatten von den weit verstreuten Höfen weite Fußmärsche zu bewältigen, um zur Schule zu gelangen. In Ostwestfalen liegen noch heute die Höfe und Kotten teilweise sehr weit verstreut; der Charakter der Leute auf dem Land spiegelt diese Lebensweise auf Distanz wider. Die Kinder dieser Gegend waren fast alle arm und hatten zumeist viele Geschwister. Oft trugen sie auch im Winter Holzschuhe; nicht immer reichte es für jeden Jungen zu langen Hosen. Die dünnen verfrorenen Beinchen steckten in den ausgetretenen Schuhen („Holschken") ihrer größeren Geschwister. Handgestrickte, warme Socken, für manche ein Luxus. Die Kinder der reichen Bauern, der Großbauern, sahen deutlich besser aus, schon der wärmeren Kleidung wegen. Das Haar durfte streichholzlang sein. Die Mädchen trugen Zöpfe, viele waren blond oder rothaarig. Im Winter schützte der Wald vor den Schneeverwehungen, die uns später, als alles abgeholzt war und der ewige Wind ungehindert zugreifen konnte, so zu schaffen machten. Vor allem der Westwind. Damals gab es noch ein paar kleine Teiche, an denen sich die Schulkinder auf dem Rückweg vergnügten. Später mussten wir uns an dem kleinen Bach Staudämme bauen, um wenigstens kleine Pfützen zu haben.
Das Haus hatte zwei große Schulräume: für die Kleinen, die Sechs- bis Zehnjährigen, und für die Elf- bis Vierzehnjährigen. Soweit mir bekannt ist, hatte ein Lehrer für den gesamten Unterricht zu sorgen. Er hatte sich auf die unterschiedlichen Möglichkeiten eines jeden Kindes einzustellen, was er – so entnahm ich den Erzählungen meines Vaters und Großvaters – eher nach sozialen als nach pädagogischen Gesichtspunkten tat. Das war sicherlich leichter: Die Kinder der reichen Bauern lernten schneller, weil sie vom Lehrer weniger geschlagen wurden, was wohl einiges mit den Schinken und Würsten zu tun hatte, die die Bauern dem Lehrer zukommen ließen. Man denke nur an westfälische Dauerwürste. Die blonden Mädchen lernten meist besser als die dunkelhaarigen, weil sie seltener an Ohren und Zöpfen gezogen wurden und weniger Stockschläge auf die Handflächen bekamen. Herkunft stand aber auch hier vor Aussehen. Da in den meisten Familien die Kinder zahlreich waren, gingen Geschwisterkinder auch immer in die gleiche Klasse. Entweder war das von Vorteil für die Kleinen, wenn nämlich ein älteres Kind beim Lehrer einen Stein im Brett hatte, oder von Nachteil, wenn es den Zorn des Lehrers auf sich zog. Neutral wurden die Jüngeren selten behandelt. Die langen, unwegsamen und von den Erwachsenen kaum benutzten Schulwege waren das Niemandsland der Kinder. Hier entstanden Freundschaften und entwickelten sich Feindschaften, die lebenslang halten konnten.
Über Jahrzehnte hinweg versammelten sich also täglich Schulkinder in dem alten Haus. Dort schwitzten sie ihre Angst und ihre Wut, ihre Träumereien und Freuden in die Mauern des Hauses, dem nichts anderes übrig blieb, als es tatenlos geschehen zu lassen. Kaum dass es stand, wurde es mit den Sorgen der Kinder gefüllt, und vielleicht ist es darüber krank geworden. Oder glaubt jemand, dass Geschehenes wirklich jemals verschwindet – und sei es der Geruch von Schweiß, Armut, Angst als konkret fassbare Materie? Oder welchen Grund mag es haben, dass das Haus denjenigen, die später in ihm lebten, so wenig Glück gebracht hat? Dem Haus blieb also nichts anderes übrig, als stehenzubleiben und Regen, Wind, Schnee und Kälte von den Kindern fernzuhalten, und den Kindern blieb nichts anderes übrig, als weiterhin ihrer Schulpflicht nachzukommen. So auch unserem Urgroßvater und seinen Geschwistern. Als die Dörfer größer wurden, brauchten sie ihre eigenen Schulen. Das alte Haus verlor seine Funktion und wurde günstig zum Kauf angeboten, samt ein wenig umliegendem Land zur Deckung des Eigenbedarfs an Gemüse und Obst. Allerdings war das Land damals noch bewaldet. Der Urgroßvater kaufte das Haus kurz vor Ende des vorletzten Jahrhunderts. Da war er bereits verheiratet und hatte den Großteil seiner zwölf Kinder fast aus dem Gröbsten heraus. Der Wald wurde gerodet und Ställe für Schwein und Ziege an das Haus gebaut. Dass die Familie von der kleinen Landwirtschaft nicht leben konnte, war klar. Der Urgroßvater war Maurer und blieb weiter im Beruf, während seine Frau neben der Erziehung der Kinder auch Haus und Hof versorgen musste. Maurer zu sein hatte den Vorteil, dass er das Haus selbst umrüsten konnte; es mussten ja Zimmer eingeteilt und ausgebaut und die Ställe gemauert werden. Die Arbeitskraft des Käufers ging unmittelbar ein in die weitere Gestaltung des Hauses. An den großen Hauptteil wurde rechts von der Eingangstür im rechten Winkel der Stall mit eigenem Zugang angebaut. Das Haupthaus behielt eine recht große Deele, von der auf beiden Seiten Türen zu Wohn- und Schlafräumen abgingen und links die Treppe zum Dachboden, dessen kleinerer Teil später noch zu Wohnräumen umgebaut wurde. Das Land brachte jede Sorte Kohl („Wer im Sommer Kappes klaut, hat im Winter Sauerkraut"), Zwiebeln und Möhren, Äpfel, Birnen, Himbeeren, Johannisbeeren. Alles wurde eingemacht. Und natürlich wurden Kartoffeln angebaut, eine Menge Kartoffeln, eins der Hauptnahrungsmittel. Und Klee für das Schwein. Ich glaube, damals hatten sie auch schon Kaninchen.
Über das Elternhaus des Urgroßvaters Karl-August weiß ich zu wenig, um es aufschreiben zu können. Sicher waren es alteingesessene, aber arme Leute. Den Namen trugen auch viele, die nach Amerika ausgewandert waren. Ganze Familien mit unserem Namen machten sich auf, und zwar über mehrere Generationen hinweg, allerdings nicht mehr in der Generation des Großvaters. Ostwestfalen hatte mit seinen Manufakturen nicht genug Arbeitsplätze für alle und das Land blieb in den Händen der Großbauern.
Über die Herkunft der Urgroßmutter Pauline ist mir nichts bekannt. Sie war eine verschlossene, herbe Frau, die unglaublich hart arbeiten konnte. Alle zwölf Kinder hat sie großbekommen. Zu den ständigen Schwangerschaften kamen die Arbeit und die kleineren Kinder. Ob es dazwischen noch Fehl- oder Totgeburten gab, darüber lässt sich nur spekulieren. Das war ein Thema, über das die Frauen nicht sprachen. Die Urgroßmutter war nicht nur schweigsam, sie hatte auch niemanden, mit dem sie hätte sprechen können. Nicht nur, weil das Haus so abgelegen war. Mit der Zeit wurde sie eine verbitterte, ja harte Frau, die den Kindern kaum noch Zuwendung schenken konnte. Die größeren Mädchen mussten im Haus mithelfen und die Kleineren versorgen, die Söhne gingen dem Vater zur Hand. Die Familie war weder besonders beliebt noch geachtet. Die Jungen galten als Rüpel und der Vater trank. Was an ihnen am meisten auffiel: Alle hatten sie rotes Haar. Das gereichte ihnen nicht zu zusätzlicher Ehre, denn „en Foss ohne Nücke iss en seltenes Glücke".
Eines dieser zwölf Kinder war unser Großvater; auch er war rothaarig. Wilhelm gehörte zu den jüngeren Geschwistern. Er war schlank, feingliedrig und zarter als die anderen. Seine Augen waren groß und sehr blau, die Wangen wirkten immer ein wenig hohl. „Willem" war ein Kind, das selten lachte und wegen seiner roten Haare unentwegt Spott und Hänseleien ertragen musste. Hineingeboren in eine Familie, in der es außer Arbeit im Wesentlichen nur Streit und Hader gab, wurde er als zweitjüngster Bruder irgendwie mitversorgt, ohne dass sich jemand näher mit ihm befasste. Die Säuglinge wurden damals noch im Puck gewickelt, was sie an der Fortbewegung hinderte, auch wenn sie schon krabbeln konnten, denn es war niemand zur ständigen Beaufsichtigung von der Arbeit befreit. Im Puck legte man sie an einen warmen Platz; dort mussten sie warten, bis sie an der Reihe waren, ob das nun zu Hause oder bei der Feldarbeit war.
Nach eigenem Bekunden hat Wilhelm von seiner Mutter niemals eine Liebkosung erfahren. Der Mangel an Wärme und Zuneigung wirkte sich unter anderem so aus, dass er bis weit in die Pubertät hinein Bettnässer war. Diese Tatsache brachte es mit sich, dass er noch häufiger geschlagen wurde als die anderen; ein Teufelskreis, denn er hatte umso mehr Grund zur Bettnässerei. Zeitweise durfte er sich nicht einmal ein Bett mit den anderen Kindern teilen, weil er es mit seinem Urin verdarb. Er musste auf dem Fußboden schlafen oder im Stall. Später meinte er, dass zu dem ursprünglichen Grund, Bettnässer zu sein, durch das Liegen auf der kalten Erde noch eine chronische Blasenentzündung hinzugekommen war. (Bei dieser Aussage hatte er Tränen in den Augen.) Geschlagen wurde üblicherweise mit Stock, Lederriemen oder Ochsenziemer. Unter den Geschwistern prägte sich schnell eine Hierarchie aus, besonders bei den Jungen. Das Mittel der Durchsetzung hatten sie vom Vater gelernt.
Gab es jemanden, dem sich der junge Wilhelm anvertrauen konnte? Dem Lehrer? Sicherlich nicht. Für den war unsere Sippe von jeher ein Dorn im Auge gewesen. Dem Pastor? Der Pastor kam manches Mal wie zufällig gerade zur Mittagszeit den Weg vom Rabeneck am Haus entlang und sagte, er wolle nur eben mal hereinschauen, wo er doch so selten so weit außerhalb des Dorfes sich aufhalte. Natürlich wurde dann für ihn mitgedeckt und er hatte einen guten Appetit. Da man nie zu reichlich kochte, fehlte seine Portion an anderer Stelle. Es hieß, vor allem der Vater müsse viel essen, denn er arbeite ja am schwersten, und die Kleinsten brauchen am wenigsten. Wenn der Pastor gegessen hatte, ging er wieder, nicht ohne an den Gottesdienst zu erinnern. Seine Besuche blieben jedoch selten, denn der Herr des Hauses war nicht für seine Freundlichkeit bekannt. Die Entfernung vom kleinen, rotschöpfigen Wilhelm zum Pastor war unüberbrückbar, und welches Kind wäre überhaupt auf die Idee gekommen, dass es sich seinen Kummer von der Seele sprechen könnte? Die Brüder waren wilde Burschen, vom Temperament her, aber mehr noch durch die ihnen zuteilwerdende Behandlung. Sie waren alle kräftiger als Wilhelm und lernten beim Bau, in der Landwirtschaft oder in der Holzverarbeitung.
Da die Gegend wenig Möglichkeiten bot, sich die Freizeit anders zu gestalten, wurde in fast jedem Haus den Winter über, im Sommer am Abend und teilweise nachts, Heimarbeit verrichtet. Das war aber vorwiegend die Sache der älteren Leute. Die Zigarrenindustrie erlaubte wenigstens einen kleinen Verdienst: Pfennige für viele Stunden Arbeit. Die verknitterten Tabakblätter gingen in die Häuser und sorgsam gerollte und gepresste Zigarren kamen wieder aus den Häusern heraus. Die Männer priemten bei der Arbeit und spien den schwarzbraunen Saft aus, nachdem sie den Kautabak von einer Backe in die andere geschoben hatten. Der Geruch der Tabakblätter war durchdringend, auch für Nichtraucher köstlich wie Kaffeeduft, die abgearbeiteten Hände der Alten braun von der lebenslangen Tätigkeit. Soviel ich weiß, machte auch Wilhelms Mutter zeitweise Zigarren und die Kinder konnten ein wenig helfen. Vielleicht reichte es dadurch zu einem Kleidungsstück mehr. Textilverkäufer fuhren umher und boten ihre Waren an. Eines Tages war es auch in der Familie wieder soweit. Der Vater fragte – völlig unerwartet – den kleinen Wilhelm, welche von den angebotenen Hosen er denn haben wolle. Das war nicht üblich; die Kinder hatten anzuziehen, was da war, und so war Wilhelm sehr verwirrt. Es gelang ihm schließlich eine Wahl zu treffen, auf die er sehr stolz war. Der Vater fragte jedoch, warum er nicht eine andere Hose nehme, aber das wollte Wilhelm nicht und als er dies deutlich bekundete, bekam er von der derben Maurerhand einen Schlag ins Gesicht und gar keine Hose. Ein weiterer Tropfen der tiefen Bitterkeit, die später sein Gesicht kennzeichnete, fiel in sein Kinderherz. Merkwürdig, wenn ich es recht überlege, dass er für längere Zeit den Beruf des Textilvertreters ausübte und von Haus zu Haus fuhr wie der Mann mit den Kinderhosen.
Wilhelm blieb zarter und weniger rüpelhaft als seine Brüder, was ihm deren zunehmenden Spott eintrug. Als er älter wurde, begann er, seine Kleidung sorgfältiger zu behandeln und seine Schuhe zu putzen. Die Brüder versteckten sie ihm oder zogen sie selbst an und hänselten ihn, er wolle wohl „etwas Besseres" sein. Dass er es sein wollte, nahmen sie ihm übel, sodass seine Stellung als junger Mann innerhalb der Familie noch schwieriger wurde. Es gab keinen Privatbereich, er konnte nicht einmal seine gepflegtere Kleidung an einen sicheren Ort hängen. Das raue Klima der Sippe schien nicht seine Welt zu sein. Er musste mit ansehen, wie einer der Brüder, nachdem er eine Meinungsverschiedenheit mit dem Vater hatte, nackt auf einer Leiter festgebunden und von ihm ausgepeitscht wurde. Oder wie der Vater eines der Schweine, weil es nicht fressen wollte, was er ihm vorsetzte, so lange schlug, bis es schreiend und blutend aufrecht an der Stallwand stand. Sicherlich ist Wilhelms Schreckhaftigkeit, die er zeitlebens behielt, auf die Atmosphäre im Elternhaus zurückzuführen. Als er die Schule beendet hatte, wurde ihm das kurze Glück zuteil, in die Lehre bei einem Tischler ein paar Dörfer weiter zu kommen. Dort, so erzählte Wilhelm uns Enkeln, durfte er auf der warmen