Das Tal der Schuld: Kanaren Krimi 3/3
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Book preview
Das Tal der Schuld - Stefan Brendle
978-3-945597-99-6
1Als Burdanowski kurz nach Buenavista del Norte rechts an der Straße das Restaurant mit Terrassenbetrieb entdeckte, beschloss er kurzerhand, einen Kaffee zu trinken, und fuhr seinen Mietwagen auf den mäßig belegten Parkplatz links neben der Gaststätte.
Nach mehreren Wandertouren im Anaga-Gebirge und einer Besteigung des Guajara am Vortag war Burdanowski früh am Morgen von seiner Pension in La Orotava über Los Realejos, Icod de los Vinos, El Tanque und Santiago del Teide nach Masca gefahren und dort in fünf Stunden durch die Schlucht runter zum Meer und wieder rauf gestiegen. Burdanowski hatte in einem Gartenlokal zu Mittag gegessen und sich auf einer schattigen Bank auf der Plaza de Masca ein Nickerchen gegönnt, war dann an Los Carrizales vorbei und durch Las Portelas und El Palmar hindurch runter nach Buenavista del Norte gekurvt und jetzt auf dem Weg zum Punta de Teno, von wo er – nach einem Bad im Meer – an der Küste entlang zurück nach La Orotava fahren wollte.
Burdanowski griff sich seine Gürteltasche vom Beifahrersitz, band sie um seine kurzen Hosen, schloss den Wagen, schlenderte in seinen leichten Wanderstiefeln über den sonnig heißen Parkplatz und setzte sich auf der großen Restaurant-Terrasse an einen der freien Tische unter der hohen Markise. Und gerade hatte er sich beim rundlichen Kellner einen Cortado leche leche bestellt, als vom Parkplatz her, wo sie aus einem wuchtigen Mercedes-Geländewagen gestiegen waren, vier Gestalten in grau-beigen Militärhemden, Khakishorts und militärischen Wüstenstiefeln zwischen den Tischen hindurch in das zur Terrasse hin geöffnete Restaurant und dort – vom quadratischen Typ hinter der Theke begrüßt und herangewunken – rüber zur Theke marschierten.
Mehrere Gäste, die schon bezahlt hatten, machten sich eilig davon und die vier Gestiefelten unterhielten sich mit dem Quadratischen hinter der Theke, der dabei nicht nur Burdanowskis Kaffee bereitete, sondern auch mehrfach zu einem Tisch am linken Rand der Terrasse zeigte, an dem – scheinbar ungeachtet der Neuankömmlinge – eine sportlich wirkende Blondine in ihr Notizheft schrieb.
Burdanowski erhielt vom rundlichen Kellner seinen Kaffee und die vier Gestiefelten – einer mit exakt gezogenem Scheitel, ein Kahlrasierter, ein schwer Ramponierter und ein Kleiderschrank – marschierten von der Theke weg zum Tisch der Blondine, bauten sich im Halbkreis davor auf und legten los – auf Deutsch.
»Sprichst unsere Sprache, haben wir gehört«, sagte der Kahlrasierte und wies mit dem Kinn in Richtung des Quadratischen.
»Bist eine Rebellin, was?« Mit dem Finger schob der Ramponierte eins der Bücher, die neben dem Tablett mit Rechnung und Geld auf dem Tisch lagen, hin und her. »Und eine Theoretikerin?«
»Ja«, sagte der exakt Gescheitelte, »Deutsch und Geschichte hat sie studiert und auch Frau Doktor will sie noch werden.«
»Hast hier ja alles überall rumerzählt«, sagte der Kahlrasierte.
»Auch dass einer deiner Urgroßväter Deutscher war, ein deutscher Volksverräter, der mit zwei seiner Brüder hier im Bürgerkrieg für die Roten gekämpft hat«, sagte der exakt Gescheitelte.
Der Kleiderschrank spuckte seitwärts auf die Terrasse. »Und jetzt willst du hier Unruhe stiften, die Einheit der spanischen Nation zerstören.«
»Bist schon das dritte oder vierte Mal in der Gegend und willst tote Kommunisten ausbuddeln«, sagte der exakt Gescheitelte.
Der Kahlrasierte nickte. »Hast nicht nur jede Menge Alte hier in der Gegend interviewt, sondern auch den armen Wirt dort hinter seiner Theke auch heute wieder deswegen gelöchert.«
»Worum geht’s dir denn genau – Kommunistenpack oder Anarchistenhunde?«, fragte der Ramponierte.
»Egal«, sagte der exakt Gescheitelte, »wollen alle nur das eine: Kommunismus!«
»Das Anarchistengeschmeiß war ja besonders gut aufgestellt hier in Spanien, bevor’s ihm Franco, euer Führer hier, euer Caudillo, besorgt hat«, sagte der Ramponierte.
»Mit deutscher Hilfe, versteht sich«, sagte der Kleiderschrank.
Der Kahlrasierte schaute rüber zum Quadratischen hinter der Theke. »Soll Verwandtschaft sein von dir, das tote Gesocks, das du suchst, haben wir gehört.«
»Willst die Leichen, wenn du welche gefunden hast, dann ausstopfen und ausstellen wie deinen Lenin, was?«, fragte der exakt Gescheitelte.
Der Kahlrasierte schüttelte den Kopf. »Von denen, die die ausbuddeln will, sind allenfalls noch ein paar Knochen übrig.«
Mit dem Finger schob der Ramponierte ein weiteres Buch auf dem Tisch hin und her. »Na, auf jeden Fall wird sie uns jetzt gleich ihre Judentheorie propagieren, ihren Marxismus.«
»Hat noch nicht mitgekriegt, dass ihr Sozialismus, ihr Kommunismus Pleite gemacht hat und mausetot ist«, sagte der Kleiderschrank.
»Und nationalen Sozialismus mag sie ja nicht«, sagte der exakt Gescheitelte.
»Ach was«, sagte der Kahlrasierte, »trotz allem marxistischen Gequatsche – die ist jetzt liberal.«
»Genau«, sagte der Ramponierte, »die ist jetzt liberal – weiß, dass uns das nicht ganz so sehr verstimmt.«
»Und macht weiter auf international«, sagte der exakt Gescheitelte.
Der Ramponierte schüttelte den Kopf. »Ist aber nicht für ein Europa der Völker.«
»Nein, ist gegen die Vielfalt der Völker«, sagte der exakt Gescheitelte.
»Ohne Volk keine Kultur«, sagte der Kahlrasierte.
»Ist gegen Kultur, mag keine Kultur«, sagte der Ramponierte. »Zivilisation genügt ihr.«
Die Blondine hatte in aller Ruhe, wie es schien, ihre Notizen beendet und nun antwortete sie – und fast akzentfrei – auf Deutsch:
»Mit der Rebellin liegt ihr schon ziemlich richtig – und auch mit der Theorie: Denn Rebellion ohne radikale Kritik greift nun mal nicht richtig und verpufft dann schnell.«
Die Blondine klappte ihr Notizheft zu.
»Auf international mache ich jedoch nicht, allenfalls auf transnational. Und was ich propagiere, sollte ich das tun, ist kein Marxismus, sondern eine Auseinandersetzung mit Marxscher Theorie.«
Die Blondine setzte die Kappe auf den Stift.
»Darin liegt ein Unterschied, auf den es zu achten gilt: Schließlich hat schon Marx mit gutem Grund von sich gesagt: ›Ich bin kein Marxist.‹«
Die Blondine legte den Stift auf den Tisch.
»Klar, denn der Mann scheint sich in seiner Theorie zu widersprechen, und zwar derart, dass man von einem ›doppelten Marx‹ sprechen kann: einem positiv auf die Entwicklung des Kapitalismus bezogenen einen Marx; und einem radikale Kritik betreibenden und auf die Überwindung des Kapitalismus bezogenen anderen Marx.«
Die Blondine schaute von einem der vier zum anderen.
»Ja, und das Aufgreifen seiner Theorie schlägt dann bei denen, die wie der eine Teil seiner Theorie positiv auf die Entwicklung innerhalb des Kapitalismus bezogen sind, zur Bannung des anderen Teils, der ihnen überhaupt nicht in den Kram passt, im schlechten Sinn in einen ›-ismus‹ – eben in Marxismus – um.«
Die Blondine rückte in ihrem Plastiksessel zurück und erhob sich.
»Sozialismus, Kommunismus als Staatskapitalismus, wie auch immer, hat Pleite gemacht und ist mausetot, da habt ihr Recht.«
Die Blondine sammelte ihre Bücher ein.
»Aber das, was ich auf Grundlage einer Auseinandersetzung mit Marxscher Theorie – und wenn ihr so wollt: als Kommunismus – vertrete, ist kein Staatskapitalismus, ist überhaupt kein Kapitalismus.«
Die Blondine griff sich den geöffneten Rucksack, der neben ihrem Plastiksessel auf dem Boden lag.
»Am Staatskapitalismus kann’s nicht liegen, dass ihr gegen Kommunismus noch mehr habt als gegen liberalen Privatkapitalismus. Arbeit ist auch im Staatskapitalismus die Nummer Eins; und an Diktatoren, die euch sagen, wo’s langgeht, fehlt’s gerade da nicht.«
Die Blondine verstaute die Bücher und auch das Notizheft im Rucksack und zog den Rucksackreißverschluss zu.
»Nein, euer Problem mit dem Kommunismus ist nicht der Staatskapitalismus; euer Problem mit dem Kommunismus, das ist der ›andere Marx‹, nämlich der radikale Kritik betreibende und auf Überwindung des Kapitalismus bezogene, der sich auch im Kommunismus als Staatskapitalismus, da man sich ja gerade hier auf den Marxismus beruft, wider allen ›-ismus‹ niemals ganz und gar bannen lässt; und mit ihm das Schreckgespenst menschlicher Emanzipation, die ihr hasst, die ihr auf keinen Fall wollt, weil sie bedeuten würde, eine eigenständige Identität gewinnen und als Person zur Selbstständigkeit gelangen zu müssen.«
Wieder schaute die Blondine von einem der vier zum anderen.
»So, und was daran ist nun so schlimm für euch?«
Die Blondine nahm den Stift vom Tisch und steckte ihn in die Außentasche des Rucksacks.
»Passt auf, ich sag’s euch: Eure kapitalismusgeschädigte Mami hat euch als Säuglinge zu weich oder in eurem Fall wohl eher zu hart behandelt – hat euch Ekel und Unlust spüren lassen, euch nie richtig angenommen und zu früh von sich gestoßen. So konntet ihr kein oder nur schwer ein lustvoll-positives Gefühl für eure Körpergrenzen entwickeln, wie man es braucht, um sich, wenn es an der Zeit dafür ist, von ihr und der übrigen Welt zu unterscheiden. Doch auch noch am übelsten betroffenen Kandidaten unter euch ein Grenzgefühl vermittelt und so gerade sie vorm Autismus bewahrt hat man dann von außen und schmerzvoll-negativ, durch Schläge, durch Prügel – durch Sanktion.«
Die Blondine warf sich den Rucksack über die linke Schulter.
»Tja, und jetzt sollt ihr euch nicht mehr wie bisher zu euch selbst – zu eurem allemal anstehenden Leben – verhalten dürfen, indem ihr euch sozusagen in Fortsetzung der Grenzgefühlvermittlung auch noch der am übelsten betroffenen Kandidaten unter euch irgendwelchen, sagen wir, allmächtig erscheinenden Befehl-und-Gehorsam-Strukturen unterwerft, um so das euch von innen und außen bedrängende Gewimmel – das Gewimmel eurer Wünsche und Gefühle und das der sozialen und natürlichen Welt – unter Kontrolle zu bringen und euch so auf die für euch einfachste Weise einen geordneten Lebensvollzug zu ermöglichen; sondern ihr sollt euch, aufbauend auf den Fragen nach dem, was wahr und was gut ist, einem entsprechenden Abwägen von Gründen und letztlich einer eigenen Entscheidung, die Art, wie ihr euch versteht, nicht mehr einfach vorgeben lassen; und euch im Verhältnis zwischen Wünschen, Gefühlen und Realität oder den Normen, nach denen man sich richten soll, selbst bestimmen, insgesamt und wider den Kapitalismus.«
Der exakt Gescheitelte kratzte sich am Kopf.
»War ja kaum zu verstehen, das Judengequatsche, aber ganz schön frech kommt’s mir schon vor.«
»Ja«, stimmte der Ramponierte zu, »ganz schön frech.«
Der Kleiderschrank schüttelte den Kopf. »Keine Kinderstube, die kleine Schnepfe.«
»Weiß sich nicht zu benehmen«, sagte der Kahlrasierte.
»Man sollte sie mal kurz übers Knie legen«, sagte der exakt Gescheitelte.
Der Kleiderschrank nickte. »Genau, legen wir sie mal übers Knie.«
»Versohlen wir ihr den hübschen kleinen Arsch«, sagte der Ramponierte.
Der Kleiderschrank, einen Plastiksessel zur Seite räumend, ging rechts am Tisch vorbei auf sein Opfer zu, die Blondine legte ihren Rucksack ab, wich vor dem nach ihr greifenden Gestiefelten etwas zurück und dann – nach einer blitzschnellen Drehung – verpasste sie ihm einen Rückwärtsfußstoß in die Weichteile.
Der Kleiderschrank, Pfeiftöne ausstoßend und sich den Schritt haltend, taumelte rückwärts zwischen Tisch und Sessel hindurch und dann plumpste er auf den Boden. Die restlichen Gestiefelten waren überrascht etwas zurückgewichen und nun lachten sie laut.
Der Ramponierte, am Kleiderschrank vorbei als nächster auf die Blondine zugehend und von ihr einen angesprungenen Fußstoß gegen die Brust erhaltend, fiel rückwärts über seinen am Boden liegenden Kameraden, auch die letzten Gäste verließen nun ihre Plätze, zogen sich an den rechten Terrassenrand zurück oder verschwanden in Richtung Parkplatz und Burdanowski, der sich schon erhoben und auf den Weg zum Ort des Geschehens gemacht hatte, als der Kleiderschrank auf sein Opfer zuging, stellte sich grinsend und mit